Donnerstag, 1. September 2022
Bott 2 Als Bott die Sonne föhnte

Zwar war das Gerüst am Südgiebel der Villa nicht eigens für die Mission der Firma Euler errichtet worden, doch wie immer war Euler im Verzug. Der Hausherr drohte deshalb bereits mit dem Abbruch des Gerüstes, das ihn schließlich Miete kostete. Scheuten die Reichen keine Kosten, wären sie nicht reich. Der Hausherr war jedenfalls betucht genug, um einen Fachmann mit der Nachbildung eines ins schwarze Giebelgebälk geschnitzten Flammenrings zu betrauen, in dessen Zentrum ein Kopf seine Backen aufbläst – die »Sonne« also. Botts Chef Euler hätte dieses Bildnis leicht als Spiegel dienen können, doch er hatte die Selbstkritik nicht erfunden. Der Raumausstattermeister hatte Bott vor rund anderthalb Jahren gnädigerweise eingestellt, obwohl dieser nur Polsterer, schon Mitte 40 und dazu Ostdeutscher war.

Vom Zweck der Übung am Südgiebel hatte Bott keine Ahnung. Die geschnitzte Sonne besaß ungefähr die Größe eines Fahrradreifens. Vielleicht war der Abguß als kleine Aufmerksamkeit zur Taufe eines Urenkels gedacht, der ihn später einmal über seinen Billardtisch oder seinen Bechstein-Flügel hängen würde. Der Hausherr, ein stattlicher Greis um 70, gehörte einer traditionsreichen Kasseler Unternehmerfamilie an, die ihre Fabriken längst an einen Konzern verkauft hatte. Es hieß, er fördere Kunst und Kultur. Er hatte sich auf den Landsitz seiner Sippe ins hübsche Warmetal zurückgezogen. Die Warme ist ein kleiner Fluß, der bei Liebenau in die Diemel mündet. Die Villa jedoch lag am Ortsrand von Zierenberg zwischen mächtigen alten Bäumen oberhalb des Flüßchens am Hang; hinter ihr stieg Wald an. Von Kassel aus hatte man rund 20 Kilometer zu fahren. Bott fand die Villa eher häßlich. Sie glich einer aus hellem Sandstein und Fachwerk erbauten und mit Schiefer gedeckten Burg. Über dem Portal, das die stilgerechten wuchtigen Säulen aufwies, war die Jahreszahl 1907 eingemeißelt. Der Hausherr konnte somit die Burg beim besten Willen nicht errichtet haben. Das heißt, selbst wenn er hätte, wären es die Maurer und Zimmerleute gewesen.

Die Sonne am Giebel war vermutlich Kunst am Bau. Neben der Selbstkritik hatte Euler leider auch das Filigrane nicht erfunden. Beim Polstern etwa verwechselte er den Haarzieher gern mit einer Brechstange. Von der Grauwatte riß er Büschel ab, als sei sie Heu. Sein Vater, ein Sattlermeister, hatte sich wahrscheinlich um eine Lehrstelle zum Hufschmied für seinen Sprößling bemüht, doch dann stellte die Herkules-Brauerei auf Lastwagen um. Auf Sattelschlepper. Botts Mitgeselle Roman vermutete, Euler verdanke so manchen kniffligen Auftrag nur den guten Beziehungen seiner Gattin, die aus besserem Hause stammte. Mittwochs ging sie regelmäßig Tennisspielen, freitags in die Thermen. Ihr Gatte war Chaot. Ständig vergaß oder verlegte Euler irgendetwas. Sein Schlüsselbund suchte er so oft wie sein Handy. Den flüssigen Kunstkautschuk für die Giebelmission hätte er mindestens eine Woche früher bestellen müssen. Als er endlich eintraf, jagte Euler mit Bott zur Villa hinaus. Roman hatte Glück, denn er brachte gerade mit dem Stift in Nieste eine Markise an.

Pechvogel Bott hätte diese Markise später nur zu gern gehabt. Zunächst brannte im Warmetal die wirkliche Junisonne. Immerhin war das Gerüst noch vorhanden. Bei diesem Abguß lag die größte Schwierigkeit ohne Zweifel darin, daß er an einer Wand, also in der Senkrechten bewerkstelligt werden mußte. Weiter war der Balkengrund recht bucklig und wurde zudem vom Kopf der Sonne überragt. So hatte Bott in der Werkstatt nach Eulers Maßangaben eine kreisrunde beschichtete Spanplatte geschnitten und am Rand mit einem etwa drei Zentimeter starken Ring aus Verbundschaum versehen, der zugleich den Abstand halten und für die Abdichtung sorgen sollte. Sie erklommen das Gerüst. Bei der Sonne eingetroffen, drehten sie ringsum Schrauben durch die Spanplatte und den Verbundschaumring bis tief ins Gebälk. Sie zogen gut, und der Dichtring schmiegte sich den Unebenheiten an. Damit war die Sonne gleichsam verschalt.

Bott hatte eine Füllöffnung im Dichtring ausgespart, die jetzt natürlich zuoberst saß. Euler rührte in Windeseile die ersten sechs Kilo der Abformmasse an, die sehr rasch aushärtet. Er hielt das Eimerchen an die Füllöffnung und kippte. Bott hatte er angewiesen, sich mit Lappen und Schwämmen zu bewaffnen, um nach undichten Stellen zu spähen. Es gab keine. Dafür zeigte sich allerdings bald, Euler hatte bei seiner Ortsbesichtigung die Enge unter dem unmittelbar über der Sonne spitz zulaufenden Dachvorsprung nicht berücksichtigt. Wahrscheinlich hatte er seine Ortsbesichtigung, mangels Gerüst, im Fluge vorgenommen. Jetzt wurde offenkundig, daß sich das Eimerchen zum restlosen Auskippen nicht hoch genug stellen ließ.

Euler fluchte und bewährte sich als Hektiker. Er setzte das Eimerchen auf die Bohlen, riß den Hammer aus ihrem Werkzeugkoffer und haute das Eimerchen platt – eigentlich keine schlechte Idee. Nur flog Euler dabei der Hammer weg, weil auch das Eimerchen jäh zu entspringen und Euler es zu retten trachtete – dies alles auf zwei schmalen Bohlen in rund 12 Meter Höhe. »Feuer!« keuchte Euler. »Das Scheißzeug wird schon zäh!« Er vollendete sein Werk, indem er an einer Längsseite des Eimerchens mit Hilfe der Rohrzange eine Art Tülle ausbog. Dann richtete er sich auf, setzte das Eimerchen wieder an die Füllöffnung an und kippte und goß und drückte. Vielleicht erwartete er von Bott Stoßgebete.

Bott stand hinter ihm, umklammerte die als Geländer dienende Querstange und schielte zu ihrem Hammer, der unten im Kies stak. Euler hatte selbstverständlich nur Gedanken für die Rettung des teuren Kunstkautschuks gehabt. Dagegen war Bott sofort der schlurfende Gärtner durch den Kopf geschossen, der sie in Vertretung des Hausherrn eingelassen hatte. Dieser hielt sich gerade im Dorf auf. Neben einer angeborenen Zimperlichkeit machten Bott Schwierigkeiten mit Höhenlagen zu schaffen; er war nicht ganz schwindelfrei. So hatte er gleichzeitig auf die Dinge, die Euler vom Gerüst stoßen könnte, und auf sich selber aufzupassen, der dem Gärtner immerhin mit rund 65 Kilo auf die Birne gefallen wäre. In der Probezeit hatte Bott Euler einmal seine Höhenängst-lichkeit bekannt. Die milde Verachtung, mit der ihm Euler daraufhin den Part auf der zweiten Ausziehleiter erließ, um stattdessen den Stift an die Deckendekoration in der Kasseler Stadthalle zu scheuchen, bewog Bott, künftig nicht mehr auf Nachsicht zu pochen. Euler vergaß das Bekenntnis sowieso. Bott hielt nun dem Schwindel stand so gut es ging, wobei er sich einredete, durch Bewährung sei vielleicht Heilung möglich. Neuerdings versuchte er sich allerdings im Tagebuchschreiben, was leider zu manchen ernüchternden Diagnosen führte. So schrieb er zum Thema Schwindel:

Keine Frage, es geht hier um Angst … Hat sie jedoch keinen Gegenstand – übrigens kein seltener Fall – dürfte sie nur schwer zu überwinden sein. Und die Angst zu fallen, die dem Nichtschwindelfreien zusetzt, hat keinen Gegenstand. Sie entspringt allein seiner Einbildungskraft. Susanne hatte im Erfurter Norden eine hübsche Wohnung, deren Balkon auf die Gera ging. Da er im 5. Stock hing, fand ich unsere Balkonfrühstücke wenig ersprießlich. Stets den Platz auf der Türschwelle inne, mußte ich alle naselang aufstehen, um irgendetwas aus der Küche zu holen. Wie sich versteht, redete mir Susanne gut zu. Sie rüttelte an den Eisenstäben ihres Balkongeländers und versicherte mir, sie hielten einem sowjetischen Panzer stand. Ich aber wußte genau: mag sie dir die Augen verbinden, dich mit Ankerketten an ihr Balkongeländer schmieden, dir zu allem Überfluß den Abwurf einer schwimmfähigen Tonne des VEB Plaste & Elaste versprechen – du littest trotzdem Höllenqualen. Die Einbildungskraft reklamiert den Sturz in die Gera, der gar nicht droht, als ihre eigene Heldentat. Wir sprechen somit zurecht von Schwindel.

Für diesen Tag wurde Bott unerwartet rasch erlöst. Zwar gelang es Euler, das platte Eimerchen mit der einzigartigen Tülle nahezu vollständig auszukippen, doch sein Gesicht wurde trotzdem immer länger. Er klopfte nämlich hin und wieder mit dem Fingerknöchel an die Spanplatte, um den Stand der Füllung zu ermessen. Sie belief sich auf rund ein Viertel des Hohlraums, nachdem das Eimerchen leer war. Damit lag das Endergebnis auf der Hand, denn sie besaßen nur noch ein weiteres Eimerchen.

Als auch dieses mit Tülle versehen und geleert war, die Spanplatte aber noch immer hohl klang, fluchte Euler wie ein Dachdecker. Er gab sich fassungslos. Es durfte ja nicht sein, daß er sich verschätzt oder verrechnet hatte. Gleichwohl war sein Tatendrang vorerst blockiert. So knurrte er »Komm, wir machen die Fliege!«, schnappte sich die beiden leeren Eimerchen und beeilte sich, seine wütenden Gesichtszüge auf der Leiter nach unten verschwinden zu lassen.

Bott verbarg seine Schadenfreude, indem er sich beflissen nach den verstreuten Schrauben und Werkzeugen bückte. Während er das Gerüst räumte, sprach Euler mit dem Gärtner, der in seinem wohltuend kühlen Geräteraum im Kellergeschoß der Villa gerade Brotzeit machte. Bott sah es, als er ihren Werkzeugkoffer durch die Hecktür von Eulers Pajero schob. Vermutlich tischte Euler dem guten Mann eine hahnebüchene Geschichte auf. Wenig später röhrten sie von dannen.

Während der Rückfahrt konnte Bott seinem mißmutigen Chef immerhin entwinden, der Kunstkautschuk komme aus Dänemark und habe 14 Tage Lieferzeit. Euler gedachte deshalb den Rest der Sonne wohl oder übel mit schnödem Gips auszugießen. Bott schwieg zu diesem Plan, hielt sich mit der rechten Hand an dem Haltegriff über der Beifahrertür fest und stellte Mutmaßungen darüber an, warum sie nun unverrichteter Dinge wieder nach Hause jagen mußten. Wahrscheinlich lag auch dies an Überhastung. Euler verstand ja durchaus mit Zahlen und Formeln umzugehen. Vielleicht hatte er r² mal 3,14 (pi) genommen, um die Kreisfläche zu erhalten, aber dann rief ihn seine Frau in den Laden, wodurch die Multiplikation mit der durchschnittlichen Tiefe des Hohlraums zwischen Sonne und Spanplatte leider unter den Schreibtisch gefallen war. Der Büroteppich war ohnehin stets von tausend Dingen übersät. Fiel man nicht über Schachteln mit angeliefertem Dekorationszubehör oder einen Stapel Musterkataloge, dann über den Staubsauger.

Eulers grandiose Firma schwankte auf den Pfeilern Chaos und Eile. Er saß dem verbreiteten Irrglauben auf, wenn einer sein Arbeitstempo verdoppele, bringe es ihm auch doppelt soviel ein. Nach Botts Beobachtungen war eher das Gegenteil der Fall. Eulers blindwütiges Gewinnstreben sorgte für derart viele Pannen, Verschwendungen, Un- und Ausfälle, daß er wahrscheinlich nur deshalb noch nicht bankrott gegangen war, weil er von der Mitgift seiner Gattin zehrte und rund um die Uhr wie jener Herkules mit der Keule malochte, der vom Habichtswald aus das Kasseler Becken beherrscht. Auf 70 bis 90 Wochenstunden kam Euler bestimmt. Das hieß dann, freiberuflich und selbstständig tätig zu sein. Die restlichen paar Stunden, die Euler wie ein Stein in seiner Hälfte des Ehebetts lag, waren der Reingewinn.

Normalerweise wäre die Mission »Sonne« an diesem Mittag in höchstens anderthalb Stunden erledigt gewesen. Das Positiv von ihrem Abguß herzustellen, oblag einer Modellbaufirma. So aber hatte Euler den Hausherrn am Telefon zum wiederholten Male zu vertrösten – und am folgenden Tag schlugen sich er und Bott, vor allem freilich dieser, noch einmal drei Stunden um die Ohren. Dies hatte lediglich den Vorzug, Bott zuletzt um seinen Arbeitsplatz zu bringen.

Davon abgesehen, daß Gips leicht bricht, ist er schwierig aus der Form zu lösen. Nun hatte Euler Bott zwar eingeschärft, eine Flasche Spüli mit einzuladen, doch auf dem Gerüst entschied sich Euler anders. Es hätte ja bedeutet, die Spanplatte abzuschrauben, das Positiv – die Sonne also – mit dem Spülmittel »einzuölen«, die bereits gegossene Hälfte des Negativs wieder genau einzupassen und die Spanplatte wieder anzuschrauben. »Das dauert viel zu lange!« knurrte Euler und winkte ungeduldig nach der Gipstüte. »Das Holz ist ja lackiert. Es wird auch so gehen.«

Euler rührte einen halben Gummieimer Gips an und bekam ihn mit Hilfe einer Rinne, die Bott ihm vor die Brust hielt, problemlos in den Hohlraum. Er zwängte dabei verbogene Drahtstücke mit durch die Füllöffnung, um so der Form mehr Halt zu verleihen. Doch plötzlich sah Bott den Gips am unteren Rand der Spanplatte wieder hervorquellen; er quoll mit Macht und stürzte geradezu die Hauswand hinab.

»Achtung!« rief Bott, ließ die Rinne fahren und stemmte sich dafür wie ein Ochse gegen die Spanplatte, die sich zu allem Unglück auch noch durchbog. Offenbar war der Gips zu schwer.

»So ein Mist!« fluchte Euler, als er den Ausfluß sah. »Schrauben her, Akkuschrauber!«

Er griff sich das Verlangte bereits selber, weil ihn Bott beim besten Willen nicht bedienen konnte. Nachdem er in rasender Geschwindigkeit mindestens 20 weitere Schrauben in den Rand der runden Spanplatte gejagt hatte, war der Ausfluß tatsächlich unterbunden. Doch wie sah die Hauswand aus! Als hätte ein riesiger Pleitegeier seinen Kot über der Fabrikantenvilla abgelassen.

Euler ließ sich nicht beirren. Er rührte schon wieder neuen Gips an. Erst müsse die Füllung beendet werden, dann könnten sie das bißchen Soße abwischen. So griff Bott erneut zur Rinne; Euler goß und fädelte Drähte ein. Nach einigen Minuten konnte Euler aufatmen. Der Hohlraum war offensichtlich voll, und die Spanplatte schien zu halten.

Jetzt machten sie sich gemeinsam an die Säuberung der Hauswand. Dummerweise begann der Gips bereits abzubinden und ließ sich – entgegen Eulers Wunsch – nicht mehr abwischen. Sie mußten nach Spachtel und Stecheisen greifen. Es war schon 14 Uhr. Euler konnte für die sengende Mittagssonne eigentlich nur dankbar sein, denn ihretwegen waren sämtliche Außenjalousien am Südgiebel geschlossen. So war dem Hausherrn, der sich in einem bequemen Ohrensessel von seinem Mittagsmahl erholen mochte, die schöne Bescherung, die sie von seinen prächtigen Balken, Sandsteinsimsen, Jalousienleisten schabten, vielleicht entgangen. Zum Glück tauchte auch der Gärtner nicht auf.

Nach etwa einer halben Stunde – sie waren fast am Haussockel angekommen – dudelte Eulers Handy. Seine Frau war am Apparat. Offenbar hatte Euler einen Montagetermin in Kassel verschwitzt. Es ging um Faltrollos. »Nun mach keinen Aufstand, Irene«, knurrte Euler scharf. »Die zwei Dinger habe ich in 10 Minuten drangehustet, ich fahre gleich los!«

Während Bott weiterschabte, schwang sich Euler von den untersten Bohlen auf den Kies und verschwand um die Hausecke. Ihm war beim Saubermachen eine Erleuchtung gekommen. Bott fragte sich unterdessen, ob ihn Euler wohl mitnehmen würde; so käme er womöglich zu einem belegten Brötchen. Ließ ihn Euler aber an der Villa zurück – womit wollte er Bott in der Zwischenzeit beschäftigen? Die Hauswand war so gut wie gereinigt. Allein für Hin- und Rückfahrt würde Euler eine Dreiviertelstunde benötigen. Bott ahnte nichts Gutes.

Euler war ein massiger Hüne. Als er nach einigen Augenblicken wieder am Gerüst erschien, strahlte er wie ein kleines Kind über neues Spielzeug. »Ausnahmsweise mal Glück gehabt!« Er schwenkte eine Kabeltrommel und einen Föhn. »Der Föhn lag noch vom Linoleumverlegen her im Wagen. Paß auf!«

Er bückte sich nach einer Steckdose, die im Haussockel eingelassen war, schloß die Kabeltrommel an und richtete sich ächzend wieder auf. Dabei reckte er bereits gebieterisch einen Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger am Gerüst empor.

»Sobald du den Haussockel fertig hast, trollst du dich mit der Kabeltrommel und dem Föhn nach oben. Du nimmst die Spanplatte ab. Das wirst du ja allein schaffen. Du wirst sehen, der Abguß ist tadellos. Das Problem ist nur, wie wir ihn möglichst rasch vom Giebel lösen, ohne ihn zu beschädigen. Wir können es uns nicht leisten, ein drittes Mal in dieses Kaff zu fahren! Also: der Gips muß rasch abbinden. Je schneller er nämlich durchtrocknet, desto mehr Spannung bekommt er – und umso eher wird er unverletzt abzunehmen sein. Er wird uns geradezu in den Schoß fallen. Du nimmst also den Föhn und hälst ihn eisern drauf. Führe ihn immer schön im Kreis. In einer halben Stunde bin ich zurück, dann holen wir uns den Brocken! Alles klar?«

Bott hatte schon mehrmals geschluckt. Er wagte einzuwenden, die Mittagssonne knalle doch ohnehin auf das Ding.

»Das reicht nie! Wir müssen die Trocknung unterstützen.«

Bott stieß mit dem Stecheisen eine Gipsträne von der Hauswand und erwiderte achselzuckend: »Ja, wenn Sie meinen …«

»Das meine ich allerdings«, sagte Euler mit drohendem Unterton und wandte sich zum Gehen. »Also, du weißt, was du zu tun hast.«

Euler war kaum älter als Bott. Aber er duzte Bott nicht anders, wie er Michael duzte, seinen 16jährigen Stift. Bott warf sich zuweilen vor, stets höflich Sie zu Euler zu sagen – doch was blieb ihm anderes übrig? Euler war der Meister. Euler war der Chef. Euler war der bessere Mensch.

Während Bott vom Kies aus die letzten Gipsspuren am Haussockel beseitigte, hörte er, wie sich Euler in seinem breitmäuligen »Turbo«-Pajero von der Villa entfernte. Er war schon einiges gewöhnt, doch nun schüttelte er ungläubig den Kopf. Einerlei, ob ihm Euler mit seiner »Spannung« einen Bären aufgebunden hatte oder nicht: er besaß die Stirn, Bott für mindestens eine Stunde, in welcher er seine Faltrollos »dranzuhusten« gedachte, zur Erzeugung von Heißluft zu verdonnern – dies in prallster Nachmittagssonne! Wahrlich eine ausgefallene Beschäftigungstherapie …

Bott folgte Eulers Anweisungen. Nachdem er die Spanplatte entfernt hatte, konnte er die untere Hälfte ihres Abgußes spielend abziehen, was für Euler und für den dänischen Kunstkautschukhersteller sprach. Dagegen schien die obere Hälfte aus sichtlich noch feuchtem Gips mit dem Balkengrund verwachsen.

Bott warf den Föhn an und begann mit der Bestrahlung des Gipses. Schon nach wenigen Minuten ahnte er, diese von Doktor Euler verordnete Roßkur würde ihn garantiert umbringen. Auf dem Gerüst herrschten ungefähr 50 Grad. An Armen und Beinen kitzelte ihn bereits der Sonnenbrand; es gab ja nicht einen Fingerhut Schatten. Er hatte seit acht Stunden nichts gegessen. Der Sonnenstich, der seine Schirmmütze bereits in Rauch aufgehen ließ, würde ihn kampflos treffen. So würde er benommen den Föhn fallen und die Querstange fahren lassen, um selber wie ein Sack voll Gips vom Gerüst zu kippen. Aber nicht mit ihm! Bott stellte entschlossen den Föhn aus und kletterte nach unten.

Am Fuß des Südgiebels lag ein mit Kies bestreutes Rondell. Etliche nackte Frauen aus Stein deuteten eine Brüstung an. Wie sich zudem herausstellte, war das Rondell gleichsam unterkellert. Bott fand einen nach zwei Seiten hin offenen Souterrain vor, in dessen dämmriger Kühle es sich aushalten ließ. Offenbar war es der Unterstand für die Gartenmöbel der Villa, die allerdings reichlich mit Spinnweben überzogen waren. Bott entstaubte einen Liegestuhl, machte es sich darin bequem und blinzelte in die prächtigen Buchen und Eschen, die den Hang beschatteten.

Weiter unten standen sogar zwei kerzengerade gewachsene Mammutbäume, wie Bott sie vom Schloßpark in Kassel-Wilhelmshöhe her kannte. Diese merkwürdigen Bäume tragen weder Stoßzähne noch schnöde Blätter. Sie weisen vielmehr ein erstaunlich zartes Gefieder auf. Mit Euler konnten sie also nicht verwandt sein. Bott bedachte ihn jäh mit den unflätigsten Schimpfworten. Sogar ein Rotkehl-chen, das ihm gerade etwas vorgesungen hatte, stob bei dieser Schimpfkanonade davon.

Trotzdem focht ihn bald sein schlechtes Gewissen an. Bott hatte zwei Wahlsprüche, die er stets zu beherzigen suchte. Das hatte ihm sogar im realen prahlerischen Sozialismus manche Hochachtung eingebracht. Erstens: Verspreche stets weniger als du tatsächlich halten kannst. Und zweitens: Erfülle ein Vertrauen, das jemand in dich setzt, auch dann, wenn dieser Jemand ein Arschloch oder ein Windbeutel ist. Euler lag wohl ungefähr in der Mitte. Von daher drängte sich ein Kompromiß auf. Bott entschloß sich deshalb, im Fünf-Minuten-Rhythmus abwechselnd zu föhnen und zu pausieren.

So kam es, daß sich Bott für rund eine Stunde auch noch als Bergsteiger zu üben hatte: alle fünf Minuten rauf und alle fünf Minuten runter. Dabei war ihm beim ersten Aufstieg noch rechtzeitig eingefallen, vorsichtshalber ein klappbares dickes Stuhlpolster mitzunehmen, um es unmittelbar unter dem Abguß auf den Bohlen auszubreiten. Wäre das mit Föhn verwöhnte Objekt in Botts Abwesenheit auf den Bohlen zerschellt, hätte ihn Euler womöglich erwürgt. Jetzt fiel nahezu jeder Groll von Bott ab, sobald er zur sehnlichst erwarteten Pause in seinem kühlen Gelaß eintraf. Während ihn Kleiber und Baumläufer mit kleinen Kunststücken unterhielten, griff er hin und wieder nach seiner Flasche mit Mineralwasser, das allerdings lauwarm war.

In dieses Rondell wäre Bott sofort eingezogen. Der Hausherr konnte ihn beispielsweise gegen Kost & Logis mit der Wartung und dem Transport seiner Gartenmöbel betrauen. Es war ja anzunehmen, der schöne Bergpark habe schon so manche erlesene Abendgesellschaft gesehen. Bott malte sich eine davon aus. Der Hausherr im weißen Smoking, den Zeigefinger leicht angehoben, bittet um Gehör. Für diesen Abend kann er mit verhaltenem Stolz das Kasseler Louis-Spohr-Quartett präsentieren. Bott hat die über 50 Korbsessel auf dem Kies verteilt und sich wieder in seinen Unterstand verzogen. Betört lauscht er den gedämpften Streicherklängen. Seinem gebildeten Hausdiener Bott zuliebe war der Hausherr so nett, das Spohr-Quartett um den Verzicht auf Vivaldi oder Mozart zu bitten. So bringt es das Streichquartett in g-Moll von Claude Debussy zu Gehör.

Die Dämmerung bricht herein. Der Schwarzspecht überquert einer Zwerggans nicht unähnlich das Warmetal, um seinen im Park gelegenen Schlafplatz aufzusuchen. Sein durchdringender, fast dämonisch klingender Flugruf »Krüh krüh krüh!« mischt sich dabei durchaus passend in die schrägen Akkorde Debussys. Dann machen die MusikerInnen Pause. Vielleicht obläge es Bott jetzt auch, dem Butler beim Darreichen der eisgekühlten Getränke zur Hand zu gehen, doch er sieht sich im Moment daran gehindert. Mit huschendem Schritt ist nämlich die überraschend junge Cellistin in seine verwunschene Laube getreten. Sie hatte bewundernd beobachtet, wie er mit Türmen aus fünf bis sieben Korbsesseln um die steinernen Damen auf dem Rondell balancierte. Jetzt schreckt Bott allerdings zusammen, weil ein wohlvertrauter Auspuff durchs Tal röhrt. Euler, dieser Spielverderber!

Bott schwang sich aus seinem Liegestuhl und sprintete zum Gerüst. Als Euler die oberste Leiter erklomm, war Botts Zorn von dem grandiosen Föhn schon wieder gefährlich angefacht worden. Am liebsten hätte er das Ding geradewegs in Eulers keuchende Visage geschmissen, die jetzt über den Bohlen auftauchte. Doch ein Euler war nicht kleinzukriegen: er schwenkte triumphierend einen Gum-mihammer. »Jetzt hat das Miststück verloren – paß auf!«

Tatsächlich gelang es ihnen, den Gipsabguß von der Schnitzerei zu lösen, wobei er lediglich in drei verschieden große Teile zersprang. Als sie die Innenseiten der Stücke musterten, zeigte sich zudem, daß die feingliedrigen Flammenzungen der Sonne überwiegend abgeplatzt waren. Euler preßte die Kinnladen aufeinander, wiegelte aber sogleich wieder ab: »Keine Bange – das bessern wir schon nach.« Prompt biß auch Bott die Zähne. Euler pflegte getreulich jede Phrase nachzuplappern, die in Deutschland gerade gängige Münze war: Nachbesserung, kein Thema, Schuldzuweisung, kein Handlungsbedarf, Schadens-begrenzung, alles klar? Die Durchhalteparolen der SED waren nicht schlimmer gewesen.

Sie säuberten das Holz, verschmierten die Schrauben-löcher und strichen hier und dort mit schwarzer Farbe nach. Die »Sonne« blies wieder mit ungehemmter Kraft – Bott die Grillen aus dem Schädel. Er schaffte das Werkzeug vom Gerüst. Schließlich trug er gemeinsam mit Euler auch die drei auf die Spanplatte gebahrten Gipsbrocken wie rohe Eier nach unten, um sie im Laderaum des Pajeros auf die Kisten und Koffer zu schieben. Dann zwängte sich Euler hinters Steuer und gab Gas. Vermutlich war er schon wieder bei zwei anderen Kunden überfällig.

Wie manche HundehalterInnen erstaunliche Ähnlichkeit mit ihrer Bulldogge oder ihrem Rottweiler aufweisen, so verhielt es sich auch mit Euler und seinem hochbeinigen, schweren Geländewagen. Und natürlich fuhr er auch nicht zimperlich. Kaum waren sie bei Burghasungen auf die Autobahn Dortmund–Kassel gebogen, drehte Euler auf 150 und gab sich alle Mühe, sämtlichen Vorderleuten, ob sie kleine oder große Autos fuhren, mit seiner fetten Pajero-Schnauze die Kofferraumdeckel einzudrücken.

Bott kannte das bereits; nur wurde es dadurch nicht erträglicher. Von Roman wußte er, Euler hatte wegen Unfällen schon einen Krankenhausaufenthalt und einen dreimonatigen Führerscheinentzug hinter sich. Es hatte aber offenbar nichts gefruchtet. Eulers Krankheit »Selbstüberschätzung« war unheilbar. Bekanntlich nisten sich bei dieser Krankheit, die vor allem Männer befällt, anstelle der nur mager vorhandenen Vorstellungskraft Illusionen ein. An einem Objekt zu scheitern konnte sich Euler so wenig ausmalen wie etwa die Phänomene »im Rollstuhl sitzen« oder »unter der Erde liegen«.

Verständlicherweise war Botts größte Sorge nicht Eulers Lebenserwartung. Vielmehr litt er an der eigenen Lohnabhängigkeit. Sie zwang ihn, angeschnallt neben diesem Hohlkopf zu sitzen, in dessen Pranken sein bißchen Leben lag. Anfänglich hatte er Euler drei- oder viermal gebeten, beim Autofahren etwas mehr Abstand zu halten. Auch dies hatte Euler nur mit einem aus Mitleid und Verachtung gemischten Lächeln quittiert. Gegen Euler waren die sozialistischen Helden der Arbeit Schlafmützen gewesen.

Jetzt wunderte sich Bott, wie er Eulers Zumutungen so lange hatte ertragen können. Und er dachte erbost: Erst macht er dich in der Sonnen-Posse zum Hanswurst, dann fährt er dich zu Brei! Bott spürte, wie sich über seiner Angst der Haß erhob, und er versuchte es keineswegs zu unterbinden. So entfuhr seinem Rachen plötzlich ein Bellen:

»Fahr nicht so dicht auf, du Idiot!«

Eulers Brauen schnellten hoch. Dann faßte er seinen Gesellen scharf ins Auge und knurrte: »Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was ist denn das für ein Ton!«

Damit platzte Bott endgültig der Kragen. Er bückte sich jäh zur Seite, packte Eulers rechtes Schienbein und riß ihm so den Fuß vom Gaspedal. Euler fluchte entsetzlich, bemühte sich, den schlingernden Pajero in der Spur zu halten, gab aber nicht mehr Gas. Der Wagen rollte auf dem Seitenstreifen aus.

Bott hatte sich wieder zurückgelehnt und blickte, wenn auch mit fliegendem Atem, starr geradeaus. Sie sprachen beide nicht. Als der Pajero zum Stillstand gekommen war, stieg Bott aus, warf mit Macht die Tür hinter sich zu und sprang in langen Sätzen die steile Böschung hinab.

Die Böschung war mit dornigen Hundsrosenbüschen gespickt. Ein Pechvogel wäre gestrauchelt und in ihnen gelandet. Bott kam durch. Euler verfolgte ihn nicht. Zuletzt hatte einmal Bott die Überraschung auf seiner Seite gehabt.

Wie Bott erkannte, befand er sich in Höhe des Dorfes Hoof. Es gab dort eine Unterführung für Forstfahrzeuge, sodaß er auf die Nordseite der Autobahn gelangen und quer durch den Habichtswald und dann über die Dönche nach Hause wandern konnte. Bott bewohnte damals eine Dachstube im Hause seines Schwagers in Kassel-Niederzwehren. Seine Wanderung ging über rund acht Kilometer – Zeit genug für den Entschluß, seinen Beruf als Polsterer und als Handwerker überhaupt an den Nagel zu hängen. Es hätte ihn ja ohnehin keiner mehr eingestellt.
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