Dienstag, 23. August 2022
Die Rüsselzwergfledermaus

Im Hochsommer muß sich der Vogelfreund nach Alter-nativen umsehen. Läßt sich in meinem Garten, der vorwiegend aus Bäumen und Gestrüpp besteht, zuweilen noch das Gelächter eines gelangweilten Grünsprechts oder das öde Verslein »Ich / Ringel / taube, ich / alte / Schraube« vernehmen, ist es schon viel. Die vier Silben »Taube« und »Schraube« trägt sie übrigens doppeltschnell vor, wodurch sie auch noch Platz für den nächsten Auftakt ihres ermüdenden Schlagers schafft. Bei ihr erklingt er ausschließlich auf »uh«, und sie variiert ihn auch im Rhythmus so gut wie nie.

Wegen dieser sinnlichen Armut lenke ich mein Fahrrad im Hochsommer recht häufig bei Ludwig vorbei, der stolzer Besitzer eines über mannshohen Schmetterlingsflieders ist. Da der Strauch unweit des Gartentors steht, muß ich Ludwig noch nicht einmal stören, wenn mir nach einem Viertelstündchen Naturbeobachtung zumute ist. Ludwig hockt in der Regel vor seinem mit drei bis sechs Program-men bestückten wandteppichgroßen Computerbildschirm und hackt emsig auf die Tasten. Lästermäuler könnten seinen Schmetterlingsflieder ebenfalls zur Hardware rechnen. Eigentlich hasse ich diesen Strauch mit seinen etwas ledrig, ja beinahe wächsern wirkenden lanzettlichen Blättern und seinen violetten Blütenständen in Gestalt zugespitzter Walzen oder chinesischer »Schandhüte«. Er ist asiatische Importware. Als Chinese würde ich möglicherweise Thüringer Klöße mit Rotkraut und Bratworscht hassen, wenn sie vor meinem Haus wüchsen, aber das Schicksal verurteilte mich nun einmal zum Deutschsein. Trotz meiner Intoleranz bin ich natürlich nicht blind: Ludwigs Schmetterlingsflieder ist im Hoch-sommer, wie es der Name schon andeutet, ein Tummel-platz für Falter aller Art, für Weißlinge, Pfauenaugen, Füchse, Admirale beispielsweise, die ja fast jeder kennt. Wer aber hat schon einmal die Rüsselzwergfledermaus gesehen?

Am Anfang, nachdem ich sie entdeckt hatte, dachte ich, sie hat eine Meise. Während sie trotz ihres gedrungenen, rund drei Zentimeter langen, vorwiegend grau gefärbten behaarten Körpers über der jeweils angepeilten Walze dank rasenden Flügelschlages in der Luft stand, tunkte sie ihren mordslangen, biegsamen Rüssel (der zwischen zwei dünnen »Hörnern« sitzt) so blitzschnell von einer kleinen Blüte in die andere, daß ich mit dem Zählen und Messen kaum mehr nachkam. Der NABU versicherte mir später, der winzige Wirbelwind könne »in fünf Minuten mehr als hundert Blüten besuchen«. Das wären in 60 Sekunden 20, macht nach Adam Riese pro Besuch drei Sekunden. Und so etwas nennt der NABU Besuch!

Hier feiert offensichtlich die Oberflächlichkeit Triumphe, und nicht nur das. Dieses Schwirren der Rüsselzwerg-fledermaus auf der Stelle, bei Falken oder Fliegenschnäp-pern »Rütteln« genannt, muß ja Unmengen an Energie kosten, die sie kaum aus einem ganzen Wald von Schmetterlingsfliedersträuchern beziehen könnte, dabei hat nur Ludwig den einzigen Schmetterlingsfliederstrauch weit und breit! Das hatte er sich jedenfalls eingebildet, als er den Strauch pflanzte. Wäre die Rüsselzwergfledermaus klug genug, am Tage im wesentlichen auf der faulen Haut zu liegen, reichte es völlig aus, den Rüssel dreimal täglich in irgendeine Friedhofspetunie zu tunken. Aber nein, sie schwirrt in einer Hektik durch Ludwigs Strauch, die neben dem Energiesparen auch jede Systematik vermissen läßt. Als hüpften die fressenden LPG-Rinder wie von der Tarantel gestochen im Zickzack über die Weide! Aber eine Rüsselzwergfledermaus denkt gar nicht daran zu grasen, dazu ist sie sich zu schade; sie rast. Sie springt in einer Planlosigkeit zwischen den Blütenständen hin und her, die mir Tränen des Mitleids in die Augen treibt. Nach zwei Augustwochen hat sie vermutlich jede zweite Blüte der Walzen schon fünfmal »besucht«, obwohl ja, aus reiner Selbstverschuldung, gar nichts mehr darin zu holen ist, von der Konkurrenz ganz zu schweigen.

Ludwig nennt sie übrigens Zwergkolibri, weil er eben eine Meise fürs Exotische hat. Der NABU dagegen spricht deutsch; er spricht vom Taubenschwänzchen, auch kein übler Name, wie man einräumen muß.

Vielleicht noch ein Wort zu dem sogenannten süßen Duft, der den zahlreichen winzigen, übrigens vierblättrigen Blüten des Schmetterlingsflieders entsteigt. Schnuppert Ludwig daran, verdreht er jedesmal vor Entzückung die Augen und versichert mir einmal mehr, im Vergleich dazu rieche der Jasminstrauch, der unweit meiner Haustür steht, nach Ferkelurin. Gegen Ludwigs Geschmacksver-irrung ist kein Kraut gewachsen. Für mich stinkt ein einzelner Schmetterlingsfliederstrauch aufdringlicher als ein ganzes Pariser Parfüm- und Seifengeschäft, das ich allerdings nur vom Hörensagen kenne. Auch das wird sich bald ändern: dann rufen wir mit einem Mausklick die Duftnote ab.
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