Dienstag, 23. August 2022
Grammatischer Gram

Schauspieler Siegfried Lowitz, für viele Der Alte aus einer bekannten Fernseh-Krimi-Serie, habe »mehrfach mit Heinz Rühmann vor der Kamera« gestanden, erfahren wir bei Wikipedia. Stand er also eines Tages nicht nur als Doppelagent, sondern gleich in drei- oder fünffacher Ausfertigung neben dem bekannten Star, der eigentlich noch eitler als Lowitz selber war?

Leider ist Das Mehrfachen zum postmodernen Volks- und Pressesport geworden. Erstaunlicherweise nimmt schon mein eher altmodischer Duden (von 1983) keine deutliche Unterscheidung zwischen dinglicher/zeitlicher Wiederholung vor. Er kennt sowohl eine mehrfache Ausfertigung wie einen mehrfachen deutschen Meister oder einen mehrfach vorbestraften Einbrecher.

Eine ziemlich erschöpfende (und vernichtende) Kritik der Verwischung des Unterschieds zwischen »mehrfach« und »mehrmals« nimmt beispielsweise 2009 Ulrich Werner aus München auf seiner Webseite vor. Allerdings führt er, soweit ich sehe, keine frühen maßgeblichen Quellen an. Er baut auf das Augenscheinliche: mehrfach gehört der Reihe »einfach, zweifach, vielfach« an, mehrmals dagegen der Reihe »einmal, zweimal, oftmals«. Das Mehrmalige hat nie Gleichzeitigkeit, betont Werner. Dagegen kann ein Kniegelenk mehrfach belastet sein, nämlich gleichzeitig durch verschiedene Kräfte, die auf es wirken.

Ob mir einer einen bestimmten Liebesbrief mehrfach (in Kopien) schickt oder ob er ihn mehrmals (an verschie-denen Tagen) auf die Post gibt, damit mich die Botschaft auch wirklich erreicht, ist ja in der Tat ein beträchtlicher Unterschied. Die zweite Maßnahme zeugt sicherlich stärker von Zuneigung. Noch schmerzhafter wird es im Falle eines Beinbruchs. Der mehrfache Beinbruch läßt sich vielleicht durch nur eine Operation beheben. Breche ich mir dagegen dasselbe Bein in vier oder fünf Jahren mehrmals, kann ich es eigentlich nur noch wegschmeißen. Sporttreiben geht dann allenfalls mit Prothese, was freilich den Beifall gewisser HerstellerInnen findet. Gewiß kann ein Leichtathlet mehrfacher deutscher Meister sein, nämlich in verschiedenen Sparten einer bestimmten deutschen Leichtathletik-Meisterschaft. In der Regel ist jedoch gemeint, er sei bereits, etwa im Hochsprung, mehrmaliger deutscher Meister, errang also den Titel wiederholt in verschiedenen Jahren. Der Unterschied liegt auf der Hand.

Sicherlich gibt es auch Grenzfälle. Sie fallen mir im Moment nicht ein. Ich vermute aber in der Hauptsache, wenn heutzutage grammatische Verwischungen so beliebt sind, entspricht es denen in der postmodernen Wirklich-keit. Hier liegt die Vernebelungstaktik vor, die zwischen Krieg und Frieden oder Krankheit und Gesundheit nicht mehr deutlich unterscheiden will. Dadurch werden auch die einträglichen Geschäftsfelder größer. Leider muß ich sagen, in seiner lehrreichen, dickleibigen Kulturgeschichte der Neuzeit, erschienen um 1930, ist auch Egon Friedell bereits ein falscher Mehrfacher gewesen.

Eine ähnliche Verwischung hält sich seit Jahrzehnten hartnäckig im Falle des gegensätzlichen Paares anscheinend — scheinbar. Darauf habe ich schon früher hingewiesen.

