Montag, 29. August 2022
Zeit der Luchse Kap. 6–13
ziegen, 17:12h
Anderntags gegen eins erreichten sie ein Dorf, das Duhn hieß. Es lag zwischen dem Kus und den Rezoven inmitten verschiedener Felder und Obstgärten. Eine niedrige Anhöhe zeigte außerdem einen kleinen Steinbruch, in dem jedoch, Seans Feldstecher zufolge, Totenstille herrschte. Über dem Steinbruch segelten zwei Kolkraben am leicht bewölkten Himmel. Die meisten Obstbäume waren schon verblüht. Ein bestimmter Acker leuchtete dafür um so knalliger gelb in der Sonne: es war blühender Raps. Sie hatten eigens angehalten, um daran zu schnuppern. Er roch recht süß; entsprechend schlugen sich die Insekten um ihn.
Den nächsten Halt legten sie vor der Duhner Kirche ein, wo es es auch einen Brunnen gab. Wie es aussah, wurde sein Strahl von einem gedeckten Quellbach gespeist, der wiederum in den nahen Dorfbach mündete. Das Wasser schmeckte nicht übel. Sie erfrischten sich und tränkten auch die Pferde. Dann tauchte eine ältere, überwiegend schwarz gekleidete Frau mit einem Handwagen auf, der mit einem großen Faß beladen war und von einem ganzen Schlag Kinder umtänzelt wurde. Sie lächelte den Fremden zu. Die Kinder halfen ihr eifrig dabei, das Faß mit Wasser zu füllen.
Sean hatte inzwischen seine gar nicht mehr so dürftigen Kenntnisse der Landessprache zusammengekratzt. Ob ihnen die Frau sagen könne, wo sie hier freundlicherweise ein Mittagessen einnehmen könnten?
Sie lächelte erneut und deutete auf den Planwagen, der inzwischen an der rückwärtigen Ladeklappe mit einem kleinen weißen Kreuz auf rotem Grund verziert war. Auf der gewölbten Plane selber war ja, wie man sich erinnern wird, an beiden Längsseiten das Wappen der Mollowina zu sehen.
»Die Zeitungsleute aus der Schweiz, nehme ich an ..?«
So äußerte sie sich jedenfalls ungefähr. Sean und Norbert nickten erfreut. Darauf setzte ihnen die alte Frau auseinander, hier erhielten sie, um diese Zeit, in jeder GO ein Mittagessen. Es sei aber vielleicht am klügsten, wenn sie gleich mit ihr in ihre GO mitkämen, denn dort gebe es heute Mehlwürmer!
Schon ließen die Kinder das Schöpfen sein, bildeten einen Ring und riefen Mehlwürmer! Mehlwürmer! Mehlwür-mer!, während sie um ihre Betreuerin und die beiden interessanten fremden Männer tanzten.
Die Schweizer schmunzelten. Sie nahmen die Einladung dankbar an, obwohl Mehlwürmer normalerweise nicht auf ihrem Speisezettel standen. Daraufhin stürmten die Kinder den Planwagen, um gefahren zu werden. Sean half der Frau, den Handwagen mit dem vollen Faß zu ziehen, das einen gut schließenden Deckel besaß. Norbert kutschierte mit dem Planwagen hinterher.
Wie sich herausstellte, gab es in der GO Blasebalg Schupf- oder Fingernudeln, wie sie in Süddeutschland und Österreich hießen. Das waren die »Mehlwürmer«. Man konnte sie unter Specksoße ersticken, denn davon gab es ebenfalls mehrere Töpfe voll. Ihre neue Freundin machte sie auch auf Schalen mit frischen gehackten Kräutern aufmerksam. Sie hieß Eftimia und hatte ihren Ehemann bereits vor der Revolution durch eine einstürzende Scheune verloren. Der Gemeinschaftsraum der BlasebalgerInnen war hauptsächlich durch einen kühnen Durchbruch in der Trennwand zweier aneinandergebauter Bauernhäuschen gewonnen worden. Zur Stunde war er von rund 60 Leuten bevölkert. Zum Erstaunen der Schweizer hatten sie Miron Maurer unter den Leuten entdeckt, den sie flüchtig aus dem Rathausflur kannten. Er hatte sie nun, schon kauend, lässig mit einer kleinen Handbewegung gegrüßt. Er war Rat für Verteidigung, wie sein Posten wahrscheinlich zurecht hieß, war es doch schwer vorstellbar, die ungefähr 20.000 waffenfähigen BewohnerInnen der Mollowina brächen mit irgendeinem Ausland einen Krieg vom Zaun.
Nachdem er die »Mehlwürmer« genossen und zum Teil hitzige Debatten mit seinen Tischnachbarn geführt hatte, setzte sich Maurer zu ihnen. Er konnte höchstens Ende 20 sein. Eher klein und schmächtig, strömte er gleichwohl die Energie eines Wirbelsturms aus. Seine leicht gekrümmte schmale Nase war von blitzenden blauen Augen flankiert. Man werde gleich zu einer Wehrübung in den Steinbruch aufbrechen, erklärte er, und wenn sie Lust hätten, könnten sie ja mitkommen, um sich die Sache anzusehen und vielleicht ein paar Gespräche zu führen.
Norbert und Sean sahen sich an und nickten. »Machen wir gern«, erwiderte Norbert, denn Maurer sprach gut Englisch. »Aber was heißt hier 'ansehen' ..? Wir machen mit!«
»Ja, wenn Sie es wünschen …« sagte der Chef-Partisan der Republik langsam, wobei er nun doch etwas überrumpelt oder ungläubig wirkte. »Sind Sie altgediente Soldaten ..?«
Angerschmied erklärte ihm die Sache mit dem Gutshof und der Jagd im Hessischen Ried und dem wenn auch häufig stockendem Befreiungskampf in Irland. Sie hätten ihre persönlichen Schußwaffen dabei und hätten sich ohnehin schon ermahnt, sie müßten wieder einmal trainieren, um nicht zu sehr aus der Übung zu kommen. In ihrem Journalistenalltag in der Schweiz schössen sie ja höchstens mal auf eine Zeitungsente …
Das fand Maurer sogar witzig. Er gluckste, erhob sich jäh und schleuderte mit einer ausholenden Armbewegung so etwas wie »Auf geht's!« in den Raum.
Wenig später hatten sich, den Planwagen eingeschlossen, drei Fuhrwerke und immerhin rund 400 DuhnerInnen im Steinbruch versammelt. Alle, ob Mann oder Frau, trugen Hosen, jedoch zivile. Solche »Wehrübungen« fanden in jedem Dorf der Mollowina mehrmals jährlich statt. Maurer war bemüht, sie reihum so oft wie möglich zu besuchen, um Ratschläge zu geben und Anregungen zu empfangen. In der Regel wurden sie vom örtlichen Schiedsrat geleitet, im Falle Duhn eine Frau um 40, Roza Grigorescu. Der örtliche Schiedsrat stand dem Dorfrat vor, der, aus je zwei GO-Vertretern gebildet, ungefähr monatlich zusammen-kam, um die Arbeit und das Bauen im Dorf zu koordinieren. Die stämmig gebaute Roza schien Genauigkeit zu lieben, wies sie die Schweizer doch darauf hin, ihre eigene GO schicke natürlich nur einen Vertreter in den Dorfrat, weil sie selber ja mitzähle. Ihr Amt belief sich keineswegs auf GO-Vertretung und Versammlungs-leitung. In dringenden Fällen des Dorflebens schreckte man den Schiedsrat oder die Schiedsrätin aus ihrem Mittagsschlummer; er oder sie hatte dann zu entscheiden, was zu tun sei. Einen feindlichen Überfall hatte Duhn allerdings noch nie erlebt.
Heute wurde die Duhner »Wehrübung« von Maurer geleitet. Für den Schweizer oder die Bulgarin war diese Bezeichnung etwas mißverständlich. Maurer hatte es ihnen unterwegs auseinandergesetzt. Potemkinsche feindlich gehaltene Hügel zu erstürmen, sei leicht veraltet, während sich der durchaus zeitgemäße Häuserkampf im Dorf verbot, weil die Knallerei mit den Platzpatronen und das Verständigungs-Gebrüll der KämpferInnen für soundsoviele Herzanfälle bei Greisen, traumatisierte Kinderchen und Paniken in den Hühnerhöfen gesorgt hätten. Da bliebe nicht viel mehr als Waffenkunde, Zielschießen, Nahkampftraining und theoretischer Unterricht über einige bewährte Kampftaktiken des Partisanenkrieges. Jetzt fing Maurer mit Gymnastik an. Die Schweizer fanden seine Übungen nicht übel, weil sie geschmeidig und locker machten. Die Einheimischen zeigten sich vor allem von ihrem Verteidigungsrat selber angetan, weil er alle Übungen vor- und mitmachte und dazu noch mit ein paar akrobatischen Einlagen glänzte, mit denen er seine Erläuterungen oder Anekdoten würzte, etwa einem unvermuteten Flickflack, also einem Überschlag rückwärts, mit dem er nach wenigen Sekunden augenzwinkernd wieder fest auf den Sohlen seiner womöglich von Mihail Bak gefertigten halbhohen Schnürstiefel stand. Diese Einlagen fand Sean etwas affig, aber das behielt er natürlich, einstweilen, für sich. Man mußte die Herzen der Massen gewinnen oder stabilisieren, und der junge Chef-Partisan tat es eben, indem er sich wie ein herabstoßender jagdmüder Wanderfalke jäh in den lehmigen Steinbruchboden pflanzte und nur noch leise zitterte. Hatte er dann gezwinkert, verzog er für Sekunden keine Miene mehr. Das kam an.
Die Nahkampfübungen zeigten einen deutlichen fernöstlichen Einschlag. Wie ihnen Roza Grigorescu zuraunte, hatte Maurer einmal, noch von Sofia aus, für Monate Japan bereist. Im Mittelpunkt der taktischen Unterweisung standen Täuschung und Fallenstellerei. Dabei erinnerte Maurer auch an das schlichte Mittel, einen Gegner vom eigenen Versteck abzulenken, indem man irgendwo andershin einen Stein oder ein Brennholzscheit warf, ja nachdem, was gerade zur Hand war. Es sei oft wirkungsvoll, allerdings nicht mitten im Gefechtslärm. Mit diesem Hinweis bewies er wieder, daß er nicht ganz humorlos und selbstgefällig war. Andererseits hatte es bei den Nahkampfübungen einen kleinen für Maurer peinlichen Zwischenfall gegeben. Zwei miteinander ringende jüngere Frauen waren unbeabsichtigt in einen Horst mit Brennesseln gefallen, worauf sie aufkreischend voneinander abließen – nur um sich nach dem Aufrappeln gleich wieder in die Arme zu fallen und sich dabei wegen des Mißgeschicks fast totzukichern. Darauf sandte Maurer seine Augenblitze zu den beiden Kämpferinnen und fuhr sie an: »Meint ihr vielleicht, Krieg sei ein Ringelreihen? Ich darf doch um etwas mehr Disziplin bitten!« Prompt stemmte die Rothaarige von den beiden ihre Arme in die Hüften, musterte den Rat der Verteidigung ausgiebig und abfällig und sagte langsam: »Wie redest du denn mit
uns ..?« Maurer entschuldigte sich sofort.
Im Grunde sei er ein anständiger Kerl, meinte Roza später zu Norbert und Sean, nur »ein bißchen zu männlich und eitel« für ihren Geschmack.
Die Waffenkunde nutzte Maurer vor allem dazu, einen Schwung neuer Gewehre vorzustellen, die er mitgebracht hatte und der Duhner Schiedsrätin zu übereignen gedachte. Sie würde sie auf die örtlichen GO's verteilen. Es befanden sich sogar ein paar Handgranaten unter der Gabe, mit denen sich auf einen Schlag gleich ein Dutzend Angreifer in den Himmel schicken ließen. Die Schweizer spürten, Roza Grigorescu war es nicht ganz geheuer bei diesen Miniaturbomben. Das konnten sie gut nachvollziehen.
