Donnerstag, 1. September 2022
Kanupost

Schauplatz Bassertsee, um 1880. Wegen einer Pleite bricht die neue Bahnlinie aus dem Nordosten bereits in Molton am Fluß Bassert ab. Bis nach Foxtown an der Mündung des Bassert in den See wären es nur noch 30 Kilometer gewesen. Das wurmt die Leute aus den um den See verteilten Dörfern natürlich auch deshalb, weil sie so ewig auf ihre Post warten müssen.

Wilbert wohnt in Molton. Er hat von seinem Onkel ein etwas baufälliges Häuschen geerbt, das direkt am Flußufer steht. Er hält sich mit Gelegenheitsarbeiten und Fischfang nur recht mühsam über Wasser. Als er einmal mit dem Krämer aus Foxtown plaudert, der mit seinem Gespann regelmäßig in Molton für seinen Laden einkauft, fällt es Wilbert plötzlich wie Schuppen von den Augen: man könnte doch für die Leute am Bassertsee eine Kanupost einrichten. Man fährt mit der Strömung nach Foxtown, umrundet den See – und dann hievt man das Kanu auf den Wagen des Krämers und fährt bequem wieder nach Molton zurück. Mit diesem Plan sind, wie sich zeigt, sowohl der auswärtige Krämer wie der Postvorsteher von Molton einverstanden. Auch Wilberts Bekannter Jack sagt zu. Denn im Kanu allein zu fahren, wäre natürlich viel zu mühsam und auch zu gefährlich. Die Sache spielt sich rasch ein. Die Kanupost am Bassertsee kommt jetzt jede Woche, wobei Wilbert und Jack im ganzen nur knapp drei Tage für ihren Dienst benötigen, von dem sie sich neuerdings recht gut ernähren können. Wie sich versteht, sammeln sie in den Dörfern und in Foxtown auch die abgehende Post – und die Gebühren für die Kanupost ein. Für die beiden Übernachtungen haben sie billige Quartiere gemietet. Am Schluß der Reise rechnen sie mit dem Postvorsteher ab und nehmen ihren Wochenlohn entgegen.

Wie es so geht, verdickte sich aber nach einigen Monaten die Luft zwischen den beiden Kanuten. Jack, ein bartloser hübscher Schlanker, hatte sich eine vorzugsweise mit treuherzigem Tonfall einhergehende Sanftmütigkeit zugelegt, die Wilbert zunächst gefallen hatte. Dann entpuppte sich Jack jedoch als scheinheiliger Bruder. Seine »Sanftmütigkeit« war nur der Deckmantel für seine Herrschaftsgelüste. Es sollte stets nach seiner Nase gehen, und wenn sich Wilbert dem widersetzte, gab er die beleidigte Leberwurst. Dies alles zerrte an Wilberts Nerven und sorgte für manchen Streit. Das entging natürlich mit der Zeit auch den Kunden der beiden oder ihrem Kutscher, dem Krämer von Foxtown, nicht.

Die jüngste Postfahrt hatte die Partner schon um Dreiviertel des Sees geführt. Es war Hochsommer. In einem wasserdichten Sack, in Beuteln getrennt, lagen die noch zuzustellenden und die bis dahin bereits eingesammelten Briefe. Ein anderer Sack schützte ihre Schußwaffen. Quer durch eine ausgedehnte Bucht vom Dorf O. zum Dorf P. unterwegs, fing Jack plötzlich an, witternd umherzuspähen. Er sagte, von den Landmarken her müßten hier unter ihrem Kanu die Felsen liegen, an denen laut Hyronimus, einem erfahrenen Otterjäger, die seltenen Z-Muscheln lebten, in denen oft prächtige Perlen zu finden seien. Der See sei an dieser Stelle keine 12 Meter tief. Er hätte nicht übel Lust, einmal nachzusehen; ein erfrischendes Bad könne ohnehin nichts schaden. Natürlich gelang es Wilbert nicht, ihm die Sache auszureden; im Gegenteil. Jack wünschte, wie immer, recht zu behalten und zudem mit seinen Tauchkünsten zu prahlen. Er nannte Wilbert einen Waschlappen, während er sich bereits auszog, und dann verschwand er mit einem eleganten Hechtsprung im See.

Die Verunglimpfung als Waschlappen war nicht völlig aus der Luft gegriffen. Wilbert neigte zur Vorsicht aus Ängstlichkeit. Unter anderem hatte er Angst vor schlechtem Gewissen, Reue, Schuldgefühl. Und genau dazu kam es jetzt auch, nachdem Jack nach drei Minuten noch nicht wieder aufgetaucht war. Nach sieben Minuten, in denen er sich fast die Augen ausstarrte, näherte sich Wilbert bereits dem Stadium der Panik. Die Leute würden selbstverständlich annehmen, er habe Jack im Streit eins auf die Rübe gegeben und dann, mit ihrem Beil beschwert, in den See geworfen. Gegenteilige Zeugenaussagen waren nahezu unwahrscheinlich. Nach 12 Minuten sah sich Wilbert schon unter der Schlinge stehen, während ihn die johlende Menge mit Fischköpfen und faulen Eiern bewarf. Das schmeckte ihm selbstverständlich wenig. »Ich muß mir die Sache in Ruhe überlegen«, schoß es ihm durch den Kopf, »aber hier, an der Unglücksstelle, ist das unmög-lich.« So griff er kurzentschlossen ins Paddel und steuerte wie von Seehunden gehetzt die Insel Smooth an, die er glücklicherweise in seinem Fernglas erspäht hatte. Laut Karte lag sie rund acht Kilometer von der Unglücksstelle entfernt. Er wußte, sie galt als unwirtlich und war unbewohnt.

