Dienstag, 23. August 2022
Bott 1 Kein Gardon

Avignon glich einem Backofen. Unter jedem Gewölbe, das Schatten bot, standen unweigerlich StraßenmusikerInnen, die es offenbar zum Einsturz bringen wollten. Bott schüttelte den Kopf, ging zur Rhônebrücke hinunter und stellte sich Richtung Nimes auf.

Ein kahlköpfiger Dicker in einem zerschrammten offenen Jeep erbarmte sich, ehe Bott zu Kalk gebrannt worden wäre. Unter seinem struppigen braunen Vollbart lag ihm das Lenkrad wie ein Säugling an der Brust. Da er noch schlechter Englisch sprach als Bott, konnte sich dieser den Weinbergen und Tomatenfeldern widmen, die an ihnen vorüberflogen. Durch den Fahrtwind wurden Botts Sinne wieder geschärft. Er bemerkte sogar, daß die Strauch-tomaten durchweg blau gesprenkelt waren – vermutlich kaum von der Palette eines Van Gogh oder eines Cézannes.

Die Landstraße berührte eine Schlucht. Im nächsten Dorf bremste der Dicke vor einer Bar. Er bedeutete Bott, er sei eingeladen.

Sie tranken ihren Milchkaffee vor der Bar am Straßenrand, wo einige runde Tischchen mit Korbsesseln aufgestellt waren. Aus dem Inneren der Bar ließ sich ein surrender Ventilator hören. Es ging schon auf Mittag zu. Während ein rotbraunes Huhn über die Straße stolzierte, huschte hin und wieder ein Schwalbenschatten über die weißgetünchte bucklige Hauswand der Bar. Vor dieser Wand saß Gudrun.

Sie hatte die Ankunft der beiden Männer über den Rand ihres Buches hinweg verfolgt. Gegen den vollbärtigen Dicken wirkte der Schwarzmähnige fast wie Don Quichotte. Sie verhehlte ihre Neugier nicht. Bott seinerseits konnte ohne Schwierigkeiten den Titel ihres Buches lesen, das aus dem Hanser-Verlag stammte: Alle unfrisierten Gedanken von Stanislaw Jerzy Lec.

»Sie sprechen kein Polnisch ..?« wandte sich Bott an die blonde, schlacksige Frau, die höchstens Ende 20 sein konnte. Denn Lec war Pole, soviel wußte Bott. In der gewesenen DDR, wo Bott herkam, hatte er gerüchteweise von dem aufmüpfigen Schriftsteller gehört.

Gudruns Antwort beschränkte sich zunächst auf ein Lächeln. Sie trug ihr Haar in kurzen Fransen und steckte in einem schwarzen Fähnchen, durch das sie gleichsam an die weiße Hauswand modelliert wurde. Wie es schien, war sie damit einverstanden, in Bott keinen Spanier vor sich zu haben. Sie wich seinem Blick nicht aus. Dadurch kam zwangsläufig jenes Anbändeln in Gang, das vermutlich westlich der Werra kaum anders als östlich gepflogen worden war.

Der vollbärtige Dicke hatte wohl schon gerochen, was im Busche raschelte. Nachdem er aus der Bar zurückkam, wo er die Rechnung beglichen hatte, bedeutete Bott ihm seine Absicht zu bleiben, obwohl er mit Gudrun noch kein Wörtchen gewechselt hatte. Der »Wildhüter« – wie sie ihn später nennen würden – schmunzelte nur und nickte. Dann deutete er eine beinahe graziöse Verbeugung zur Hauswand hin an und ging über die Straße. Bott folgte ihm, um seine Reisetasche aus dem Jeep zu angeln. Der Dicke klemmte sich hinters Steuer und zwinkerte ihm noch einmal zu: ermunternd und völlig neidlos.

Der Jeep heulte auf, während Bott zur Bar zurückging. Er ließ sich neben Gudrun in einem der ächzenden Korbsessel nieder und sah dem Dicken nach. Das Huhn, das vor der jenseits gelegenen Bruchsteinmauer gescharrt hatte, war gackernd davongestoben. Über der Straße hing eine Wolke aus Abgasen und Staub.

Bott sah Gudrun an. »Auf dem Rücksitz lag eine olivgrüne Schirmmütze«, nickte er zu der Wolke. »Vom Kopfe wäre sie ihm ja sowieso weggeflogen.« Sie lachte, beugte sich vor und strich ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Damit war der Bann gebrochen. Sie erfuhren von ihrem Woher und Wohin. Bott hatte nichts Bestimmtes im Auge. Hauptsache, südlich der Werra. Er hatte bereits die 40 überschritten. Die Umzäunung der DDR hatte seinem jugendlichen Feuer nicht gestattet, sich ein wenig in die Welt auszubreiten. Jetzt war die DDR im stickigen Pansen von Kanzler Kohl gelandet, der freilich nur der Vorkoster für kapitalkräftigere Leute war.