Beim »Daßdaßdaß« handelt es sich um ein Virus, das seinen Wirt dazu nötigt, ein schlichtes Bindewort namens daß in jedem Text bis zum Erbrechen zu gebrauchen. Leider befällt Die daß-Pandemie nicht nur Zeitungsredak-tionen und Bestsellerautoren wie Stephen King (siehe On Writing, 2000), sondern auch gediegene Schriftsteller wie Adorno, Erwin Chargaff, F. G. Jünger und selbst Walter Porzig (Das Wunder der Sprache, 1950). Sobald Sie einmal darauf achten, werden Sie betrübt feststellen, die Anzahl der gesunden SchriftstellerInnen ist verschwindend gering.

Heißer Anwärter auf einen Platz im Guiness Buch der Rekorde ist Manès Sperber, der daß auf den beiden Seiten 118/19 seiner Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean (dtv-Ausgabe 2003) 16 mal einsetzt. Für diese Anzahl benötigt der französische Soziologe Roger Caillois in seinem Buch Die Spiele und die Menschen (deutsche Erstausgabe Stuttgart 1960, Seite 150 bis 161) 12 Seiten. Allerdings bringt er die beliebte Konjunktion dabei mehrmals doppelt, einmal sogar dreifach im selben Satz, das gelingt dem erwähnten F. G. Jünger – der ebenfalls über die Spiele schrieb – selten. Vielleicht ist auch gar nicht das Virus schuld, sondern die Maske? Die keine Alternativen kennt?

»Hinter der Maske« – lesen wir (1960!) bei Caillois – »nimmt das verzerrte Antlitz des Besessenen ungestraft jeden wüsten, gemarterten Ausdruck an, während der Beamte darauf achten muß, daß man seinem bloßen Gesicht nicht entnehmen kann, daß er etwas anderes ist als ein vernünftiges, kaltblütiges Wesen, dessen einzige Aufgabe darin besteht, das Gesetz anzuwenden.« Hier böte sich unter anderem die Alternative an: … während das unverhüllte Gesicht des Beamten wohlweislich den Eindruck zu verhindern hat, er sei etwas anderes als ein vernünftiges, kaltblütiges Wesen, dessen einzige Aufgabe darin bestehe, das Gesetz anzuwenden. Einige Tricks, die die Maske zu meiden oder das Gesetz zu umgehen wissen, sind rasch auf den Begriff gebracht: Substantivierung; indirekte Rede oder Konjunktiv; den fraglichen Satz mit »wie« einleiten (Wie Untersuchungen ergeben haben, ist die Rate stilistischer Schwerverbrechen besonders in …) oder im Nebensatz einen Infinitiv mit zu verwenden. In diesem Fall hätte sich Ambrose Bierce in Des Teufels Wörterbuch (zum Stichwort Jakobsleiter) den folgenden Doppeldecker verkniffen. »Man kann nicht umhin festzuhalten, daß es reichlich viel vom armen Jakob verlangt ist, daß er mit logischem Realismus träume.« Vielmehr hätte man geschrieben Allerdings wäre es wohl zu viel vom armen Jakob verlangt, mit logischem Realismus zu träumen. Diese Version spart auch kostbaren Lexikonplatz.

Letzter Trick: auf eine Satzverbindung mittels Komma verzichten. In diesem Fall ersetzt man das Komma durch einen Doppelpunkt oder bildet gleich einen neuen eigenständigen Satz. Für die eleganteste Lösung halte ich freilich nicht den Verzicht auf das Komma, sondern lediglich auf die offensichtliche Bindung. Statt zu schreiben Man munkelt, daß er aus den Leihbüchern der Stadtbibliothek jedes daß mit der Rasierklinge herausschneidet, zöge ich also vor: Man munkelt, aus den Leihbüchern der Stadtbibliothek schneide er jedes daß mit der Rasierklinge heraus. Ja, in manchen Fällen gewinnt die Eleganz sogar, wenn wir auch die indirekte Rede noch erdrosseln: Man munkelt, er konnte nicht anders