Für empfindliche oder pazifistische Gemüter hätte bereits das Zielschießen, mit dem die Wehrübung abgeschlossen wurde, etwas Makaberes gehabt. Man hatte Zielscheiben mitgebracht, die »natürlich« die menschliche Gestalt nachahmten. Wer das Herz traf, heimste beifälliges Gemurmel oder ein Sonderlob Maurers ein. Norbert traf das Herz wiederholt, und es war Maurer anzusehen, in seinen blauen Augen wuchs der hünenhafte hessische Jägersmann mit jedem Volltreffer noch mehr. Sean traf immerhin die Leber. Maurer hatte sich die Jagdflinten und auch die Pistolen der beiden Gäste angesehen und auch dabei seine Bewunderung nicht verhehlt. Es seien schöne Waffen, und sie seien auch gut gepflegt. Eben darum ging es am Ende der Schießübung. Jeder mußte die von ihm benutzte Waffe reinigen und fetten. Maurer kontrollierte das Putzen und ließ es nicht an der abschließenden Ermahnung fehlen, diese Sorgfalt auch dann walten zu lassen, wenn er, der Rat aus Kusmu, nicht anwesend sei.
Sean hatte inzwischen vorausblickend seinen Skizzenblock aus dem Planwagen geholt und einen Felsvorsprung erklommen, um den »Abzug der KämpferInnen aus dem Steinbruch bei Duhn« zu skizzieren. Das Bild sollte später noch so manchen Betrachter erheitern. Sogar Maurer pinnte es in seinem Büro an die Wand.
Im Dorf angekommen, lenkten viele DuhnerInnen ihre ersten Schritte zu dem Brunnen an der Kirche, um einerseits zu trinken, andererseits den Schweiß von ihrem Körper zu spülen. Manche, die frische Wäsche, Waschlappen und Handtücher im Rucksack hatten, zogen sich zu diesem Zweck völlig aus. Manche säuberten sogar die Falten und Kerben ihrer Gesäße und Geschlechtsteile, ohne sonderliche Aufmerksamkeit zu erregen. Nur den Schweizern fiel es auf. Beim Abendbrot in der GO Blasebalg erklärte man ihnen, der Dorfbrunnen sei eine beliebte Stätte für die Körperwäsche. Es sei viel zu aufwendig, für jedes Bad ein Faß Wasser in die GO zu karren; da steige man bequemer gleich in den Brunnen. Maurer ergänzte, die Meidunen seien nie ein ausgesprochen prüdes Volk gewesen, und die Schriften freizügigen Charakters, die die Luchse aus Berlin oder London bezogen hatten, hätten das Ihre dazu getan. Im übrigen härte die Freizügigkeit natürlich erfreulich ab. Er selber wüsche sich, in Kusmu, auch des winters zumeist im Freien und kraule hin und wieder durch den Kus. Er sei sehr selten erkältet und gottseidank auch sonst nicht häufig krank.
Maurer hatte in der GO Blasebalg alte Freunde und blieb auch übernacht. Bald nach dem Abendbrot wurde in einem Hof der GO ein Lagerfeuer entfacht. Darum hatten Jugendliche gebeten, die heute erstmals an einer Wehrübung teilgenommen hatten, und sie hatten auch einen Stapel morscher Zaunpfosten herbeigekarrt, die sie nun nach und nach in die Flammen schoben. Da der Hof zur Straße lag, zog das Feuer auch Leute aus benachbarten GO's an. Sie holten sich einen Stuhl oder eine Kiste herbei oder schlenderten umher. Daneben strichen etliche Katzen über den Hof. Besondere Getränke gab es nicht, aber Musik, denn es fanden sich auch zwei Bouzoukis und eine Fidel ein. Stimmten ihre SpielerInnen bekannte Volks- oder Partisanenlieder an, fielen oft Dutzende von Dörflern ein, es war recht eindrucksvoll. Der Geiger war ein vollbärtiger älterer Mann, der über eine beinahe schmelzende Baßstimme verfügte. Die Dunkelheit im Dorf verlieh ihr einen geheimnisvollen Zug.
Es blieb nicht aus, daß man in einer Gruppe um Maurer und die Gäste aus der Schweiz vom Krieg und von der Revolution sprach. »Im Grunde sind unsere militärischen Anstrengungen in der Tat Sandkastenspiele«, gab ein derber Kerl in Norberts Alter mit einem spöttischen Seitenblick auf Maurer zu bedenken. »Wenn die nur wollen, blasen die uns wie Entenflaum von der Landkarte.«
Norbert sah Maurer fragend an. Der verstülpte eine Weile nachdenklich seine Lippen, dann nickte er. »Barbu hat leider nicht ganz unrecht. Unsere Revolution verdankt sich einer seltenen günstigen Zwischenlage, die die Luchse zu nutzen wußten. Wir hatten Fürsprecher im bulgarischen Königshaus, und wir gewannen die Russen, an denen sich der Sultan gegenwärtig nicht zu vergreifen wagt. Aber schon zettelt Petersburg in der Mandschurei Streit mit Japan an. Die Deutschen verwüsten Südafrika. Und ringsum, in Mitteleuropa, schreiten Aufrüstung und kapitalistische Krise voran. Alles riecht nach großer Prügelei, und wenn uns andere revolutionäre Bewegungen und neugeschaffene Republiken in europäischen Ländern nicht entlasten, werden wir zwischen den Schlägern aufgerieben.«
»Wie stehen denn die Chancen, solchen Beistand zu bekommen? Wie schätzen Sie das ein?« wollte Norbert nach kurzem Schweigen von Maurer wissen.
Maurer beugte sich leicht zum holprigen Boden des Hofes. »Sie sind ja recht groß gewachsen, Herr Angerschmied«, sagte er dabei. »Die Chancen stehen ungefähr so.«
Er hielt seine flache Hand in Höhe der Fußknöchel Norberts und bekräftigte diese Demonstration mit einem säuerlichen Nicken, als er sich wieder auf seinem Stuhl zurücklehnte.
Norbert nickte ebenfalls, ohne noch einmal das Wort zu ergreifen. Der dunkle Hof leerte sich allmählich. Das Feuer sank zusammen.
Plötzlich griff Maurer in eine Brusttasche seiner groben grauen Leinenjacke und zog ein gefaltetes Papier hervor. »Kennen Sie Mihail Baks berühmte kurze Ansprache Wer sind die Feinde des Menschen?, Herr Angerschmied ..? Gut, dem läßt sich abhelfen. Mihail verfaßte sie vor rund zwei Jahren unter dem Eindruck einer Begegnung mit einem verkrüppelten Kind in einem unserer Gebirgsdörfer. Das Kind heißt Constantina, ein Mädchen. Die Ansprache findet sich neuerdings in einem Buch von Mihail, aber wir haben sie von Fila Peptan auch ins Englische übersetzen und in unserer Druckerei in kleiner Auflage abziehen lassen, für ausländische Diplomaten oder eben Gäste wie Sie. Ich habe stets ein Blatt mit der Übersetzung dabei, für alle Fälle. Das Original kann ich auswendig, wie so mancher in unserer Republik.«
Damit reichte er Norbert das Blatt. Der hielt es etwas näher ans zusammengesunkene Feuer, überflog es und las dann den Text gleich laut vor, damit auch Sean etwas davon hätte.
>>Wer sind die Feinde des Menschen? … Ihr wißt es natürlich. Die Feinde der Menschen sind Hunger, Krankheit, Kälte oder Gluthitze, Unfallgefahr, Einsamkeit, Wahnsinn oder Verbitterung, alle gipfelnd im Tod. Was aber geschieht über weite Strecken auf diesem Planeten? Als seien es der Feinde noch nicht genug, bekämpfen sich die Menschen untereinander. Klasse gegen Klasse, Reich gegen Arm, Weiß gegen Schwarz, Stark gegen Schwach, Jeder gegen Jeden – der Krieg auf allen Ebenen reißt nie ab. Das ist mit ungeheuren Kosten aller Art verbunden, Beschämung und Schuldgefühle eingeschlossen, allerdings auch mit Triumphgefühlen gewisser »Sieger«, die sich an der sozialen Zerfleischung bereichern. Doch in der Mollowina können wir dies alles nicht gebrauchen. Wir wünschen es nicht, es soll draußen bleiben. Wir benötigen unsere bescheidenen Kräfte, um Dreschmaschinen zu bauen, Brunnen zu bohren und Tag für Tag unsere Suppentöpfe zu füllen. Wir benötigen sie ferner, um unsere Kranken zu heilen, unsere Greise zu betreuen, unsere treuen Pferde zu pflegen, unsere Niedergeschlagenen zu trösten, ja selbst um einem Menschen, der sich als häßlich empfindet, vielleicht etwas mehr Glück zu ermöglichen. Wir sind weißgott keine heile Welt, aber eine Welt des Miteinanders, des Mitleids und der Solidarität – also des Heilens.<<
Seans Nachbarin auf dem Dachstuhl war eine sehnige Frau um 50, die mal wie eine Dohle, mal wie eine schwarze Katze auf dem Gebälk umherhüpfte. Sie hatte ihn bereits vermehrt mit Seitenblicken bedacht, aber nicht etwa, weil sie mit dem blonden Lockenkopf anzubändeln gedachte. Sie nagelten heute, am ersten vollen Tag der Schweizer im Dorf Noravita, die Dachlatten des neuen Dorfgemein-schaftshauses auf. Die Latthämmer zum Nageln waren recht schwer, obwohl sie auf einer Seite des Hammer-kopfes schnabelförmig zuliefen. Sean trug seinen Hammer, wie jeder hier, fachmännisch in einer Schlaufe am Gürtel, sofern er nicht gerade einen der 10 Zentimeter langen Nägel ein- beziehungsweise krummschlug. Deshalb guckte ja diese Stanca, seine Nachbarin, weil er ein Krummschlä-ger war. Jetzt kam sie zu ihm und meinte nachsichtig:
»Es geht besser, wenn du den Hammer einfach fallen läßt.«
Sean schluckte und äugte unter sich, wo gerade ein junger Zimmermann an dem Sägebock schaffte, der auf dem zukünftigen Dachboden stand. Er nickte hinunter und sagte zu Stanca: »Das wird ihm wenig gefallen, wenn ich meinen Hammer einfach fallen lasse!«
Sie verdrehte die Augen und lächelte. »Ich meine damit, es sei günstiger, den Hammerkopf nicht krampfhaft auf den Nagelkopf zu drücken, wie du es machst, vielmehr locker auf diesen fallen zu lassen.« Dazu sei es freilich erforderlich, den Stiel des Hammers weit hinten zu umfassen, statt den Kopf des Hammers fast zu erwürgen, wie Sean. Der Hammer müsse frei schwingen.
Ja, aber dann träfe er vorbei! wandte Sean ein.
»Nein, das tust du nicht – nur, wenn du Angst hast.«
Sie machte es ihm vor. Mit vier bis sechs federnden Schlägen trieb sie 10er Nägel ein, für die er bislang, sofern er sie nicht gleich krumm schlug, mindestens 20 Schläge brauchte!