Gudrun kam aus München und zeltete gegenwärtig ungefähr zwei Kilometer vom Dorf entfernt in der Schlucht des Gardon. Sie machte auch keinen Hehl daraus, daß sich Bott die Stelle gern einmal ansehen könne. Der bequemere Weg führe – dem Jeep nach – über die Landstraße. Doch unten durch die Schlucht sei es sicherlich aufregender. Bott war einverstanden.

Das Dorf lag zum Teil am Hang. Durch eine steile abschüssige Gasse liefen sie zum Gardon hinunter. Der schmale Fluß machte hier einen Knick, den ein Wehr abschloß. Dadurch hatte sich ein vor allem von der Jugend genutzter Badeplatz ergeben. Oberhalb des Wehres sprang ein Felsen aus der jenseits gelegenen Schluchtwand vor, der einigen Tollkühnen sogar als Sprungturm diente. Aus sicherlich sieben Meter Höhe glänzten sie mit Kopfsprüngen oder Überschlägen. Bott und Gudrun sahen eine Weile zu. Dann wandten sie sich flußaufwärts. Sie streiften ihre Sandalen ab, denn nun galt es, den Wasserweg zu nehmen, weil die schmalen Uferstreifen unterhalb der Schluchtwände gleich hinter dem Knick völlig unwegsam waren.

Reisetasche über der Schulter, stakte Bott in dem flachen Wasser hinter Gudrun her. Auch das Wasser war hinderlich mit rundgeschliffenen Steinen oder schroffen Felsbrocken gespickt. Schon von daher hatte Bott mit seinem Gleichgewicht zu kämpfen; bald kamen Gudruns Kniekehlen hinzu, die ihm wie kleine, sanft gebauschte Segel erschienen. Sonnenkringel, schwirrende Libellen und Schmetterlinge, die auf einem Stein mit ihren Flügeln pumpten, als wollten sie diesen mit nach Hause nehmen, überzogen die tiefe, kühle Schlucht mit flammenden Tupfen. Wandte sich Gudrun zuweilen um, übergoß sie ihren unerwarteten Besucher mit einem Lächeln, das vermutlich auch den Dicken ins Wanken gebracht hätte. Bott war bei seiner Länge eher zartgliedrig gebaut. Als gelernter Polsterer verfügte er allerdings über einige formgebende Kräfte, die nicht immer leicht zu zügeln waren.

Statt sich zu verengen, wie man doch erwartet hätte, traten die krüpplig bewachsenen Steilhänge der Schlucht allmählich auseinander. Sie waren seit ungefähr einer halben Stunde unterwegs. Der Gardon verlief jetzt nur noch in Rinnsalen. Hier und dort waren von Kiesbänken abgeteilte Lagunen entstanden, die für ein paar Schwimmstöße gut waren. An den Hängen und auch zum Teil im Wasser wucherte üppiges Kraut.

Nach einer Biegung hielten sie auf ein Schild zu, das mitten im seichten Wasser aufgepfählt worden war. Bott blickte stirnrunzelnd zu Gudrun, die es lächelnd passierte. Sie hob dabei ihren Zeigefinger und erklärte Bott:

»Sie betreten jetzt ein Naturschutzgebiet. Glücklicherweise sind Sie in der Obhut einer Befugten, deren Anweisungen Sie strikt Folge zu leisten haben. Aber wir sind auch gleich da.«

Tatsächlich kam nach kaum 100 Metern hinter einer Felsnase ein kleines weißes Zelt in Sicht. Es stand zwischen Büschen an der Schluchtwand. Ein Kieselstrand von viel-leicht 15 Meter Breite fiel zu Gudruns privater Lagune ab.

»Na endlich!« ächzte Bott übertrieben, warf seine Reisetasche in hohem Bogen auf die Kiesel und blickte Gudrun unternehmungslustig an, während er die Arme in seine Seiten stemmte.

Sie freute sich und faßte seine Arme als Hafen auf.

Als die Küsserei zu heftig wurde, kippten sie notwendig um und küßten sich in dem seichten Wasser weiter. Dessen Kälte wirkte eher anstachelnd.