In dieser Hinsicht ist eine Bemerkung des sogenannten Sprachwissenschaftlers Dr. Ernst Wasserzieher erwähnenswert, der uns 1920 mit einem schmalen, nicht gerade meisterhaft gebauten und geschriebenen Buch beglückte, das er Schlechtes Deutsch nannte. Ich besitze es in der „fünften, verbesserten Auflage, nach des Verfassers Tode besorgt von Prof. Dr. Paul Herthum“, Verlag Ferd. Dümmler, Berlin und Bonn 1930. Darin findet sich auf Seite 26 die Behauptung, ursprünglich seien die Wörter das und daß eins gewesen; sie hätten sich erst im 16. Jahrhundert geschieden. »Ich weiß, daß er kommt lautet eigentlich: Ich weiß das, er kommt; durch Verschiebung der Satzpause haben sich allmählich das und daß voneinander getrennt und sind nun im Sprachbewußtsein zwei verschiedene Wörter.« Das gießt natürlich deftig Wasser auf meine Mühlen, heißt es doch, die Konjunktion daß sei noch vor wenigen Jahrhunderten so überflüssig wie entbehrlich gewesen. Das hinderte unseren Doktor aus Halberstadt gleichwohl nicht daran, sie in seinem sendungsbewußten Werk über Gebühr einzusetzen. Seite 51: »Daß wir diese italienischen Fremdwörter [Kommando, Solo, Kolli] haben, ist bedauerlich, und ich hoffe, daß sich noch einmal Ersatz findet. Viel verlangt ist aber, daß Deutsche die Mehrzahl von Solo (Soli) kennen sollen, anstatt einfach Solos (wie Kommandos) zu gestatten.«

Spätestens jetzt drängt sich allerdings die Frage auf, was denn am scharfen daß so Böses sei, daß wir es dem Literaturfreund nicht doppelt oder auf 12 Seiten 16 mal zumuten dürften?

Ein klarer Fall von Suggestivfrage. In der Tat rät uns die Schärfe dieses Bindewortes an, es ungleich sparsamer zu verwenden als etwa und oder oder. Im übrigen hält sich der gute Stilist an einige Regeln, die in allen Fragen der Wortwahl und des Satzbaus gelten. So ist Wiederholung fast immer schlecht. Er benutzt sie allenfalls, sofern sie einer Unterstreichung, Verfremdung oder Verhöhnung dient. Unser Sprachschatz ist ja nicht umsonst reich genug, um sogar WörterbuchverlegerInnen und Rechtschreib-reformerInnen miternähren zu können. Er will Abwechslung, Vielfalt, Verblüffung, Trefflichkeit, persönlichen Ausdruck. Was uns zuerst einfällt, ist immer das Naheliegendste, nämlich der Sprachmüll, der auf der Straße beziehungsweise hinter den Bildschirmen liegt. Also seibern wir von der Spitze des Eisberges, beteuern jedoch, daß sie kein Pfahl in unserem Fleische sei. Zwei Verdoppelungen auf einen Streich! Denn sofern ein langes Ding wirklich unverzichtbar sein sollte, genügt ja wohl die Feststellung, es sei kein Pfahl in unserem Fleische. Aber die lieben Kollegen sind stockblind und grausam, Robert Merle vielleicht ausgenommen. Daß hinzuschreiben, ist stets der kürzeste und brutalste Weg.

Im folgenden lautet die Frage Wer tut oder erleidet was? In Walter Scotts Ritterroman Ivenhoe, angeblich ein Werk der Weltliteratur und somit auch folgsam von Ostberlin übersetzt und (1972 schon in 3. Auflage) nachgedruckt, heißt es auf Seite 91: »Außerdem schmückte die schöne Jüdin eine Straußenfeder, die mit einer brillantenbesetzten Agraffe am Turban befestigt war.«

Schmückte die holde Rebecca also eine Straußenfeder, indem sie diese mit Lametta umwand? Oder klammerte sie sich eigenhändig selber an die Straußenfeder, um dieser als Zierde zu dienen? Wohl beides kaum. Deshalb kommt man in solchen Fällen, die einem leider öfter begegnen, als Klarheit liebender Autor nicht umhin, den Passiv zu bemühen, obwohl er zurecht einen schlechten Ruf genießt. Man brächte also zu Papier: »… wurde die schöne Jüdin außerdem von einer Straußenfeder geschmückt …«

Täusche ich mich nicht, zählt das Schmuckproblem zu den grammatischen Beziehungsfragen. In dieser Hinsicht bieten Scott – oder seine Übersetzerin Christine Hoeppener noch durchaus mehr. Ich habe mir 10 Stellen angekreuzt, beschränke mich aber auf die Vorstellung von dreien, um nicht genau jener entsetzlichen, quälenden Langatmigkeit bezichtigt zu werden, die der schottische Weltliterat an den Tag legt.