Sie winkte beschwichtigend ab, ehe sie sich wieder zu ihrer Stelle begab. »Die Meister fallen nicht vom Himmel, höchstens vom Dach …«
Das neue Dorfgemeinschaftshaus war nicht völlig »rund«, wie Redakteur Charly im Rathaus behauptet hatte, sondern zwölfeckig. Nur an der Westseite, wo bis vor kurzem die Ruine der Dorfkirche stand, gab es einen kleinen Anbau, der gleichsam die Bühne des neuen Gebäudes verlängerte. Die Kirche war schon vor der Revolution bei einem Gewitter zerstört worden. Ihre Natursteine fanden sich nun zum Teil in den Grundmauern und Wänden des Neubaus wieder. Er wirkte recht gescheckt, aber gerade das gefiel den Dorfleuten. Selbst die niedrigen, fast unter den Deckenträgern ausgesparten Oberlichter des Zwölfecks saßen nicht wie an der Schnur aufgezogen, sondern taumelten leicht. Der Bau war eingeschossig, wenn auch bis zur Decke knapp fünf Meter hoch. Er hatte im Durchmesser immerhin 18 Meter und sollte rund 600 Sitzplätze bieten. Das mäßig steile Dach lief in der Mitte in einem Türmchen aus, das derzeit noch ungedeckt war. Hier würde demnächst die alte Kirchenglocke schaukeln. Was den Innenausbau anging, schwebte den Noravitalen eine Art gedecktes Griechisches Theater vor. Die Stufen sollten sogar abschlagbar sein, damit die »Käseglocke«, wie der Neubau inzwischen hieß, hin und wieder auch als Tanz- oder Ausstellungssaal ver-wendet werden konnte. Es war ein ziemlich aufwendiges und auch sonst fragwürdiges Projekt, und die LDV hatte es nur »als Versuchsballon« genehmigt. Bislang kamen regelmäßige Vollversammlungen ganzer Dörfer nicht in Frage: dafür waren die Dörfer der Mollowina, mit 700 oder gar 1.000 Einwohnern, schon zu groß. Das begriffen viele jedoch als Nachteil, und man strebte Abhilfe an.
Am heutigen Feierabend tappte der muskulöse irische Zeichner doch leicht gerädert zur GO Kürbiskern, wo man ihnen einen hübschen Stellplatz zwischen dem Garten der GO und einer großen Wiese überlassen hatte. Der schmale Flecken diente zuweilen als Lagerplatz für Baumstämme. Auf der Wiese grasten ihre Braunen im Verein mit drei Gäulen aus dem Dorf. Günstigerweise wurden Wiese, Garten und Holzplatz von einem Rinnsal durchquert, in das Sean nun gleich seine müden Füße stellte. Offenbar waren aufgenagelte Dachlatten keine Treppe: das Stehen und Balancieren auf ihnen schmerzte mit der Zeit in den ganzen Beinen, quälte die Bandscheiben und machte die Füße schwer als Blei. Norbert nickte ihm aus dem Wagen aufmunternd zu, ohne sich im Schreiben zu unterbrechen. Die Plane hatte der Schnauzbart an beiden Wagenseiten hochgerollt, und ihre beiden großen Koffer dienten ihm, gestapelt, als Schreibtisch. Er saß an seinem ersten Artikel.
Am nächsten Tag würde Sean zudem seine Arme bedauern. Er würde erkennen, Dachziegeln haben ihr Gewicht, vor allem, wenn sie, in Kette, »bergauf« geworfen werden mußten. Immerhin winkte ihm für den übernäch-sten Tag eine beinahe sensationelle Entschädigung. Das wußte er aber noch nicht.
Sean hatte seine verschwitzte Kleidung ins Rinnsal geworfen und mit einem Stein beschwert. Nun, nachdem er sich selber gesäubert hatte, wusch er auch die Kleidungsstücke. Er nahm es dabei nicht so genau, denn die RepublikanerInnen verfuhren nicht anders, wie die Schweizer inzwischen mitbekommen hatten. Seife oder dergleichen verschmähten sie in diesem Land. Das würde nur Wasser und Erdreich verunreinigen, hatten sie gesagt. Für das eigene Kopfhaar nahmen sie hin und wieder heißes Wasser, sonst aber nicht. Ein paar bleibende Flecke in ihren gewaschenen Hemden und selbst Unterhosen machten ihnen nichts aus. Für Handtücher, Bettwäsche, Vorhänge etwa veranstalteten viele GO's regelmäßig kollektive Waschstunden, die sie gern bis zum Klamauk trieben, damit diese Verrichtung nicht so stumpfsinnig sei. Im Winter sei das Vergnügen allerdings eher gering, das übersähen manche Gäste. Man schiebe die »große Wäsche« möglichst bis zum Frühjahr auf.
Nachdem er seine ausgewrungenen Sachen über eine Leine geworfen hatte, ging Sean mit Norbert zum Abendbrot. Bei diesem erfuhren sie von einem älteren Kürbiskernler, der ihnen zufällig gegenüber saß, das Türmchen der »Käseglocke« erhielte sogar eine neu angefertigte Wetterfahne. Es stellte sich heraus, der von Bartstoppeln und Narben übersäte Mann fertigte sie derzeit selber an. Er war früher Dorfschmied gewesen – hauptsächlich für den Gutsherrn von Noravita, gegen Hungerlohn. Natürlich habe der Gute nach dem Umsturz rasch das Weite gesucht.
»Was durfte er denn mitnehmen?« wollte Norbert mit Seans sprachlicher Unterstützung wissen.
»Na, seine Gräfin, seine Brut, seinen Jagdhund, sein Tafelsilber, sein Bargeld und ein paar wertvolle Möbel, soweit sie auf zwei Fuhrwerke paßten. Mehr nicht.«
»Bekam er für seinen Hof und die Äcker eine Entschädigung?«
»Wo denken Sie hin! Dafür hatte die neue Republik kein Geld. Außerdem war es ja sowieso alles gestohlen. Die erben sich ihre Güter oder ganzen Dörfer von Jahrhundert zu Jahrhundert schön zu, aber wo der Segen ursprünglich einmal herkam, danach fragt kein Schwein … Erst der Luchs fragt danach«, grinste er.
Die Schweizer nickten zwinkernd, während sie ihrem Gegenüber mit ihren Bechern Brunnenwasser zutranken. Dann kam Norbert noch einmal auf die Wetterfahne zurück. Wie sie denn aussehe, was sie darstelle? Von der Nord- und Ostseeküste her kenne er sogar Fische und Schwäne als Kirchenwetterfahnen, aber das sei es ja wohl nicht ..?
Der Mann hob seine schruntigen Hände leicht vom Tisch und erwiderte stolz wie Oskar: »Selbstverständlich stellt sie einen Luchs dar.«
Nachdem sie beim Abwasch mitgeholfen hatten, zogen sich die Schweizer, müde wie sie beide waren, zu ihrem Wagenplatz zurück. Sie saßen noch ein Weilchen auf einem verwaisten Baumstamm, der vielleicht, für Bauholz, zu krank oder krumm gewesen war. Es wurde dunkel. Ringsum machten etliche Vögel Musik. Allerdings ließen sich auch ein paar Elstern vernehmen, deren höhnisches Meckern eher an den Genfer See zu Doktor Frankenstein gepaßt hätte.
»Es heißt, sie seien diebisch«, sagte Sean. »Auch der Gutsherr war ein Räuber. Nur in dieser Republik scheint man sich im Paradies zu wähnen. Man läßt die schwer zu beschaffenden Schloßschrauben und die Bohrwinde mit ausgestelltem Griff zum Kurbeln und erlesen gearbeitetem Bohrfutter übernacht auf der Baustelle liegen, wenn auch in einer regendichten Holztruhe; man schließt in der GO nicht eine Tür ab; ja selbst das Rathaus in Kusmu nicht, wie ich hörte, dabei hängt bei der Bildungsrätin diese Cosette zum Abküssen an der Wand, die unter Hehlern sicherlich einige tausend Franken einbringt. Klaut denn hier keiner? Haben die keine Angst vor Diebstahl?«
Norbert sah ihn belustigt von der Seite aus an. Sean schien es aber ernst zu meinen. Also stellte Norbert fest: »Die Angst vor Diebstahl dürfte in diesem Land gegenstandslos sein. Es gehört doch sowieso allen alles, von der persönlichen Habe einmal abgesehen. Was sollte da einer stehlen? Klaut aber einer die Schloßschrauben und hantiert mit ihnen in seiner GO, kommen garantiert die Genossen an und sagen: Wo hast du denn diese schönen Schrauben her? Die bringst du mal schön zurück!«
»Das stimmt«, räumte Sean ein. »Da waltet jene 'soziale Kontrolle', von der Mister Charly auf der Rathaustreppe sprach.«
»Der Kriegsrat erzählte mir vorgestern am Lagerfeuer sogar, Wilderei in den Grenzwäldern sei äußerst selten. Will sich aber ein Eindringling Cosette aus dem Rathaus unter den Nagel reißen, muß er sich schon sehr gut verkleiden.«
»Der Kriegsrat …«, murmelte Sean und schüttelte grinsend seine Locken. »Der oberste Turner dieser Republik …«
»Im übrigen habe ich den Eindruck, unter diesen Leuten hier ist die Habgier, die wir aus unseren Breiten kennen, kaum verwurzelt. Sie finden kein Glück darin, genausoviel, mehr oder wenigstens anderes zu besitzen als der Mitbürger. Ihr wesentlicher Besitz sind wahrscheinlich Eigentümlichkeit, Persönlichkeit, Selbstvertrauen, und wer sollte ihnen die rauben?«
»Na na na«, sagte Sean. »Jetzt schreibst du aber Zeitung. Du färbst schön!«
Norbert lächelte. »Ja sicher! Das Häßliche spornt niemanden an.«
Bald darauf gingen sie zum Wagen, ließen die Plane herab und streckten sich auf den Laken und unter den Bettbezügen aus, die ihnen die Rätin für Auswärtiges aus ihrer GO mitgegeben hatte. Sie könnten ihre Bettwäsche jederzeit bei einer anderen GO gegen frische eintauschen, hatte sie erklärt. Also mußten sie sie nicht unbedingt waschen, auch ein Glück.
Sean lud im Erdgeschoß der »Käseglocke« gerade Sägeabfall auf einen Handkarren, man benötigte Platz. Da kam aus dem Dorf ein ihm unbekannter älterer Mann gelaufen und rief schon von der Straße her:
»Bogdan, Luigi ist krank!«
Bogdan, ein dürrer, aber biegsamer Lulatsch Anfang 30, war der örtliche Schiedsrat. Er unterhielt sich unweit des Handkarrens gerade mit ein paar Zimmerern oder Tischlern über den Innenausbau. Jetzt unterbrach er sich und fragte den keuchenden Boten:
»Was hat er denn – Luigi?«
Wie sich herausstellte, war Luigi ein halbwegs flotter mausgrauer Wallach, den die Noravitaner wechselweise zum Reiten benutzten. Jetzt wälze er sich schon seit bald einer Stunde auf der Koppel herum, schwitze wie ein Wasserfall und finge bereits damit an, sich mit den Hinterhufen in den Bauch zu treten, sagte der Mann. Es sehe nach einer Kolik aus. Doch niemand von allen, die er inzwischen befragt habe, könne sich die Ursache dieses Anfalls erklären. Jedenfalls litte Luigi stark, und sie könnten ihn ja nicht gleich auf Verdacht erschießen – »das einzige Reitpferd im Dorf!«
Bogdan wrang seine Hände, musterte das schnaufende Gesicht des Botens bekümmert und prüfend zugleich und vergewisserte sich: »Niemand hat eine Idee? Wenigstens irgendeine Arznei ..?«
Der Mann schüttelte seinen Kopf.
»Dann muß Raluca her!« knurrte Bogdan finster entschlossen. »Und zwar sofort!«
»Und wie stellst du dir das vor? Hast du neuerdings ein paar Brieftauben an der Hand? Der Witz bei der Sache ist ja leider, daß Luigi unser einziger halbwegs schneller Gaul ist! Bis da einer auf einem von den zwei anderen oder von den zwei Zugpferden dieser Schweizer auch nur in Kusmu eintrifft, fährt Luigi bereits ins Himmelreich ein. Da braucht der Bote mindestens einen halben Tag.«
Bis Kusmu waren es ungefähr 25 Kilometer, das wußte Sean. Und bei dem Namen Raluca hatte er sofort die Ohren gespitzt. Die kannte er ja ebenfalls: die schwarzschopfige Zureiterin vom Gestüt, die mit dem Schimmel und der hübschen bunten Weste! Er erinnerte sich, sie war auch Tierärztin.
