Montag, 12. September 2022
Paine im Krieg

Der altersschwache Postbus mit einem Schlag überwie-gend aufgekratzter SchülerInnen an Bord kämpft sich durch die verschneiten vermonter Berge. Sylvia bleibt schweigsam. In der bekannten Kurve sieht man wieder den jungen, hübschen Mann aus dem höher gelegenen Holzfällercamp winken. Sylvia wird auf der Ahornsirup-Party mit Thomas Steingräber tanzen. In einer anderen Kurve ist der Ahornzuckersammler Oliver Paine immerhin mit einem Briefkasten vertreten. Er haust allein in einer versteckten Waldhütte. Gegen Romanende wird er den jungen Holzfäller aus Österreich unter Sylvias Augen zornig aus der Hütte weisen. Die beiden waren zu einem Krankenbesuch bei Paine erschienen. Wäre der schnurrbärtige, graumelierte Eigenbrötler nicht gerade durch Beinbruch behindert gewesen, hätte er Steingräber notfalls sicherlich auch gewaltsam hinausgeworfen. Steingräber weicht, Sylvia bleibt. Sie ist erst 17.

Für mich hat Carl Zuckmayer mit seinem später so genannten Vermonter Roman, geschrieben 1942/43, eine sowohl spannende wie anregende Geschichte erzählt, obwohl IndianerInnen darin nur völlig am Rande vorkommen. Sie spielt kurz vorm Zweiten Weltkrieg in Vermont, USA. Von den drei in der Exposition gestreiften Hauptpersonen bleibt Waldeinsiedler Oliver Paine auch sonst am verborgensten. Zuckmayer hält ihn streng bedeckt. Selbst Sylvia, die ja doch zunehmend an ihn denkt, erkundigt sich nie nach Paines Vorleben. Das kann man merkwürdig, vielleicht auch bezeichnend finden. Wahrscheinlich ist Sylvias Neugier auf andere Menschen eher gering. Sie hält bei ihrem Großvater, wo sie lebt, ein paar Enten und läuft gern auf versteckten Waldteichen Schlittschuh. Pläne oder Träume beruflicher Art scheint sie nicht zu haben. An Paine gefällt ihr die unverkrampfte Sicherheit, mit der er Sirup kocht, Mokassins aus Leder näht oder einfach nur an seinen Entschlüssen festhält. Wie es aussieht, arbeitet er auch an Aufzeichnungen. Vielleicht hat er von Thoreau gehört und bringt, wie dieser in Walden, Tiefsinniges zu Papier. Paines Alter bleibt übrigens gleichfalls in der Schwebe – zwischen 50 und 60 vielleicht. Wir können nur raten. Schließlich zeigen ein paar graue Haare Alter nicht so verläßlich an wie Sumpfstorchschnabel Nässe. Der blüht nebenbei leuchtend pink und ist schon deshalb, im Gegensatz zu Paine, kaum zu verfehlen.

Vordergründig betrachtet, folgt der Roman dem beliebten Muster Eine Frau zwischen zwei Männern, doch es geht auch um Politik und Philosophie. In jedem Fall bleibt Zuckmayers Sprache unbeirrt an den Dingen, was natürlich der Anschaulichkeit und einem durchgängigen Romanklima zugutekommt. Zudem setzt er gemächliche Anbahnungen und dramatische Zuspitzungen geschickt im Wechsel ein. Am Schluß läßt er seine Geschichte – die in Gelächter endet – gnadenlos offen. Wir erfahren weder deutlich, was Paine und Sylvia eigentlich so komisch finden, noch was sie vielleicht sonst noch so treiben. Einige Quellen bezeichnen den Roman als »Fragment«. Er wurde erst knapp 20 Jahre nach Zuckmayers Tod aus dem Nachlaß veröffentlicht. Im kurzen Nachwort zu meiner Ausgabe (Fischer-TB 1998) erspart man sich auch dazu eine klare Auskunft. Wie auch immer, für mein Empfinden bricht das Werk genau an der richtigen Stelle ab. Denn wie wollte man die Liebschaft zwischen einer Nixe oder Elfe, beide eigentlich nicht für knisternde Beziehungen mit Sterblichen gemacht, und einem vermutlich zum Rechthabertum neigenden Hagestolz glaubwürdig ausmalen? An der blutjungen Landfrau beeindruckt zunächst die mit Kälte gepaarte Anmut. Schlank und hübsch soll sie sein; Genaueres wird uns nicht verraten. Sie selber bescheinigt sich einmal Hartherzigkeit. Vielleicht ist sie zu sehr in sich selbst gefangen, um sich verströmen zu können. Wünscht sie Verehrer, dann eher, um sie auf die Folter spannen zu können. Somit wäre sie also durchaus machtbewußt – keine Nonne. Aber zu einer Cathy Ames, an die ich streckenweise dachte, hat sie nicht das Zeug. Diese weibliche Hauptfigur aus Steinbecks Jenseits von Eden ist eine eiskalte, falsche Schlange, eigennützig und bösartig bis ins Mark. Von seiner spröden Sylvia dagegen behauptet der Erzähler sogar, in ihr steige jäh eine »heiße, grundlose Lust am Leben« auf, während sie durch den sprossenden Wald zu Paines Krankenlager schlendert oder hopst. Aber wie ich schon sagte, ein solches Erwachen hat wenig Überzeugungskraft.