Seite 137: »Entsprechend diesem Befehl wurde Gurth eiligst vorwärtsgestoßen, roh über die linke Böschung geschleift und sah sich bald in einem weitläufigen Gehölz …« Hier ist eigentlich Gurth der Erleidende, aber dann, im selben Atemzug, sieht er plötzlich etwas – nur Scott/Hoep-pener entging der unzulässige Perspektivwechsel. 271: »So wißt denn, Lady, daß dieser Nebenbuhler in meiner Macht ist und daß es nur bei mir steht, das Geheimnis seiner Anwesenheit im Schloß Front-de-Boeufs zu verraten, dessen Eifersucht verhängnisvoller sein wird als meine.« Sollte De Bracy hier die Eifersucht des Schlosses oder auch die Eifersucht des Geheimnisses im Auge gehabt haben? Vom Doppel-daß will ich großzügig schweigen. Daneben deutet sich hier Scotts Leidenschaft für den Schachtelsatz an. 573: Ein Grüppchen aus mehreren Männern schwafelt, da ertönt Geläut von der Kirche Sankt Michael her. »Die düsteren Klänge drangen in so großen Abständen ans Ohr, daß für jeden genug Zeit blieb, in einem fernen Echo dahinzusterben, ehe ein neuer Ton mit seinem ehernen Klang das Ohr erfüllte.« Die Gunst dieser ausreichenden Frist zum Dahinsterben kann nicht die Klänge betreffen, weil sie im Plural stehen. Somit wird sie einem jeden Mann aus dem Grüppchen der Schwafelnden gewährt – und zwar zum Aufatmen von Lesern wie mir.

Im Grunde stellt das 600 Seiten starke, um 1820 entstandene Werk im ganzen den größten Fehler dar. Viel weitschweifiger, unkritischer und seichter, auch im Humor, kann man nicht mehr schreiben. Scott überfrachtet seine Schachtelsätze mit Eigenschaftsworten; dafür gibt er die Personen selber, soweit ihnen die Eigenschaften zugeschrieben werden, nur als Sprechtüten. Sie sind austauschbar. Scott läßt vor allem reden; schildert er aber einmal etwas, ob Landschaft oder Schloß, gerät es so blaß, daß (!) man nichts sieht. Jeder moderne Heftchenroman atmet mehr Poesie. Dies alles kann jedoch nicht an der rund 20 Meter hohen Säule vorm Glasgower Rathaus rütteln, die ein Scott verkörperndes Standbild trägt. Denkmäler für Gedankenlose, damit ist dieser Planet gespickt. Durch diese bedenkliche Formulierung schlägt man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Künstler bekommt sein Denkmal – und für alle, die ihn anzubeten wünschen, ist es ebenfalls gut.

Das Standbild, das Scott zeigt, verweist noch auf eine weitere beliebte Verwischung. Meist wird geschrieben: »Säule, die ein Standbild von Scott zeigt.« Glücklicher-weise hat sich aber der gelernte Advokat nicht auch noch als Bildender Künstler versucht, soweit ich weiß. Das Standbild stammt also nicht von Scott; es zeigt ihn. Im Artikel der deutschen Wikipedia über den Bildhauer Eugen Drippe erfahren wir: »Sein Mitstudent Pagels schuf eine 41 cm hohe Porträtbüste Drippes …« Somit war dieser Drippe ein Schlawiner; in Wirklichkeit haute Pagels die angeblichen Werke Drippes aus dem Sandstein. Dieser Fehler begegnet einem auch oft Fotos betreffend.