»Ja, so ein Mist!« bog sich Bogdan, Hände in den Hosentaschen, hin und her, als habe er die Kolik bereits selber. Er sah hilfeerscheischend in die Runde. »Und was machen wir jetzt ..?«
Plötzlich hellte sich die Miene eines Zimmerers mittleren Alters auf, ein brauner Krauskopf mit der Schulterbreite von den Oberlichtern, die ringsum unter der Saaldecke saßen. Er nickte hinter sich Richtung Kus und sagte forsch:
»Wir nehmen den Vierer von den Wieseln! Er liegt ohnehin schon im Wasser, ich habe es vorhin gesehen. Hoffentlich ist er noch da.«
»Gute Idee, Voicu!« lobte der Schiedsrat mit sichtlicher Erleichterung. »Ihr fliegt da hinunter, das dauert keine zwei Stunden. Natürlich seid ihr dann ebenfalls halbtot. Aber bevor sich Raluca auf ihren feurigsten Araber schwingt, soll sie euch ein Gespann geben. Mit dem fahrt ihr dann in aller Gemütlichkeit mitsamt eurem Kanu wieder nach Hause. Sie kann das Gespann ja später selber zur Rückfahrt benutzen – sie bindet ihren Araber einfach hinten an … Sehe ich alles richtig?«
»Und wenn Raluca gar nicht da ist, weil sie eine Besorgung zu machen hat?« warf eine Tischlerin ein.
»Ja, Mensch«, stöhnte der lange Schiedsrat, »das ist Pech! Dann sollen sie die Bimmel des Gestüts läuten, da wird sie schon angelaufen kommen.«
»Und wenn sie in den Rezoven oder in Burgas ist?«
»Himmelkreuzdonnerwetter!« knurrte Bogdan ungehalten. »Dann sollen sie die Glocken der Kathedrale läuten … Also, wer fährt ..?«
Da sich, neben Voicu, auf Anhieb nur zwei weitere Personen meldeten, ein Mann und eine Frau, sah Bogdan mit stechenden Augen weiter in die Runde. Sean witterte seine Chance und überlegte nicht lange. Er sagte lässig:
»Ich mache mit.«
»Na also«, rieb sich Bogdan die Hände. »Kannst du mit dem Stechpaddel umgehen?«
»Gut genug. Auf dem Zürichsee paddeln wir öfter.«
Bogdan nickte befriedigt. »Sind alle einverstanden? Na prima. Auf gehts!«
Er wedelte mit dem Handrücken, und die vier Wasser-boten trabten zum Kus. Auf dem Weg dort hin holte einer zwei Feldflaschen mit Brunnenwasser aus einem Haus, ein anderer ließ sich in der GO Wiesel die vier Stechpaddel aushändigen. Das Kanu war an einem Bootssteg festgemacht. Sie hockten sich gemäß ihrer Absprache (LinkshänderInnen!) hintereinander hinein und stachen ihre Paddel, jeweils zwei Leute auf jeder Seite, nach Art eines Zickzackstichs in den bräunlich glitzernden Fluß, der in Noravita noch keine fünf Meter breit war. Umso günstiger war hier die Strömung.
Raluca machte große Augen, als sie unter den vier Leuten, die vom Kusufer her ins Gestüt keuchten, den blonden Lockenkopf aus der Schweiz erkannte. Sie war gerade mit anderen an einer Kutsche beschäftigt, die einen Radbruch erlitten hatte. Sie richtete sich auf, erwiderte den Gruß der Boten und hörte sich ihre Erklärung an, ohne einstweilen etwas zu sagen. Dem Schweizer zwinkerte sie aber neckisch zu. Sie trug kurze Hosen und eine blauweiß gestreifte Leinenbluse mit Stehbündchen, die Sean vielleicht nur deshalb an die Christliche Seefahrt erinnerte, weil er gerade einen Landesrekord im Kanadier-Vierer aufgestellt hatte. Das behaupteten jedenfalls seine MitstreiterInnen – uhrenlos wie er.
Als der Bericht geendet hatte, seufzte Raluca tief und überdachte die Lage so geschwind wie sie konnte. Das Türmchen auf dem ehemaligen Herrenhaus – das nun der GO Gestüt des Pferdedorfes als Gemeinschaftshaus diente – hatte sogar eine Uhr. Danach war es schon nach 12. Die Bratkartoffeln, die sich bereits in der Mailuft des gepflasterten Hofes ankündigten, würde sie also verpassen.
»Na gut«, sagte sie mit einem säuerlichen Lächeln, »ihr habt gewonnen. Ich breche gleich auf.«
Sie wandte sich zu der fahruntüchtigen Kutsche. »Marian, sei doch so gut, und mache den Genossen ein Gespann mit einem Wagen fertig, wo das Kanu draufpaßt … Selbstver-ständlich empfiehlt es sich, die Genossen essen erst einmal bei uns, bevor sie starten, sonst kommen sie nicht lebendig in Noravita an.«
Da Marian nickte, verabschiedete sie sich sogar mit Handschlag von den Boten, was wohl auch einen Glückwunsch darstellen sollte. Als ihr aber Sean seine Hand hinstreckte – schon mit der Miene eines Ritters, der sein Handtuch wirft – ließ sie sie in der Luft hängen und verkniff ihre dunklen Augen.
»Können Sie zufällig reiten, Mister O'Brien ..?«
Verdutzt, wie er war, verschlug es Sean erst einmal die Sprache. Immerhin verstand er die Frage, obwohl die Zureiterin lediglich für »Mister« ihr Englisch bemüht hatte. So bejahte er die Frage und fügte auch noch hinzu, in Irland habe er sogar streckenweise ein eigenes Pony besessen.
Sie lächelte. »Wenn es so ist, kommen Sie mit mir, bitteschön. Sie kriegen einen flotten Araber, der Sie wie auf Flügeln tragen wird. Schließlich kann mir niemand zumuten, allein zu reiten und dabei von Wegelagerern angefallen zu werden oder vor tödlicher Langweile aus meinem Sattel zu kippen.«
Die meisten Leute um sie herum kicherten, Sean eingeschlossen. Doch Raluca bedeutete ihm bereits mit einem Wink ihres eigensinnigen und offensichtlich nicht völlig unherrischen Kopfes, ihr zu einem langgestreckten Stallgebäude zu folgen. Sie beeilten sich jetzt. Sie sattelten einen Fuchs und einen Schimmel, den Sean bereits flüchtig kannte, und führten die Tiere zur Vortreppe des Haupt-hauses. Hier verschwand Raluca noch einmal, um ihre Arzttasche, zwei Feldflaschen und etwas Trockenproviant zu holen. Sean kraulte derweil den beiden Pferden die edlen Schädel und schüttelte dabei selber den eigenen Kopf. Nach wenigen Minuten war Raluca wieder da. Sie stiegen auf, verließen den Hof und fielen auf einem Feldweg Richtung Westen sofort in Trab.
Um es nicht zu verschweigen und nicht in die Länge zu ziehen: Nach einer guten halben Stunde knutschten sich die beiden vom Sattel aus bereits ab, und noch am Abend desselben Tages lagen sie über dem Stall, in dem Raluca den Wallach Luigi behandelt hatte, im Heu.
Am nächsten Vormittag, nachdem Raluca noch einmal nach Luigi gesehen hatte, gingen sie gemeinsam zu Norbert auf den Holzplatz. Sie hatten sich einen Regenschirm geliehen, weil es zur Stunde aus bedecktem Himmel leicht nieselte. Das trübte freilich ihre verliebte Stimmung nicht.
Raluca, schon 41, hatte endlich wieder einmal Feuer gefangen, wenn sie sich auch nicht dazu hinreißen ließ, schwärmerische Wortergüsse von sich zu geben. Das lag ihr nicht. Die Zureiterin war stets kurz angebunden. Der deutlich jüngere Ire war es jetzt vielleicht auch, aber das mißfiel ihm keineswegs.
Als Norbert durchs Einstiegsloch des Planwagens die zwei eingehakten Personen unter dem Regenschirm des Weges kommen sah, bestätigten sich seine Ahnungen vom Vorabend. Er hatte die Tierärztin beim Abendbrot in der GO Kürbiskern getroffen, wo sie natürlich neben Sean saß. Bei ihrem Patienten Luigi vermutete sie einen Darmverschluß. Er käme wohl wieder auf die Beine. Später hatte Norbert erstmals eine Nacht allein im Planwagen verbracht. Er gönnte es Sean von Herzen.
Die beiden kletterten in den Wagen. Nach einem kurzen Gesundheitsreport der Tierärztin rückte Sean mit der Sprache heraus. Ob er Raluca in dem Fuhrwerk der PaddlerInnen, die beiden Araber im Schlepp, nach Kusmu begleiten und dort ein paar Tage bleiben könne ..? Dagegen hatte Norbert gar nichts, eher im Gegenteil. Für den Artikel benötige er ebenfalls noch ein paar Tage; er müsse ihn nämlich auch mindestens einen Tag unbesehen liegen lassen, um ihn hinreichend verbessern und ausfeilen zu können. Anschließend müsse er ihn ja sowieso auf dem Rathaus in Kusmu abtippen, vielleicht bei Charly; seine Handschrift könne er den Tribune-Leuten in New York schlecht zumuten. Und dann müsse er die Sendung dem Kurier nach Burgas aushändigen. Kurz und gut, bei dieser Gelegenheit könne er Sean wieder an Bord nehmen. So verblieben sie. Sean packte ein paar Sachen in einen kleinen Rucksack. Raluca warf Norbert noch einen Handkuß durchs Eingangsloch zu, und schon schwankte der Regenschirm von dannen.
Anderntags war das Wetter wieder schön. Nach dem Mittagessen erlaubte sich Norbert einen Streifzug durchs Dorf, bei dem er auch den Stand der Dinge an und in der neuen »Käseglocke« inspizierte. Man zimmerte hauptsächlich an den abschlagbaren Stufen des Auditoriums. Bogdan war da und erklärte Norbert, man könne sich ja eine gefaltete Strickjacke oder einen Schafspelz unterlegen, wenn einem die gehobelten und später mit Leinöl behandelten Kieferbohlen zum Sitzen zu hart seien. Der Schiedsrat sprach leidlich Englisch. Die Saaldecke wurde von mehreren hölzernen Pfeilern unterstützt, die beim Einbau des Auditoriums ausgespart werden mußten. In der Trennwand zwischen Bühne und Anbau war ein großer gemauerter Ofen eingebaut, mit dem man, laut Bogdan, im Winter notfalls heizen wollte. »Ah ja«, sagte Norbert mit einem Augenzwinkern. »Auf der Bühne thront Häuptling Bogdan, der Versammlungsleiter, mit durchglühtem Rückgrat, während sich die Leute auf den Rängen trotz ihrer gefalteten Strickjacken die Hintern abfrieren. War es so gedacht ..?« Der Glockenstrick von Schiedsrat grinste und zuckte mit den Achseln. »Nichts ist vollkommen, Herr Angerschmied … Aber Sie haben schon recht. Vielleicht findet sich bei der Errichtung des nächsten Dorfgemeinschaftshauses noch eine bessere Lösung.« Dann wollte er wissen, wie dem Journalisten die neue Wetterfahne gefalle. Sie gingen hinaus und sahen zum Türmchen empor.
»Doch, doch«, sagte Norbert, der sie noch gar nicht bemerkt hatte. »Sie macht sich ausgezeichnet. Wer hat schon einen Luchs auf der Kirche?!«
Der Luchs vom Dorfschmied sprang nicht gerade geschmeidig wie ein Delphin, aber man sah jedenfalls, was gemeint war. Die stummelschwänzigen Wildkatzen der Sorte Luchs sind kraftvoll und auffallend hochbeinig gebaut. Jetzt fiel Norbert auch die Stadtkirche von Bad Berka in Thüringen wieder ein, wo er als Knabe einmal Verwandte seiner Stiefmutter besucht hatte. Dort konnte der Klerus mit einem springenden Hirsch in der Wetterfahne glänzen. So habe es Herzog Ernst August (um 1730) ausdrücklich gewünscht, bei Strafe des Blattschusses für den zuständigen Propst …
Norbert wollte sich gerade verabschieden, als sich dem Dorfplatz und der Käseglocke ein Rollstuhl näherte. Er hatte zwei große Vorderräder und ein kleines Hinterrad und wurde, an einer Querstange der hohen Rückenlehne, von einem jüngeren Mann geschoben. Drin saß eine recht rosig wirkende Frau mit braunen Zöpfen, die Norbert auf ungefähr 50 schätzte. Sie hieß Anca. Sie wolle doch einmal »die sensationelle Rampe« prüfen, sagte sie. In der Tat wies der Eingang der Käseglocke, neben ein paar Treppenstufen, eine parallel zur Außenwand verlaufende ansteigende Rampe auf, durch die es Handwagen oder eben Rollstühlen möglich war, ins Erdgeschoß zu fahren, und die beiden Ankömmlinge machten es gleich vor. Dieser Test fiel zur allseitigen Zufriedenheit aus. »Das habt ihr prima gemacht!« sagte Anca und drückte dem Schiedsrat die Hand. Dann tauchte sie mit ihrem Helfer ins Gebäude.
»Sie war hier Landarbeiterin, wie so viele«, erzählte Bogdan. »Vor rund zwei Jahren hatte sie in ihrer GO – die es inzwischen gab – einen saublöden Unfall. Vom Heuwagen gefallen, wissen Sie ..? Seitdem ist sie vom Becken ab gelähmt und kann nicht mehr laufen. Für Kusmu war es nicht so einfach, den Rollstuhl aufzutreiben, aber es hat sich gelohnt. Sie ist beinahe aufgeblüht. Auf ebenem Boden fährt sie auch schon allein, indem sie um die Reifen greift und zieht. Auf schlammigen Wegen ist das natürlich nicht unbedingt ein Vergnügen. Wahrscheinlich läßt sich auch an den Rollstühlen noch einiges verbessern, wie bei den Heizungen … Ein paar Füchse der Mollowina experimentieren bereits in dieser Richtung, sie denken sogar an eine kleine Manufaktur für Rollstühle und ähnliche Fahrzeuge. Nur das liebe Geld, das liebe Geld ..!«
»Hätte ihr der Gutsherr ebenfalls einen Rollstuhl besorgt?«
»Nie und nimmer«, schüttelte Bogdan seinen Kopf. »Nie und nimmer!«
Norbert nickte und faßte noch einmal nachdenklich die Rampe ins Auge. »Freilich, man sieht auch in Zürich schon Rollstühle. Aber wenn ich es recht überlege, sind unsere Städte, Häuser, Zimmer gar nicht auf sie eingerichtet. Selbst Ihr Rathaus in Kusmu hat keine Rampe, oder sehe ich das falsch?«
»Es hat einen ebenerdigen Hintereingang. Aber die Innentreppe ist schon happig. Ich habe Anca einmal im Rollstuhl gemeinsam mit Mihail Bak bis ins Obergeschoß getragen, das war kein Kinderspiel. Zu allem Unglück ist Mihail auch noch fast nur halb so groß wie ich, da lag schon der nächste Unfall in der Luft«, beendete er seinen Einwurf – und grinste.
»Sie haben Humor«, stellte Norbert trocken fest.
»Ja, sicher!« rieb er sich die Hände. »Diese auf Rollstühle zugeschnittenen Einrichtungen, die Sie in den demokratischen Ländern vermissen, werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Noch zwei, drei größere Kriege und ungefähr eine halbe Million Automobile in jedem Land, dann sind die rollstuhlfahrenden Krüppel in der Mehrheit …«
Norbert lächelte etwas gequält, grüßte den Schiedsrat mit einer Bewegung der flachen Hand und machte sich auf den Rückweg zum Holzplatz. Sein Manuskript wartete.
Als er am nächsten Vormittag im »Dunghaus« der Kürbis-kernlerInnen saß, um Wallach Luigis Darmverschluß bei sich selber vorzubeugen, fiel ihm die Sache mit den Rollstühlen prompt wieder ein. Es war ihm peinlich. Er hatte keine Ahnung, wie halbgelähmte Rollstuhlfahrer-Innen mit der Zumutung fertig würden, ihre sogenannte Notdurft zu verrichten. Er wußte überhaupt so gut wie nichts von ihnen – von all diesen sogenannten Behinderten oder Eingeschränkten, die sich Gott oder die Natur oder die Zivilisation leisteten. Dabei war er Journalist! Wobei der eigentliche Skandal jedoch, das sollte man nicht vergessen, auf Seiten Gottes oder der Natur oder der Zivilisation lag. Er hatte die Behinderungen oder Einschränkungen schließlich nicht erfunden. Von ihm aus würde es auch ohne sie gehen, sogar besser. Er dachte an Ancas HelferInnen, an ihre ganze GO, und nicht zuletzt an Anca selber. Wieviel Elend, Bürde und Schuldgefühl war da auf engstem Raume nur deshalb versammelt, weil die Zivilisation unbedingt den Heuwagen erfinden mußte!
Norbert hatte sich heute für eine Klozelle entschieden, die Aussicht auf die Pflanzenklärgrube bot, sofern man durchs Fenster blickte oder die Hintertür aufstehen ließ. In der Grube ergrünte bereits das Schilf, auch einige Sumpfplanzen blühten. Jenseits standen schon wieder Wohngebäude der GO. Die meisten GO's der Republik hatten sich inzwischen von den ungesunden und auf-wendig zu betreuenden üblichen Familienplumpsklosett-häuschen getrennt und dafür mehr oder weniger zentral gelegene Dunghäuser erbaut oder eingerichtet. Das Dunghaus der KürbiskernlerInnen verfügte über acht Klozellen. Zwei davon waren im Augenblick besetzt. Die Zellen boten weder Türen noch Wasserspülung im Sinne des demokratischen Westens. Mann und Frau pinkelten und kackten, im Sitzen, gegen schräg eingebaute rostfreie Bleche, die Tag für Tag eimer- und schwallweise mit dem Abwasser der GO, etwa aus der Küche, bespült wurden. Dafür standen, zum Nachhelfen des Rutschens und zum Säubern der Bleche, zusätzlich Schrubber bereit. Das Ganze wurde durch Rinnen, die Gefälle besaßen, in die Vorgrube draußen geleitet. In ihr sanken die festen Abfallstoffe ab, während die flüssigen in die Pflanzen-klärgrube geleitet wurden, wo sie nach und nach versickerten und verrannen. Die Vorgrube wurde regelmäßig ausgeräumt. Ihr Inhalt wanderte per Handwagen in die »Kompostscheune« des Dorfes, wo er zum Trocknen ausgebreitet wurde. Dadurch erhielt man einen Dünger, der nach jeweils ein paar Wochen wieder abgeholt werden konnte, um mit ihm die Gärten und Äcker des Dorfes zu bereichern. Selbstverständlich ließ sich auch dieses System nicht ganz mühelos unterhalten, aber es war ungleich schonender für Mensch und Natur, als die sogenannten Kanalisationen, die Norbert aus Mitteleuropa und Nordamerika kannte. Das hatten jedenfalls Redakteur Charly und mittlerweilen noch ein Dutzend andere RepublikanerInnen behauptet.
Clara, Norberts Gattin, hätte natürlich mit Zitronengesicht behauptet, solche Dunghäuser und Klärgruben stänken doch wie die Pest. Aber das stimmte nicht. Der Gestank auf den Plumpsklosetts des Stockstädter Gutshofs war übler gewesen. Seine Stiefmutter, die Gutsherrin, hatte freilich über ein WC verfügt. Als sie, nach dem tödlichen Unfall seiner leiblichen Mutter, seinen Vater heiratete, den Pferdeknecht, besaßen auch dieser und sein Söhnchen plötzlich ein WC. Allerdings hatte sich diese Ehe schon seit längerem zart angebahnt. Er selber konnte sich nicht beklagen. Die Gutsherrin war keine neurotische Furie gewesen, und sein Vater hatte ihn immer anständig behandelt, ob über den Pferdeställen oder im Herrenhaus. Norbert hatte mit seinem Schicksal wohl erheblich mehr Glück als die Landarbeiterin Anca mit dem ihrigen gehabt.
Seine Gattin hatte übrigens Kunstgeschichte studiert, bekleidete einen leitenden Posten in einem Züricher Museum und trat zudem mit schlauen Büchern hervor. In solch einem Dunghaus hätte sie sicherlich auch mit dem »Mangel an Intimität« Probleme gehabt. Ihm machte er wenig aus. Eher schauderte es ihn bei dem Gedanken, hier im Winter, mit nacktem Hintern, bei Temperaturen zwi-schen sieben und zwei Grad plus zu sitzen. Selbstverständ-lich war das Dunghaus nicht beheizbar. Aber die Leute hier waren abgehärtet, das hatte er schon hinten und vorne bemerkt.
Norbert säuberte sich mit ein paar Fitzeln zerknüllten Zeitungspapieres, zog sich wieder an und wusch sich die Hände in einer kleinen Schüssel, die draußen neben der Regentonne des Dunghauses auf einem alten Hackklotz stand. Den Inhalt der Schüssel konnte er gleich wieder in das von ihm benutzte Kloloch schleudern, zwecks Überprüfung des ganzen Systems. Auf den Kopf gefallen waren die Hiesigen ja wirklich nicht. Das kostenlose bedruckte Zeitungspapier brachte man bei entsprechenden Transportfahrten regelmäßig aus Burgas in ganzen Stapeln mit. Auch die Amsel, die im Augenblick auf dem Dachfirst des Dunghauses flötete, verlangte kein Honorar. Im Winter würde sie sich aufplustern und den Schnabel halten. Doch Norbert war Journalist.
Norbert war mit seinem ersten Bericht aus der Freien Republik Mollowina zufrieden. Morgen früh wollte er nach Kusmu zurückfahren, ohne nennenswerte Pausen einzulegen. Er hatte es plötzlich eilig, seine Mitteilungen und Einsichten auf den Weg und an die Tribune-LeserInnen zu bringen. Beim Abendbrot wurde er passend vom Dorfschmied zu einer entspannenden Partie Boccia aufgefordert. Unter den Linden neben der Käseglocke hatten sich rund ein Dutzend DörflerInnen eingefunden; manche sahen nur zu. Die Bahn war bereits gefegt. Schiedsrat Bogdan war auch mit von der Partie, und bei seiner Biegsamkeit nahm es kaum Wunder, wenn er sich als Meister in dem Geschäft entpuppte, von der Fußlinie aus gegnerische Wurfkugeln durch die eigene Wurfkugel aus der Nähe des zwei oder drei Pferdelängen entfernten »Ziesels« zu scheuchen. So nannten sie hier die kleine rote Zielkugel. Das Erdhörnchen Ziesel, meistens braun oder grau gefärbt, kam in manchen flachen Landesteilen der Republik vor, wo es mit seinen Schlupflöchern gelegentlich für verstauchte Pferdefüße sorgte. Das Boccia war Norbert immerhin aus Südfrankreich und der französischen Schweiz bekannt. Aller restlicher »Sport«, den man im alten Athen getrieben hatte oder in den neuen Industrienationen pflog, wurde in der Mollowina verschmäht. Das Meidunische bot weder ein Wort für »Sport« noch ein Wort für »Fußball«, wie Norbert von Bogdan erfuhr. Ein Wort für »Pferdrennen« hatte es, aber in der Republik veranstaltete man keine Pferderennen. Die Pferde hatten auch ohnedem genug zu tun.
Als Norbert am nächsten Vormittag das Dorf Duhn passierte, war der Raps verblüht. Dafür erspähte er an der Anhöhe mit dem Steinbruch, wo sie Manöver abgehalten hatten, größere Flecken von etwas wärmerem Gelb. Sie blinkten unterhalb eines Hainbuchengehölzes im Gras auf. Ein Blick durch Seans Feldstecher bestätigte ihm, der Hang war von Schlüsselblumen übersät. Es waren Blumen seiner Kindheit – Guntersblum, Donnersberg, Odenwald und so weiter – und seine Kindheit war vorbei. Der unschöne Gedanke ans Altern überfiel ihn ziemlich jäh. Statistisch gesehen, hatte er längst den Zenit seines Lebens überschritten, und viel geleistet hatte er noch nicht. Prompt feuerte er gleich die Braunen an, beim Traben nicht einzuschlafen, sondern sich gefälligst ein bißchen zu beeilen.
Als das Pferdedorf in Sicht kam, war es fast eins. Das Bimmeltürmchen des Gestüts wies ihm den Weg. Wie sich zeigte, kam er genau richtig zum Mittagessen, aber Sean und Raluca waren nicht da. Sie hülfen einem Nachbardorf mit einem Fuhrwerk bei der Heuernte aus. Norbert aß; dann führte er die Braunen auf die Koppel, hängte einen Zettel »Bin im Rathaus!« an den Planwagen und schwang sich auf ein Fahrrad, das man ihm geliehen hatte. Die letzten Meter zum Marktplatz hinauf schob er allerdings. Es war, inzwischen Anfang Juni, recht warm, und er wollte Charly keinen verschwitzten Kollegen zumuten.
Aber auch Charly war außer Haus. Dafür traf er in der Kurier-Redaktion eine freundliche, noch ziemlich junge, ja sogar verdammt hübsche Kollegin an, Evelina mit Namen. Sie lud ihn auf den freien Stuhl vor Charlys prächtiger Adler-Schreibmaschine ein und erkundigte sich nach weiteren Wünschen. Die behielt er lieber für sich.
Zum Glück war die Schreibmaschine auf westliche Sprachen eingerichtet, also auch Englisch. Als er nach mehreren Stunden fertig war, legte er das Manuskript und einen Zettel mit der Anschrift der Tribune und des Absenders (»Norbert Angerschmied, z. Zt. Rathaus Kusmu, Mollowina«) in den Korb, den ihm Evelina gezeigt hatte. Sie war inzwischen verschwunden. Sie hatte ihm versprochen, sich um die geeignete und rasche Absendung der Botschaft zu kümmern. Ferner hatte sie ihn auf ein Konzert aufmerksam gemacht, das um 20 Uhr in der Kathedrale gegeben würde. Solche Veranstaltungen hätten ja in der Mollowina grundsätzlich Seltenheitswert, und da heute abend Mara Voitec singe und spiele, könne sie ihm den Besuch nur dringend ans Herz legen. Norbert hatte ihr für den Fingerzeig gedankt. Jetzt war es nach fünf, Charly oder sonst ein »hohes Tier« war noch nicht aufgetaucht, und Norbert überlegte, was er tun solle. Da klopfte es.
Es war Sean. Sie umarmten sich beinahe ungestüm und versicherten sich gegenseitig, wie gut sie aussähen. Dann erwähnte Norbert das Konzert: ob Sean mitkäme? Selbstverständlich, Raluca käme ebenfalls. Also hatten sie noch Zeit. Sie nahmen einstweilen auf den Redaktions-stühlen Platz, tranken sich mit Brunnenwasser zu und tauschten ihre wichtigsten jüngsten Erlebnisse aus.
Von Ralucas Feuer in Liebesdingen einmal abgesehen, zeigte sich Sean vor allem von ihren Schießkünsten beeindruckt. Sie habe sich mit einigen anderen Frauen ihrer GO häufige Zielübungen verordnet, und daran hatte Sean schon zweimal teilgenommen. Er sei klar der schwächste Schütze in dieser Gruppe, ganz im Gegensatz zu Raluca, die von drei getrockneten, mit Sand gefüllten Flaschenkürbissen, die einer in die Luft werfe, zwei zu treffen pflege.
Norbert heuchelte guten Glauben. Er seinerseits schilderte vor allem die Baufortschritte an und in der Käseglocke von Noravita und seine dortige Begegnung mit der Rollstuhlfahrerin. Als sich Sean auch nach seinem Artikel erkundigte, nickte er und klopfte befriedigt auf das Manuskript im Postkorb:
»Geschafft! Er geht schon morgen nach Burgas.«
Sean gratulierte ihm und kramte kurz in dem Korb. Als er wieder saß, legte er die Stirn in Falten und fragte Norbert lauernd: »Und sonst? Kein weiterer Brief von Angerschmied ins Ausland ..?«
»Was willst du damit sagen ..?«
»Man könnte ja vielleicht der lieben Gattin einen Gruß schicken ..!«
»Puh!« erwiderte Norbert ertappt und erschreckt. »Das hätte ich fast verschwitzt! Vielen Dank, daß du mich daran erinnert hast. Ich werde gleich ein Briefchen fertigmachen.«
Während sich Sean einen grinste und Norbert kurzent-schlossen die freie Rückseite eines Programmzettels des heutigen Konzertes bekritzelte, ging die Zimmertür auf. Diesmal war es Charly. Der dicke Redakteur erstrahlte über beide Wangen und Tränensäcke und ließ sich über das Befinden der Gäste und die Lage ins Bild setzen. Ja, sicher, da gehe er auch hin, erwiderte er auf die entsprechende Frage von Norbert. Er meinte das Konzert. Es empfehle sich nur, vorher noch tüchtig Abendbrot zu essen, denn in der Kathedrale sei es selbst im Sommer recht kühl. So einigten sie sich, gemeinsam zu Charlys GO aufzubrechen, die ja in geringer Entfernung oberhalb der Kathedrale lag.
Mara Voitec hatte kurz vor der Revolution ihr Musikstudium in Sofia abgeschlossen und von daher noch gute Verbindungen, sodaß sie beispielsweise an Noten, Musikinstrumente oder Kollegen für gelegentliche Gastspiele in der neuen Republik herankam. Sie gehörte einer GO im Mühldorf an. Sie leitete einen gemischten Chor, an dem sich Leute aus ganz Kusmu beteiligten, und gab hier und dort allerlei Musikunterricht. Ihre größte Leidenschaft nach dem Singen und Blasen sei das Schwimmen, erzählte Charly. Sie schwimme wie ein Fisch. Von alledem komme natürlich in ihrer GO kein Brot und kein Brathering auf den Tisch, von den Eiern des Schwarzmeer-Störs, Kaviar genannt, ganz zu schweigen, sodaß sie in der GO tatkräftig mitarbeite wie jeder andere Genosse auch.
Man kann diese blumigen Bemerkungen des Kurier-Redakteurs nutzen, um im Vorübergehen die Gepflogen-heiten der Arbeitsverteilung in den GO's zu behandeln. Davon hatten die Schweizer inzwischen schon einiges mitbekommen. Im Groben wurde die Arbeitsverteilung auf der wöchentlichen Vollversammlung der GO geregelt, sofern sie sich nicht von selbst verstand. Da diese Planung aber häufig von Notfällen, vom Wetter, ja selbst von persönlichen Stimmungen oder Wünschen durchkreuzt wurde, sprachen sich die Leute fast überall auch noch einmal täglich nach dem Frühstück ab. Dazu benötigten sie selten mehr als 10 Minuten. WortführerIn war dabei die Person, die das jeweils jüngste Plenum der GO geleitet hatte. Die Plenumsleitung wechselte stets nach dem Alphabet, weil man, so wie Berufspianisten, auch keine professionellen WortführerInnen haben wollte. Selbstver-ständlich waren die GO's bei ihren Vollversammlungen und Frühstücksrunden selten wirklich vollständig. Leute machten Besuche, Leute waren krank, Leute lagen noch in den Windeln oder schlurften als Greise in ein Bibelkränzchen. Waren sie aber derart nicht verhindert, wurde ihre Teilnahme »erwartet«, wie es in der Republikverfassung diplomatisch hieß. Die Peitsche, die sie unter Umständen aufs Plenum trieb, war die schon früher von Charly angeführte »soziale Kontrolle«. Müssen mußte niemand. Er konnte das Plenum jederzeit schwänzen wie unsereins die Schule oder gleich ins Königreich Bulgarien auswandern.
Kurz vor acht war die dämmrige Kathedrale schon recht belebt. Zu ihrer Verblüffung hatte Charly die Schweizer im Vorraum gebeten, ihre Schuhe auszuziehen. In der Tat waren dort bereits Unmengen von Schuhen in lange mannshohe Regale gestopft. Drinnen erklärte sich das Verfahren: die Kathedrale war mit zahlreichen Teppichen ausgelegt, auf denen die Leute saßen oder lagerten. Viele saßen im Schneider- oder besser Yogasitz. Irgendein Gestühl gab es nicht.
»Ich dachte, die Türken seien schon abgezogen?« wandte sich Norbert an Charly.
»Das schon«, grinste Charly, »aber die Teppiche ließen sie liegen!«
Er erklärte Näheres, nachdem sie zu Boden gegangen waren und sich auch Raluca zu ihnen gesellt hatte. Wenige Tage nach dem Umsturz hätten sie dem Sultan angeboten, die zur Moschee umgeweihte Kathedrale wieder offiziell zu entwidmen, damit weder Allah noch Yahweh Grund zum Zürnen hätten. Das habe er sogar angenommen. Bald darauf sei ein Imam mit einer Kutsche erschienen, der die Zeremonie vogenommen habe und auf dem Huf wieder kehrt gemacht habe. »Er hatte zwei Bedienstete dabei, aber die waren wohl zu faul, die Teppiche einzurollen und auf die Kutsche zu packen. Nun haben wir den Salat«, rührte Charly mit einem Finger in den pflanzenartigen Ornamenten des allerdings verblichenen Teppichs, auf dem er saß. »Es gab wiederholt Vorschläge, den Innenraum umzugestalten, etwa durch Großeinkauf von gebrauchten Feldfaltschemeln bei der russischen Armee oder nach Art des neuen 'Griechischen Theaters' in Noravita, aber stets kamen Einwände. Ein Konsens ist bis zur Stunde nicht in Sicht.«
Norbert schüttelte belustigt seinen Kopf, dann nickte er zum Vorraum. »Diese Schuh-Masse dort draußen, das wäre ein gefundenes Fressen für Gaukler wie unseren niedersächsischen Till Eulenspiegel. Er packt sie alle in einen riesigen Sack, schultert diesen, klettert auf das über den Marktplatz gespannte Seil, tanzt zur Mitte und leert dort den Sack, sodaß sich in der Marktmitte ein Schuhberg erhebt. Schon stürzen sich die strümpfigen Leute darauf und hauen sich gegenseitig beim Wühlen nach ihren Schuhen windelweich.«
Während Raluca lachte, spielte Charly mit winkendem Zeigefinger den Entrüsteten: »Wir sind ein friedfertiges Volk!«
Fast im selben Atemzug kippte er seinen Zeigefinger in die Waagrechte und deutete auf einen schlanken Mann mittlerer Größe, der auf sie zukam: »Na, was sage ich? Da kommt auch schon unser großer Feldherr ..!«
Es war Landes-Schiedsrat Mihail Bak, 42 Jahre alt. Die Schweizer kannten Fotografien, die ihn zeigten. Man konnte ihn jünger schätzen. Der Schnauzbart von den Fotos war inzwischen verschwunden. Bak trug sein glänzendes, volles schwarzes Haar zurückgekämmt. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht mit eher schmalen Augenschlitzen unter buschigen Brauen, ohne dadurch streng zu wirken. Er bewegte sich beinahe behutsam und blickte aus seinen dunklen Augen keineswegs stechend wie ein Feldherr, eher zurückhaltend wie ein grüblerisch veranlagter Gymnasiast, der vermeiden möchte, jemanden zu verletzen.
»Hallo, Mihail«, sagte Charly und deutete mit Handbewegungen zur Seite auf Norbert und Sean, die den dicken Redakteur flankierten: »Die Herren Angerschmied und O'Brien aus der Schweiz. Wird ja Zeit, daß du sie mal kennenlernst.«
Bak nickte freundlich und gab ihnen die Hand. »Ich hoffe, Sie haben bislang keinen Grund zur Klage ..?« Dabei ließ er sich in einer Lücke neben Raluca auf dem Teppich nieder. Prompt strich ihm die Zureiterin zärtlich den Arm, was er mit einem Kuß auf ihren heute stehbündchenfreien Hals erwiderte. Das schien Sean aber nicht zu alarmieren.