Der aus besserem, gelehrtem Hause stammende Thomas Steingräber befindet sich auf der bekannten Flucht vor sich selbst. Er darf Sylvia am Rande der Ahornsirup-Party sein Herz ausschütten. Eine Kinderstube, in der die Winde dauernd wechselten, hat ihn zum unsicheren Zyniker gemacht. In Paine wittert er nicht nur den Konkurrenten um Sylvias Gunst, sondern auch den Geistesverwandten. Deshalb schlägt seine Sympathie für einen verschrobenen Einsiedler in Haß um. Thomas haßt ja auch sich selber. Auf die Meinungsverschiedenheit beider in strategischen Fragen des Krieges zwischen den Klassen oder »zwischen Gut und Böse«, wie Paine findet, darf man nicht viel geben. Thomas wirft dem Einsiedler vor, sich den Kämpfen seiner Zeit zu entziehen und so das Böse gewähren zu lassen. Aber was tut er selber anderes, obwohl er noch beträchtlich jünger als Paine ist? Er weicht seinem Vater aus, entzieht sich einer Verhaftung als angeblicher Polizistenmörder und verkriecht sich in einem Holzfällercamp, dessen Banalität ihn zu ersticken droht. Ich vermute die Geistesverwandtschaft der beiden in der Ahnung oder dem Wissen, daß uns jede nennenswerte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in Machtkämpfe verwickelt, womit wir wiederum zu deren Unaufhörlichkeit beitragen.

Paine versteigt sich seinen Besuchern gegenüber zu der Äußerung, man habe die Bösen – die man an den Augen erkenne – zu töten, ja mit den eigenen Händen zu erwürgen. Natürlich laufen die Bösen nicht im Gänsemarsch an Paines abgelegener Hütte vorbei, wie Thomas auch prompt mit Hohn bemerkt. Sie robben zum Beispiel durch vietnamesische Reisfelder oder ukrainische Weizenschläge oder eilen händereibend durch die Flure endloser Laborgebäude unserer Pharmaindustrie. Paine hat sich, für mein Empfinden, dem Teufelskreis der Gewalt – auch des gewaltsamen Widerstands – wohlweislich entzogen. Als Preis hat er zunächst seine Einsamkeit zu zahlen. Doch wie füllt er sie aus? Mit Krieg. Thomas gab ihm bei seiner politischen Moralpredigt zu bedenken, nach Ansicht vieler BeobachterInnen stehe die Welt (1938) kurz vor einem Krieg, während er, Paine, den Einsiedler spiele. Aber der erwidert nach einer Weile, es sei immer Krieg. Thomas versteht nicht ganz. Paine erklärt, es gebe nur den einen Krieg. Dabei macht er mit dem Daumen eine kurze, harte Geste gegen die eigene Brust.

Auch diese Feststellung wird vom Autor nicht weiter erläutert. Ich nehme freilich an, Paine hat sich zugleich aus Schwäche (Angst) und Stärke (Stolz) von seinen Mitmenschen zurückgezogen. Beziehungen verunsichern ja fast immer. Dabei hat doch einer wie Paine schon mit sich selber Schwierigkeiten genug. Verunsichern sie aber nicht, sind sie zumindest lästig. Sie lenken einen von den wesentlichen Aufgaben ab. Das ist das Hochmütige an der selbstgewählten Einsamkeit. Im Grunde dienen die Paines dem Eigennutz kaum weniger als Cathy Ames, die mit verschiedenen Menschen, die ihr verfallen sind, ihr grausames Spielchen treibt. Die Paines hüten sich, sich zu verströmen, um dieses Wort aufzugreifen. Bei ihrem ersten Besuch bei Paine hatte Sylvia vorgeschlagen, er möge sich zwecks mehr Geselligkeit einen Hund anschaffen. Paine bedachte es, schüttelte aber dann seinen Kopf und erwiderte kurzangebunden wie immer: »Ich könnte ihn zu gern haben.« Von daher hat natürlich auch Sylvia, nach Verebben des auf Thomas' Abgang folgenden Gelächters, ziemlich schlechte Karten.

Damit will ich nicht geleugnet haben, daß Beziehungen auch Ratschlag oder Trost spenden können. Beides muß der geschworene Eigenbrötler entbehren. Berät und tröstet sich so einer notgedrungen selber, läuft er in seiner Befangenheit leider immer Gefahr, sich in Irrtümern oder Wahngebilden zu verfangen und entsprechend in Selbst-mitleid zu baden. Nehmen Sie sich Oliver Paine lieber nicht zum Vorbild.
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