Nebenbei, man darf sich auch selber nicht schonen. Wer ist denn bitteschön der Räuber und wer das Opfer, wenn eine Geschichte »Der Raub der Warzenschweinchen« (oder auch: der Sabinerinnen) heißt? Die Warzen-Geschichte bringe ich demnächst. Hier leitet sie prompt zur letzten Klage über.

Stellt Schulbuchautor Hans Jürgen Heringer (Grammatik und Stil, Ffm 1989) am Beginn seines Abschnittes über Wortbildung fest, für sie gebe es »besondere Regeln und besondere Zeichen«, erweckt er zumindest beim blutigen Laien die Hoffnung, nun könne man beim Verstehen oder Bilden neuer Wörter nicht mehr fehlgehen. Aber das ist ein Trugschluß. Hering teilt zunächst in die beiden Wortbildungs-Grundarten Zusammensetzung und Ableitung ein – nach welchen eben beispielsweise Wörter wie Wortbildungs-Grundart und Trugschluß, blutig und fehlgehen entstehen. Und dann teilt er diese Grundarten wiederum unter und unter und unter. Nur die unfehlbar wirkenden Rezepte rückt er nicht heraus. Er betont im Gegenteil wiederholt, bei der Wortbildung sei fast alles erlaubt, und wer nicht aufpasse, erfahre die Grammatik leicht als Glatteis. Das stammt freilich von mir. Etwa zu wissen, »eis« sei das Grundwort, »glatt« das Bestimmungswort, ist eher Glücksache, und die bekannte Methode der Analogie, oft sehr fruchtbar, führt in jedem zweiten Fall in die Falle. So weist Heringer zurecht daraufhin, ein Hinterhaus sei das Haus hinter einem anderen Haus, wogegen eine Hintertür keineswegs eine Tür hinter einer anderen Tür sei. Beide Häuser, Vorder- wie Hinterhaus, könnten eine Hintertür haben. Das Thermometer steige bei Erwärmung; es sinke aber nicht automatisch, wenn der Thermometer-Besitzer an einer Erkältung leide. Es erkältet sich also nie. Für die interessante Zusammensetzung »Schuhdackel« führt Heringer allein vier mögliche Deutungen an, die sich erst durch den jeweiligen Text-Zusammenhang klären ließen: Dackel mit Schuhen / Dackel, der einem die Schuhe bringt / Dackel, der für die Schuhwerbung erfunden wurde / jemand, der wie verrückt mit der Schuhmode geht.

Mein nur wenig älterer Duden (1983) kennt keine Schuhdackel. Dagegen kennt das Internet keine Schuhdackel in den von Heringer genannten vier Bedeutungen, wohl aber eine fünfte Bedeutung. Danach gibt es gelegentlich vor Haustüren Schuhkratzer in Gestalt eines mit einer Art Rückenflosse ausgestatten Dackels. Der Schuhkratzer hat es allerdings auch in sich. Ich selber bin kürzlich über die vermeintliche Analogie Hochwildjäger — Sportfischer gestolpert. Wäre es eine, müßte der Fischer darauf erpicht sein, einen schönen Sport an die Angel zu bekommen, keinen Hecht. Der Niedersachse Philipp Heinrich Ast (1848–1921) wird zuweilen abgekürzt als Schäfer und »Kräuterheiler« ausgegeben – was wohl nicht zu dem Schluß verführen darf, analog »Automechaniker« habe der Gute insbesondere Kräuter gut behandelt. Eine große Verwirrung richten oft »Zugführer« oder »Zugführerin« an. Laut Duden handelt es sich um die Person, die in einem Zug die Aufsicht führt, Chef oder Chefin des Zuges also, nicht dagegen um den Lokführer oder »Triebfahrzeugführer«, wie die Bahnleute inzwischen dazu sagen. Bei denen war wiederum der Trieb zu mammutiver Wortbildung am wirken.

Kurz, bei der Wortbildung im Deutschen wird ein Wildwuchs zugelassen, der von jedem Schriftsteller neu gezähmt werden muß. Heraus kommt dann persönlicher Zahmwuchs.

Vielleicht sind mir noch ein paar Bemerkungen zur Grammatik überhaupt gestattet. Nach meinem Brockhaus behandelt die Grammatik den Bestand, die Gestalt und die Leistung sprachlicher Formen. Zwar gibt es auch universale grammatische Züge, aber ansonsten hat jede Sprache ihre eigene Grammatik. Die der deutschen ist besonders aberwitzig, weil sie jede Regel mit einer Flut von Ausnahmen und Zweifelsfällen überschwemmt. Da das noch nicht ausreicht, macht uns Brockhaus auch noch mit der Einteilung des wissenschaftlichen Fachs Grammatik in Spezialgebiete bekannt. Er kennt um die 40. Das geht von der »deskreptiven« über die »stratifikationale« bis zur »konfrontativen« Grammatik. Nimmt man das mit der Anzahl deutscher Hochschulen mal (rund 400) und hängt dann noch zwei Nullen dran (wegen der freiberuflich tätigen ForscherInnen oder Autoren, Fachjournalisten eingeschlossen), weiß man ungefähr, wieviele Leute die Grammatik allein in Deutschland ernährt: 1,6 Millionen.

Warum wir diese 1,6 Millionen und die Grammatik überhaupt benötigen, verrät Brockhaus nicht. Ich vermute freilich stark: wollte jeder Deutsche die Sprachformen so eigensinnig oder willkürlich bilden wie (nicht als!) einerseits der Südbayer, andererseits der Nordfriese, trüge das Verständnis in diesem Lande rasch babylonische Ausmaße. Um solche Verwirrung zu verhindern, ist man neuerdings allerdings nicht mehr auf Grammatik angewiesen. Globallisierung genügt. Man benutzt einfach die gängigen angelsächsischen Worte oder erklärte alles und jedes für (französ.) »sensibel« oder »interessant«. Damit werden die Lehrbücher verschiedener »Plan- oder Kunstsprachen«, etwa Esperanto oder Interlingua, für das nachhaltige (=einträgliche) Papier-Recyling frei.

Würde sich ein ernsthaft schriftstellernder Mensch an grammatischen – ähnlich wie bei orthografischen – Klippen blaue Flecken zuziehen, sähe mich, nach rund 25 Jahren, in Nacktstrandbädern vor wolkenlosem Sommerhimmel kein Mensch mehr. Ich hoffe, jetzt ist mein Sommerhimmel korrekt. Ich habe mich nämlich noch einmal bei Heringer in die Frage der schwachen / starken / parallelen Deklination (Beugung) von Eigenschaftswörtern vertieft, weil ich fürchte, in ihr wuchert in meinen Blog-Texten einiger schwankender Wildwuchs, der sich vermeiden ließe. Das gilt wohl besonders für den Dativ. Im Beispiel kann man ja fragen: unsichtbar vor wem oder was? Eben »vor wolkenlosem Sommerhimmel«. Habe ich Kapazität Heringer nicht mißverstanden, müßte »wolkenlos« dagegen schwach gebeugt werden, wenn vorher bereits ein Artikelwort den Dativ anzeigte. In diesem Fall stünde da etwa »vor einem wolkenlosen Sommerhimmel«.

Gleichwohl bin ich außerstande, die Frage zu verscheu-chen, ob dieser eher geringe, wohl kaum für die Aussage des Satzes prägende Unterschied zwischen n- und m-Endung so wichtig ist, daß man ganze Doktorarbeiten darüber schreibt. Sie werden vielleicht einwenden: wird hier nicht einheitlich verfahren, wird der Lesefluß behindert. Die LeserInnen stolperten über mein falsches m wie über mein falsches ß. Während sie über »sensibel« und »interessant« nicht stolpern, höhne ich. Sie sollen sich nicht fragen, ob es so etwas wie sensible Daten überhaupt geben könne. Oder ob eine Frage nicht, statt interessant, eher reizvoll, spannend, aufwühlend sei. Ältere Nachschlagewerke kennen für interessant ungefähr 40 Synonyme, die jeweils in bestimmtem (!) Zusammenhang besonders treffend sind. Wir sollen uns aber nicht besonders treffend ausdrücken; wir sollen funktionieren.
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