Baks Erkundigung bejahten die Schweizer. Er sprach gut Englisch und hatte eine unauffällige Stimme. Auf weitere entsprechenden Fragen teilten sie ihm einige Reiseeindrücke mit und erwähnten den Postkorb in der Kurier-Redaktion, in dem mittlerweilen Norberts erster Bericht liege. Unterdessen hatten sich in der erhöhten großen Nische, wo einst der Altar, nun aber ein Flügel stand, bereits die drei MusikerInnen des Abends zu schaffen gemacht – auch sie auf Strümpfen oder in Hausschuhen. Der kuppelgekrönte Hauptraum der Kathedrale faßte ungefähr 600 Personen. Heute war er gut gefüllt. Als Mara Voitec an die Rampe trat und mit ihrer Trompete eine Art Signal gab, verebbte das mit Gelächter durchsetzte Murmeln im Saal. Offenbar ging es gleich los.
Ihr kastanienbraunes Haar trug sie kurz, wodurch ihre lustigen Sommersprossen zur Geltung kamen. War sie ein Fisch, wie Charly gesagt hatte, dann nur ein Moderlies-chen. Oder nur »ein Strich in der Landschaft«, wie man bei Norbert im Hessischen Ried geunkt hatte. Sie war schlank wie eine Altarkerze und nicht viel größer als diese. Sie bewegte sich jedoch mit großer Anmut, und wo sie ihre glutvolle Stimme und die Planwagen voll Luft für ihre Blasinstrumente hernahm, war ein medizinisches Rätsel.
»Wir freuen uns über euer zahlreiches Erscheinen«, begann Mara. »Die Namen meiner ausländischen Kollegen kennt ihr, und auch das Programm. Der Franzose Gabriel Fauré ist ohne Zweifel ein bemerkenswerter Komponist. Alexandru« – der Mann am Flügel – »hat die noch fast druckfrischen Lieder von Fauré besorgt und ein wenig auf unsere heutige Besetzung zugeschnitten. Ich würde auch gern einmal etwas von Fanny Hensel oder Johannes Brahms singen oder vom Kusmuer Chor singen lassen, aber was soll ich sagen« – sie deutete durch den Saal – »kein Schwanz hier kann ein Wort Deutsch, mich eingeschlossen. Doch ich lüge! Bei Charly seht ihr unsere gegenwärtigen Gäste aus der Schweiz, die Herren Norbert Angerschmied und Sean O'Brien. Applaus bitte.«
Überrumpelt, winkten die Schweizer grüßend und dankend etwas linkisch mit je einer gespreizten Hand ins klatschende Publikum. Charly gluckste in sich hinein; er hatte diesen Applaus schließlich eingefädelt.
Die dunkelblonde Frau am Cello hieß Libuše, eine Tschechin. Alle drei waren um 30. Mara sang los, und zwar mal zum Steinerweichen, mal zum Kichern. Zwischendurch griff sie gelegentlich zu Trompete oder Saxophon. Ihre »Bühnenpräsenz«, wie sie dazu in Berlin oder Budapest sagten, war umwerfend. Dazu kam noch das Französisch der Liedtexte, das ja schon von sich aus Lyrik war. Sie beherrschte diese Sprache perfekt, wie sich Charly und Norbert flüsternd gegenseitig versicherten. Damit waren die beiden Journalisten der Anzüglichkeit enthoben, auch Maras hinreißendes Sichwiegen in den schmalen Hüften und ihre mädchenhaften Brüstchen zu loben, die ihr helles Hemd fast durchbohrten.
Der letzte Programmpunkt war ein textloses, auf die Kusmuer Besetzung umgeschriebenes »Divertimento für Streicher« von einem gewissen Leó Weiner. Der junge Ungar studierte an der Budapester Akademie, wo Pianist Alexandru inzwischen Dozent war. Libuše studierte noch in Sofia. Alexandru hatte sich die aufwendige Anreise geleistet, weil er neugierig auf die Republik Mollowina, zudem erholungsbedürftig war. Die beiden waren bereits vor einer knappen Woche in Kusmu eingetroffen. Was Weiner anging, war ihm mit dem rund 10minütigen Stück ein glänzender Wurf gelungen. Den flotten zweiten Satz hatte Bearbeiter Alexandru »Fuchstanz« getauft. Hier machten sich wieder Maras zwei Blechinstrumente gut. Gegen Ende schlug das Stück sogar Purzelbäume. Die Leute in der Kathedrale gerieten fast aus dem Häuschen. Mancher hätte vermutlich auch gern getanzt, aber dann hätten sich wohl zu viele Staubwolken aus den Teppichen erhoben. Im übrigen war es damals noch ungewohnt und streckenweise schockierend, wenn eine Frau in eine Trompete oder in ein Saxophon blies. Auch die Gäste aus Zürich hatten bislang noch keine erlebt.
Kaum war Weiners Divertimento verklungen und damit das Konzert, nach gut einer Stunde, beendet, fingen die ersten Leute an zu rufen, wo denn das Lied der Mollowina bleibe. »Das war ja zu erwarten«, sagte Charly. Also ließen sich die MusikerInnen breitschlagen, das offensichtlich beliebte Lied als Zugabe zu Gehör zu bringen. Die Schweizer waren stark beeindruckt von diesem schlichten, gleichwohl pfiffigen Stück. Die Landessprache war für dergleichen ideal. Die Leute auf dem dämmrigen Teppichgrund hatten leuchtende Augen, und manche von ihnen sangen die dritte Strophe, die lediglich die erste wiederholte, leise mit. Dann stürmischer Beifall; die KünstlerInnen verbeugten sich brav; der Sturm auf die Schuhe begann.
Der Marktplatz lag schon fast im Dunkeln. Viele KonzertbesucherInnen gingen zuerst zum Brunnen, um etwas zu trinken. Er wurde von einem auf der Anhöhe entspringenden Quellbach gespeist, dem das Städtchen Kusmu seine Gründung und Existenz verdankte. Die ausländischen Gäste setzten sich mit Mara, Bak und Charly in einen Pulk von Leuten, die sich, statt heimzugehen, auf der Rathaustreppe niedergelassen hatten, die von der eben untergegangenen Sonne deutlich mehr erwärmt worden war als die Treppe der Kathedrale. Hier erfuhren die Schweizer Näheres von dem Lied der Mollowina, den Musikern des Abends – und von Bak. Das Lied stammte von Mara selber, wenn auch Bak, so Charly, beim Text ein wenig »Geburtshilfe« geleistet haben dürfte. Sie wußten schon, der dicke Redakteur stichelte gern. Bak schmunzelte nur dazu. Im übrigen war klar wie Kloßbrühe, daß der Landes-Schiedsrat zur Genossin Mara ein besonders inniges Verhältnis hatte. Sie hatte ihn am Brunnen herzhaft umhalst, und jetzt hockte sie rücklings zwischen seinen Beinen. Raluca war aber auch noch da. Sean hatte Norbert bereits in der Kathedrale zugeflüstert, seine neue Flamme vom Kusufer sei eine wichtige Verflossene Baks. Norbert hatte es sich schon fast gedacht.
Auch Alexandru und Libuše sprachen recht gut Englisch. Sie rühmten ihre Zusammenarbeit mit Mara und erzählten ein wenig aus ihrem jeweils großstädtischen Alltag. Für einen musisch veranlagten Menschen werde die lärmende Betriebsamkeit moderner Städte wie Budapest und Sofia allmählich unerträglich. Bei dieser Gelegenheit erfuhren die Schweizer – und mit ihnen Redakteur Charly – vor wenigen Wochen, am 1. Mai, sei der Komponist Antonin Dvorak gestorben, bekanntlich ein Landsmann von der Böhmin Libuše, der Frau am Cello. Prompt nahm sich Charly vor, seinen Bericht vom heutigen Konzert zu einem Grundsatzartikel über Fragen der Musik auszuweiten. Er gedachte darin unter anderem gegen das westliche Virtuosentum zu Felde zu ziehen. Das verriet er aber einstweilen Alexandru und Libuše nicht; es hätte womöglich einen Mißklang in den gegenwärtigen Abendfrieden gemischt.
Norbert verstand wenig von Musik. Ihm war stattdessen Baks eindrucksvolle Ansprache Wer sind die Feinde des Menschen? – und in diesem Zusammehang die Rampe für Rollstühle eingefallen, die die Rathaustreppe bislang vermissen ließ. Jetzt beglückwünschte er Bak zu diesem Text. Dann erzählte er ihm von seiner kurzen Begegnung mit Rollstuhlfahrerin Anca aus Noravita. Dazu nickte Bak, der die ehemalige Landarbeiterin flüchtig kannte, durchaus teilnahmsvoll. Er schwieg eine Weile und fragte dann Norbert etwas unvermittelt, ob er wisse, wer ihn zu jener Ansprache angeregt habe? Nun, Verteidigungsrat Miron Maurer hatte es am Lagerfeuer in Duhn zwar erwähnt, aber Norbert hatte es vergessen.
»Es war die kleine Constantina aus unserem Gebirgsdorf Husi. Das Dorf liegt in der Nähe der Schwarzmeerküste in den Rezoven. Ich hatte dort zu tun. Plötzlich stand dieses behinderte Mädchen vor mir und begrüßte mich und mein Pferd erfreut, als wären wir alte Genossen von ihr. Später sah ich sie freilich auch schmollen und weinen. Sie müßte jetzt fünf oder sechs sein – aber sie ist eben, in leiblicher wie geistiger Hinsicht, in vielen Dingen 'zurückgeblieben'. Sie leidet von Geburt an unter 'Mongolismus', wie die Ärzte im Westen meist dazu sagen. Unsere eigenen Ärzte nennen es 'Down-Syndrom', nach dem erst kürzlich verstorbenen Beschreiber dieser Behinderung, und daran tun sie recht, denn was können die Mongolen dafür, wenn in Mitteleuropa zuweilen Kinder auftreten, die schrägstehende, oft verengte Augen, ein etwas verquollen wirkendes Gesicht, einen in der Regel unbeholfenen Gang, eine Immunschwäche, häufig einen Herzfehler, im übrigen sogenannte Sprach-, Denk- und Lernschwierigkeiten haben?«
Norbert nickte. Er erinnerte sich dunkel, in Mitteleuropa gelegentlich solche Wesen gesehen zu haben, obwohl sie dort meistens unter Verschluß gehalten wurden, schamhaft versteckt. Er fragte den Schiedsrat:
»Wie kommt es zu dieser Behinderung? Ist sie unausweichlich?«
»Man hat die genaue Ursache noch nicht herausgefunden. Vielleicht ein Fehler in den Chromosomen. Man kann natürlich einiges dagegen tun, aber man kann sie nicht heilen oder ausmerzen, und die Betroffenen werden selten nennenswert alt. Sie sterben oft schon als Kinder.«
»Und wie geht es Constantina jetzt?«
Bak wirkte etwas verlegen. »Das könnte ich im Augenblick nicht genau sagen. Ich habe einfach zu viel am Hals, verdammt … Aber wissen Sie was? Fahren Sie doch einfach mal hin! Sie haben mehr Zeit als ich. Erkundigen sie sich und erstatten Sie mir Bericht. Constantina würde sich jede Wette freuen, und ihrer Mutter, sie heißt Veta, und dem ganzen Gebirgsdorf könnte etwas mehr Aufmerksamkeit auch nicht schaden …«
Der ansteigende Fahrweg zum Gebirgsdorf Husi war ungepflastert. Nur fleckenweise von ungeschlachten, oft spitzen Steinen durchsetzt, verwandelte sich sein lehmiger Boden nach einem Unwetter vermutlich in ein Schlammbad. Dann wären ihre Braunen gut getarnt gewesen. Im Wald taten die Wurzeln von Ahorn, Fichte, Eiche oder echten Tannen das Ihre dazu, den Fahrweg mit Fußangeln zu versehen. Im Freien wurde er von blühendem Ginster oder von Heckenrosen gesäumt, die ihre dickfelligen Braunen mit Dornen kitzelten. Eine Seilbahn wäre für die HusianerInnen vielleicht nicht das Schlechteste gewesen. Oder wenigstens eine Seilwinde für ihre Fuhrwerke. Aber ohne Strom oder Benzin? Nur mit einem Göpelantrieb auf dem Dorfplatz, wo dann die armen Gäule, statt die Wagen zu ziehen, wie preußische Sträflinge im Kreis zu trotten hatten? Es war ohnehin erstaunlich, daß sich das Wildpferd vor einigen tausend Jahren dazu herbeigelassen hatte, sich ausgerechnet einem zweibeinigen Zwerg zu unterwerfen, den es mit einem Huftritt auf den Kilimandscharo hätte befördern können.
Gleich an einem der ersten Häuser der halbwegs eben verlaufenden Dorfstraße, nun gepflastert, waren ein paar Leute damit beschäftigt, ein neues Fenster einzusetzen. Sean stellte sich und seinen Bocknachbarn Norbert vor und erkundigte sich, wo sie Constantina fänden, die blutjunge Freundin von Landes-Schiedsrat Mihail Bak? Die Leute lachten. Sie waren sofort von dem überra-schenden Besuch angetan, wie Bak es vorausgesagt hatte. Sie beschrieben die Haupteinfahrt der GO Schlangenadler, wo man sicherlich wisse, wo Constantina gerade stecke.
Es war nicht weit. Auf einem dem Dorfplateau abge-rungenen langgestreckten Hof, der von etlichen, durchweg niedrigen Häusern umlagert war, brachten sie ihren deutlich gekennzeichneten Planwagen unter einem mächtigen Kastanienbaum zum Stehen. Laut Dorfkirchen-glocke war es kurz nach drei – nachmittags. Schon traten hier und dort Leute aus den Türen, auch ein paar Kinder. Eins davon, ein Mädchen mit blonden Fransen, wagte sich gleich neugierig und ohne Scheu zu ihnen vor. Es konnte nur Constantina sein, wie bereits der etwas wankende Schritt verriet. Sie musterte erfreut das Republikwappen auf der Plane und die beiden schnaubenden gemütlichen Braunen. Dann nickte sie und krähte:
»Schön Wag, schön Wag! Und schön Perd! … Zwei Perd!« ergänzte sie sogar begeistert und nickte erneut.
Dann ging sie zum links eingespannten Braunen und umhalste zunächst seine kräftigen Vorderbeine, ehe sie ihn mit ihren etwas aufgedunsen wirkenden kleinen Händen an der riesigen Unterlippe kitzelte. Er ließ sich alles klaglos gefallen.
Abgestiegen, strichen die beiden Männer dem kecken Mädchen übers Haar. Dann wandten sie sich an eine stämmige Frau um 50, die ihnen gerade am nächsten stand, stellten sich vor und umrissen ihr Anliegen.
»Freut mich«, sagte sie, »ich heiße Ruxandra. Hatten Sie schon Mittagessen?«
Das konnten sie bejahen.
»Gut. Wir sitzen gerade mit ein paar Kindern und Erwachsenen im Gemeinschaftsraum und plagen uns mit der meidunischen Sprache ab. Es ist aber keineswegs langweilig. Wenn Sie Lust haben, können Sie einmal hineinhorchen.«
Da die Besucher zustimmend nickten, bat sie einen Mann, der gerade mit einer Schubkarre auf dem Hof erschien, den Planwagen hinter die »Schaf-Scheune« zu fahren und die zwei Braunen einstweilen auf die Weide der Schafe zu führen. Das versprach der Mann. Dann ging sie zu Constantina, um sie zum Mitkommen ins Haus zu bewegen, was aber nicht ganz so einfach war. Das Mädchen wollte sich ungern von dem angenehm knetbaren Pferdemaul trennen. Sie war störrischer als das Pferd. Norbert hatte schon von Bak gehört, ein »Down-Kind« könne ziemlich stur sein. Das war eine Kehrseite seiner »Kontaktfreude« und seiner »sozialen Kompetenz«, wie die Psychologen dazu sagten. Veta würde ihm später eine bezeichnende Anekdote erzählen. Bei einem Streifzug mit etlichen Kindern habe ein »normaler« Junge einen Stock aufgeklaubt und damit begonnen, von den Haselnuß-sträuchern, die den Hohlweg säumten, mit Lust die Blätter abzuschlagen. Als Constantina das bemerkt habe, sei sie ihm in den Arm gefallen und habe ihm vorwurfsvoll ins Gesicht geschleudert: »Tut ihn weh! Tut ihn weh!« Darauf ließ der Junge die Sträucher verlegen in Frieden.
Nach geduldigem Zureden kam Constantina mit ins Haus und stürzte sich wieder auf ihr Schreibheft. Die dunkelhaarige Ruxandra entpuppte sich nicht nur als die gegenwärtige Leiterin dieses erstaunlicherweise aus Jung und Alt gemischten Lernzirkels von knapp einem Dutzend SchlangenadlerInnen, sondern auch als die Schiedsrätin des ganzen Dorfes. Sie wohnte in dieser GO namens Schlangenadler. Zuletzt als technische Angstellte bei der Hafenverwaltung in Burgas erwerbstätig, sprach sie sogar Englisch. Ihr Lernzirkel saß an verschiedenen Tischen unweit einer größeren Schiefertafel, die sowieso ständig an der Wand des Gemeinschaftsraumes hing. Die anwesenden Kinder unterschiedlichen Alters hätte man in Deutschland »ABC-Schützen«, die paar Erwachsenen »Analphabeten« genannt. Sie schrieben oder malten mit Bleistiften in linierte Hefte oder gar richtige Kontobücher, die Ruxandra dereinst klammheimlich der Burgaser Hafenverwaltung entzogen hatte. Die älteste erwachsene Person im Zirkel war eine bäurisch wirkende Großmutter, und zwischen deren Schreibkünsten und denen von Constantina sah man nicht viel Unterschied. Constantina wollte jetzt verständlicherweise unbedingt »perd« schreiben. Ruxandra machte ihr es ohne Widerworte vor.
Für die Wißbegierde der Schweizer hatte die Schiedsrätin zwischen ihren Vorschlägen, Ermunterungen und Berichtigungen auch noch hinreichend Zeit. Ohnehin stand über den ungemauerten Bildungseinrichtungen des Landes ein Wahlspruch, der für das ganze Republikleben galt: Geduld – Gelassenheit – Freiheit. Schulen gab es nicht, wie schon einmal erwähnt. Die 20 oder 30 lauffähigen Kinder in den GO's waren ja sowieso Tag für Tag gleichsam versammelt, und verschiedene Zirkel, in denen man Schreiben und Rechnen lernen konnte, waren da so leicht gebildet wie umgruppiert. Auch an Anleitern hatte es keinen Mangel. Sogenannte »Lehrkräfte« mitzumästen, wollte man sich nicht leisten, und deren »Pädagogik« fürchtete man sogar. Das galt auch für Bildungsbemühungen unter Jugendlichen und Erwachsenen der Republik. Diesbezüglich wurden in den Dörfern gleichfalls unsystematisch, je nach Bedarf, Ideen, Kräften und sogar Wetter (Ernte!), Zirkel ins Leben gerufen und wieder geschlossen, die sich eine Zeitlang mit bestimmten Themenkreisen beschäftigten, die man für wichtig hielt, etwa allgemeine Erd- und Himmelskunde, Einfall weißer Heilsbringer in Süd- und Nordamerika, Grundlagen der Physik – oder eben des mitteleuropä-ischen Schulsystems, das sich vor allem dem Triumph der Dampfmaschine und der entsprechenden Bürokratie verdankte. Die Mitteleuropäer sollten jetzt nach der Pfeife von Profit und Norm tanzen. Effizienz würde Modewort und Ausweis des gesamten 20. Jahrhunderts werden.
Die Überraschung des Tages war zumindest für Norbert Angerschmied die Mutter des »behinderten« Kindes. Sie lernten sie beim Abendbrot in der GO kennen. Veta, um 40, war gerade so blond wie ihre Tochter. Sie zeigte auch deren Fransen, nur ordentlich zur Seite gekämmt, konnte also nicht, wie Sean, mit Locken glänzen. Dafür war sie ähnlich ansprechend gebaut wie der Ire, nur mit festem Busen. Ihre kräftige Nase war vielleicht einen Hauch zu breit ausgefallen, aber das erschien Norbert stimmig, als er erfuhr, sie sei Försterstochter und noch heute eine gute Fährtenleserin. Ihr Wesen war gutherzig und still.
Englisch sprach Veta nicht. Als sich Sean einmal beiläufig nach Constantinas Vater erkundigte, erwiderte sie so lapidar wie anrührend, er habe sich bald nach der Geburt abgesetzt. Niemand wisse, wo er sich aufhalte. Sean hakte nach, und nun meinte sie nachdenklich, wahrscheinlich sei die Revolution ihre Rettung gewesen, sowohl die von Constantina wie ihre eigene. Hier, in dem umgemodelten Dorf, hatten sie beide viele Freunde, Rücksichtnahme, Trost gefunden.
Ob sie mit ihrem doch recht harten Schicksal hadere, wollte Norbert, mit Seans übersetzerischer Hilfe, wissen. Das verneinte sie. Und weil sie dazu ihren Kopf geschüttelt hatte, strich sie sich wieder die Fransen aus dem Gesicht und lächelte ein wenig verlegen in die Runde.
Schiedsrätin Ruxandra saß auch mit am Tisch. Husi war ein Jägerdorf, und sie hatte bereits vom Vorhaben einiger Leute erzählt, morgen im Wald mit dem Bau eines Fangkorrals für Wildschweine zu beginnen. Sean hatte sofort sein Interesse bekundet, an der Aktion teilzuneh-men. Er berichtete auch von seinen Schießübungen im Kusmuer Gestüt. Ruxandra lächelte nachsichtig und meinte, es spräche sicherlich nichts dagegen, wenn er sich an dem Bauwerk beteilige. Dann seufzte sie, ja im Gestüt von Kusmu hätten sie ganze Kolonnen der unterschied-lichsten Fuhrwerke, in Husi gerade mal zwei. Und auch nur zwei Pferde, zwei dicke Kaltblüter. Das reiche gerade fürs Holzrücken aus.
»Wenn es so ist«, sagte Norbert in plötzlicher Eingebung, »könnte man ja eigentlich unser Gespann dazu ausnutzen, einmal mit ein paar Kindern einen richtigen Ausflug zu machen.« Auf Constantina deutend, die gerade in einer Pfütze aus verschüttetem Trinkwasser rührte, ergänzte er: »War sie schon einmal am Schwarzen Meer?«
Das wurde verneint. Die Rätin war von dem Vorschlag begeistert. Sie selber sei morgen jedoch verhindert. Er möge nur, neben ein paar Kindern, Veta mitnehmen, die komme selten genug heraus. Veta nickte auch sofort erfreut, und so besprachen sie die Einzelheiten.
Später, als sie bereits auf ihren Strohsäcken lagen und die Kerze gelöscht hatten, sagte Norbert: »Wirklich, diese Veta ist eine tapfere Frau, habe ich den Eindruck … Was tätest denn du, wenn dir deine Geliebte, Raluca zum Beispiel, einen verkrüppelten oder einen schwachsinnigen Säugling 'schenkte', wie man ja gerne sagt ..?«
Sean blieb eine Weile stumm. Dann schimpfte er: »Ver-dammt, ich weiß es nicht! Das kann man vielleicht erst sagen, wenn das Unglück geschehen ist. Schon möglich, ich käme mit Raluca überein, das arme Würmchen lieber zu erschießen, aber was geschähe dann? Fielen einen beispielsweise Schuldgefühl, Trauer und Reue an, bis man sich auch noch selber erschösse ..?«
Norbert dachte nach und seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht. Die Sache ist äußerst heikel. Schlafen wir erst einmal darüber …«
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