Immerhin hatte Smooth, neben etwas Wald und einer Quelle, große Vogelkolonien zu bieten, die für halbwegs genießbare Braten und Eierpfannkuchen gut waren. Das jämmerliche Geschrei der Vögel war allerdings nicht dazu angetan, Wilberts Angst vor Strafe zu verscheuchen. So war er nach fünf Nächten bereits so gut wie entschlossen, kurzerhand hier zu bleiben und ein Robinson-Leben zu führen. Vielleicht war das genau das Richtige für ihn, denn an seinen lieben Mitmenschen hatte Wilbert schon immer mehr Ungemach als Freude gefunden, Frauen übrigens eingeschlossen. Da entdeckte er in seinem Fernglas plötzlich ein Boot, das offensichtlich auf Smooth zuhielt.

Es war Pinkerline mit irgendeinem Weibsbild. Der Postvorsteher hatte nämlich den Marshal von Molton aufgesucht, und der wiederum hatte den Detektiv Pinkerline gebeten, den vermißten Kanupostboten einmal nachzuspüren. Pinkerline ritt den See bis O. und dann P. ab, wodurch sich herausstellte, in P. war das Postkanu bislang nicht eingetroffen. Darauf mietete er einem Fischer aus O. ein Kanu ab und lud auch gleich dessen Tochter Mary ins Boot, weil ihm ein Alleingang auf See doch zu gefährlich erschien. Mary konnte fischen, paddeln, schießen und dergleichen und hatte gerade Zeit, zumal ihr Pinkerline sofort 10 Dollar Vorschuß in die Bluse schob. Sie war es auch gewesen, die ihn, im Beisein ihres Vaters, auf die Insel Smooth aufmerksam gemacht hatte.

Wilbert erschrak und versteckte sich zunächst einmal. Er war nicht der Kerl, der einen arglosen Gesetzeshüter kurzerhand aus dem Hinterhalt abknallte. Da hätte er nur wieder Schuldgefühle gehabt. Pinkerline jedoch war ein alter Hase. Er reimte sich aus den vorhandenen Spuren bald zusammen, daß er es nur mit einem Gegner zu tun hatte, und nach wenigen Stunden hatte er ihn, mit Marys Hilfe, gestellt, zum Postpaket verschnürt und erst einmal kräftig aufs Maul gehauen.

Das hätte er besser unterlassen. Zum einen brachte es Wilbert keineswegs zum Reden, ganz im Gegenteil. Zum anderen weckte es aber auch bei der Fischerstochter Wut. Sie hatte gegen Pinkerline ohnehin bereits auf See eine Abneigung gefaßt. Dafür gefiel ihr der arme geschundene Gefangene umso besser. Pinkerline gedachte ihn mit dem ersten Morgengrauen nach O. zu bringen und dort auf irgendein Pferd zu binden. Das scheiterte jedoch an Mary.

Sie hatten sich zur Nacht alle drei um Wilberts gewohnte Feuerstelle gelagert. Als Mary mit der Nachtwache daran war, ließ sie sich von dem rothaarigen und auch von Pinkerlines Fausthieben schon blauäugigen Postboten die Geschichte mit dem Tauchversuch ins Ohr flüstern. Sie glaubte ihm sofort; er war alles andere als ein Verstellungskünstler. So brauchten sich die beiden nicht mehr lange über ihre gemeinsame Flucht zu verständigen. Dann schlugen sie Pinkerline bewußtlos und fesselten ihnen vorübergehend. Sie würden sein Boot zerstören und ihm die Fesseln zuletzt wieder abnehmen. Ein paar Tage allein in stiller Einkehr würden ihm sicherlich nicht schaden. Man wußte ja in O., daß er und Mary wohl auch die Insel Smooth inspizieren würden. Der übertölpelte Detektiv konnte also auf Befreiung rechnen.

Den Postsack ließen sie in seiner Obhut. Dagegen nahmen sie das Inkasso bei ihren Kunden an sich. Auch Pinkerline selber erleichterten sie, neben seinen Schußwaffen, um ein paar hundert Dollar – Spesengeld. Sie stachen im Morgengrauen von der Inselseite aus, die O. abgewandt war, in See. Sie gingen natürlich erst nachts an Land, weil man den rothaarigen Postboten bestens kannte. Aber man sah ihn nie wieder.
°
°