2

Die Handwerker lieben es, sich in ihren Pausen über ihre »Traumfrau« oder den »Typ« von Frau zu unterhalten, den einer bevorzuge. Bott hatte so etwas nie. Von daher ist es auch überflüssig Gudrun zu verklären. Sie war zufällig in seiner Reichweite aufgetaucht. Zufällig konnte sie ihre Stupsnase in die Kuhle hinter seinem Schlüsselbein bohren, wenn sie sich aneinander schmiegten. Von ihren kecken Brüsten sah sich Bott dabei sozusagen zum Glückspilz gestempelt. Den modernen Kuschelsofas, in denen man fast ertrank, zog er doch Konturen vor. Für den Winzer dagegen, bei dem Gudrun im Dorf ihr Motorrad unterstellen durfte, gab sie einen bemitleidenswerten Glockenstrick ab, den er am liebsten gemästet hätte, bis er einem Weinfaß gliche. Genau so sah auch die Winzerin aus.

Mit Gudruns Motorrad hatte es folgende Bewandtnis. Die BMW 500 wirkte noch ziemlich neu und war ungefähr so bunt wie ein Stieglitz lackiert, denn Gudrun liebte die Vögel. Zumindest von dieser Liebe sollte auch eine tiefe Spur in Bott zurückbleiben. Mit den Fahrzeugen dagegen erging es ihm später umgekehrt. Fiel ihm zuweilen ein, daß er einmal auf einer lärmenden Dreckschleuder aus dem Hause einer Stinkreichen namens Susanne Klatten durch das Land der französischen Impressionisten gebraust war, verwandelte ihn sein Schamgefühl vom Schwarz- zum Rotmilan. Denn zu allem Überfluß lenkte ja eine angehende Biologin die bunte BMW 500. Der erwähnte Winzer sah freilich jedesmal mit Bewunderung zu, wie Gudrun ihr stählernes Ungetüm vom Ständer und dann in Gang bekam, ohne unter ihm begraben zu werden. Sie unternahmen fast täglich einen Ausflug. Gudrun hatte unweit ihres Zeltplatzes einen Pfad am Steilhang entdeckt, der zur Landstraße führte, die oben verlief. So brauchten sie nur 10 Minuten bis ins Dorf, wo sie einkauften, in der Bar saßen oder eben das Motorrad aufzäumten.

Dieses Gefühl allerdings kostete Bott auch später noch gerne aus: sich an eine reizende Vordermännin zu klammern, die außer Sturzhelm und gepolstertem Lendengurt kaum etwas anhat. Hätte das Schicksal es nur gewollt, wären die beiden sicherlich schon nach wenigen Wochen zu einem vorbeifliegenden Wahrzeichen im Departement Gard geworden. Auf einem Trödelmarkt in dem Städtchen Alès hatte Bott nämlich eine gefütterte Fliegermütze aus braunem Leder ergattert, die er von da an in Ermangelung eines Sturzhelmes trug. Die Ohrenklappen ließ er stets im Fahrtwind flattern, weil er sich gern an dem Dröhnen der weiblich befehligten Maschine berauschte. Dieses Dröhnen rüttelte im Departement Gard so manche eingenickten Großmütter und Singvögel auf.

Gudrun war in Nordfriesland aufgewachsen, studierte jetzt aber in München Biologie. Daher ihre eigenmächtig erteilte »Befugnis«, in einem südfranzösischen Naturschutzgebiet zu zelten. Bott gönnte es ihr von Herzen. Ihre spezielle Neigung zu den Vögeln war schon fast Besessenheit. Für den Anblick eines weißköpfigen Fischadlers hätte sie wahrscheinlich sogar ihren Orgasmus unterbrochen. Zum Glück war der Gardon zu seicht für Fischadler. Der körnige Seewind hatte Gudrun zum zerfransten »Glockenstrick« gemacht, doch in ihrem Wesen war sie fest und gradlinig. Auch ihre Stimme klang herb. Sie selber bezeichnete sich hin und wieder etwas zerknirscht als »Nordbiberin«, weil ihre oberen Schneidezähne ein wenig hervorstanden. Bott trank dann jedesmal umso lieber die Bitternis von ihren spröden Lippen weg.

Bei einem ihrer Ausflüge machten sie an der berühmten Pont du Gard Station, von der die Schlucht des Gardon keine 10 Kilometer flußabwärts durchschnitten wurde. Es handelt sich um einen gewaltigen dreistöckigen Aquädukt aus römischer Zeit, den vermutlich schon Goethe begaffte, bevor sich dieser von Tischbein malen ließ. