Donnerstag, 1. September 2022
Verlassene Gefühle

Wie mir kürzlich Kinder klarmachten, die mich bei meiner Erzählung ungläubig ansahen, ist in Waltershausen nach dem mittelalterlichen Bierrufer auch der Milchmann längst ausgestorben. In meiner eigenen Kindheit zählte er noch zu den hochangesehensten Krämern. Schließlich besaß er das Privileg, mit Hilfe eines Schwengels statt schnödem Wasser Milch aus seiner Zapfsäule zu pumpen. Sie ergoß sich in herrlichen Schwällen in die mitge-brachten Milchkannen. Da diese Behälter mit umlegbaren Henkeln aus Blech waren, schepperten sie dabei auch recht hübsch.

Vorher, auf dem Weg durch die Straßen, dröhnten sie geradezu, lag doch nichts näher, als die paar Groschen Milchgeld in der leeren Kanne zu verstauen statt Gefahr zu laufen, sie aus den ewig löchrigen Hosentaschen zu verlieren. Die Kanne schlackerte selbstverständlich. Vielleicht wurde sie sogar in ein Glücksrad verwandelt um zu erproben, welche Fliehkraft erforderlich sei, um die Groschen auch in den Höhenlagen am Kannenboden zu halten. Pimpfe wie ich träumten freilich eher mit offenen Augen und vergaßen das Geld. Von dieser Sitte aus den 1950er Jahren leitet sich die Verhöhnung von Einfaltspinseln mit der Metapher ab, solche wie der oder diese ließen beim Milchholen das Geld in der Kanne liegen.

Allerdings sind Milchmänner, die sich die klingende und winkende Einnahme selber mit Milch zuschütten, nur schwer vorstellbar. Auch sie hatten sich gegen den tendenziellen Fall der Profitrate zu stemmen. Hat auch der Witz ein Gesetz? Ja, er erwächst stets aus Widersprüchen. Im Kapitel »Humor und Witz« seines Buches Der Mensch – Irrläufer der Evolution erläutert Arthur Koestler, um uns zum Lachen bringen zu können, müßten die betreffenden Situationen oder Ideen »in zwei autarken, aber unvereinbaren Bezugsrahmen oder assoziativen Kontexten« wahrnehmbar sein. In unserem Fall: eine Milchkanne ist keine Geldbörse. Oder im Falle Leons, der in meinem Zwerglied Brettrag durch ein Astloch des Brettes späht, das er vorm Kopf hat: in einer Metapher für Dummköpfe kann kein Astloch sitzen. Schon ein billiger Ostfriesenwitz zündet allerdings mehr. »Warum haben die Ostfriesen beim Grasen immer rote Socken an? – Damit sie sich nicht in die Füße beißen.«

Hier beißen sich sozusagen zwei Ernährungsweisen, die unzulässigerweise in einen Topf geworfen werden, die von Mensch und Rind. Koestler spielt das Muster, das er fand, nicht nur an einigen Witzen durch – es scheint tatsächlich in allen Wechselfällen der Komik wirksam zu sein. Dabei kommt es nicht darauf an, ob wir uns prustend auf die Schenkel klopfen oder lediglich schmunzeln. Auch jede Erheiterung folgt nach Koestler stets demselben Muster. Es geht um eine Kluft zwischen Logik und Gefühl. Das sollte man übrigens nicht mit dem Kampf zwischen dem Schönen und dem Häßlichen verwechseln, den F. G. Jünger als maßgeblich empfand. Dessen Beobachtung, das Komische überhaupt erwachse stets Widersprüchen und Regelverstößen, war natürlich nicht neu. Aber für ihn verstößt auch das Häßliche gegen die Regel – weshalb es bei allen komischen Effekten im Spiele sei. Damit wird Jüngers veränderter Blickwinkel originell, wenn auch nicht gerade begrüßenswert. Das Schöne gerät Jünger zum maßgeblichen Monolithen, an dem sich die KomikerInnen ihre Birnen einrennen. Nicht schön ist alles Unangemes-sene und Übertriebene; nicht schön sind zerstreute, verschrobene, irgendwie »auffällige« Menschen. Je individueller – könnte man deshalb im Geiste Jüngers formeln – desto anfälliger für den komischen Effekt. Aber selbstverständlich auch: je rebellischer! Ironie ist ihm ein Greuel, weil sie zersetzt – was soll er da erst von Streiks und Aufständen halten! So erweist sich »das Schöne« Jüngers erstaunlicherweise als das Gegebene, allgemein Anerkannte – kurz, als die Norm. Sinn des komischen Effektes ist es, uns dieses Schöne erkennen und nach unserem befreiten Lachen doppelt und dreifach schätzen zu lassen. Hurra, die Norm hat uns wieder! Damit sind wir »natürlich« auch wieder unter die Fittiche der Stärkeren geschlüpft. Die Aufheiterung durch Komik sei »untrennbar mit einem Bewußtsein der Überlegenheit verbunden«, das jeden innig durchdringe, »der es mit der Regel hält«, lesen wir auf Seite 72 von Jüngers frühen Studie*, die selbstverständlich auch mein Brockhaus gern heranzieht. Möglicherweise kollidierte sie später mit Jüngers umfangreichen, ätzenden Kritik der Perfektion der Technik, die allen uns normierenden Großstanzen, etwa Fotografie, Tauschwert, Geld, nur Abscheu entgegenbringt. Nur dem Staat wohl noch nicht.

Wir waren bei Koestler und dem Lachen stehen geblieben. Jede komische Situation baut zunächst Spannung auf. Doch durch jenen unvermittelten »Sprung« in einen anderen Bezugsrahmen wird unsere Erwartung enttäuscht. Die mit ihr verbundenen Gefühle »sind plötzlich überflüssig und werden auf dem Weg des geringsten Widerstands mit Lachen freigesetzt«. Wie zahlreiche Denker vor ihm betont Koestler dabei, diese beim Lachen gelösten Emotionen enthielten immer ein aggressives Element. »Aber Aggression und Furcht sind Zwillingsphänomene.« Deshalb lache ein Kind auch dann, wenn sich eine vermeintliche Gefahr verflüchtige. Das kläffende Hündchen hat keine bösen Absichten: es wedelt ja mit dem Schwanz.

Oft stammten die angestauten Emotionen aus unbewußten Quellen, so Koestler weiter. Neben uneingestandener Angst zum Beispiel verdrängter Sadismus, sexuelle Energie, sogar Unmut aus Langweile, wie sich in allen Schulen an jähem, brüllendem Gelächter über irgendeinen trivialen Zwischenfall zeige. Wie hieße also das Gesetz, das uns in komischen Situationen lachen läßt?

Koestler erwidert kühn, wir lachten, weil unsere Emotionen träger und hartnäckiger seien als unsere Vernunftprozesse. Affekte könnten nicht mit Argumenten oder Einsichten Schritt halten. »Wenn wir unsere Stim-mungen so schnell ändern könnten, wie wir von einem Einfall zum nächsten hüpfen, wären wir Gefühlsakrobaten. Da wir aber nicht dazu imstande sind, werden unsere Gedanken und Emotionen häufig voneinander getrennt. Was sich durch Lachen entlädt, sind vom Denken verlassene Gefühle. Wie wir gesehen haben, sind Emotionen wegen ihrer größeren Wucht nämlich nicht fähig, dem plötzlichen Sprung der Ideen zu einer anderen Art der Logik zu folgen; sie neigen dazu, ihren Weg in gerader Linie fortzusetzen. Ariel führt Caliban an der Nase: Der eine springt auf einen Zweig, der andere prallt an einen Baumstamm.«

Solche Unfälle, die sich dialektischen Winkelzügen verdanken, machten unseren Urahnen kaum zu schaffen, waren doch im Neandertal Gefühl und Verstand noch ins selbe Gemüt gebettet. Das soll nicht heißen, es sei damals besonders gemütlich gewesen. Im Gegenteil, die Gemüter wurden unablässig von Furcht und Schrecken gequält, wie etwa Lewis Mumford und Jost Herbig mit guten Gründen gezeigt haben. Die Emotionen unserer Urahnen ließen sich von jener geraden Linie nicht so leicht abbringen. Mit anderen Worten, man hatte im Neandertal nichts zu lachen. Das Ventil für Lachsalven – so Koestler sinngemäß – konnte sich erst entwickeln, als die Vernunft ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von den »blinden« Trieben der Emotion erreicht hatte.

Dies muß auf den Atollen der Südsee spätestens 1816/17 der Fall gewesen sein, erfreut sich Weltumsegler Chamisso doch ausdrücklich am fröhlichen Wesen der dortigen InsulanerInnen. In diesem Zusammenhang schwingt er sich, in seinem Buch Reise um die Welt, sogar zur Verkündigung eines Menschenrechtes auf, zu dessen Durchsetzung sein Kapitän Otto von Kotzebue noch nicht zur Bombe griff: das Lachen habe dort nichts Feindseliges; »Lachen ist das Recht des Menschen; jeder lacht über den anderen, König oder Mann, unbeschadet der sonstigen Verhältnisse.«

Die heutige Forschung scheint allerdings anzunehmen, das Lachen sei älter als die Sprache. Schon einige Affen hätten es gekannt, wenn auch eher als Grunzen. Die einen führen es auf das beruhigend-beschwichtigende Kitzeln des Affensäuglings durch die stillende Mutter zurück. Für die anderen entwickelte es sich aus dem Zähnefletschen. Bei Dunkelheit habe es dem Altsteinzeitler wenig geholfen stumm zu lächeln, um Frieden zu stiften oder zu erbitten. Er grunzte also lachend. Später zeigte das Lachen eher die Überwindung der Angst an – man war erleichtert. Jedenfalls dürfte es von früh an soziale Funktion besessen haben. Witze selber erregen es selten. Ähnlich behaupten sie im Internet, einsames Lachen komme selten vor. Na, die sollen sich mal in meinen Garten schleichen und ihr von stampfender elektronischer Popmusik zerknautschtes Ohr an meine Haustür legen.

* Über das Komische, 3. Auflage Ffm 1948
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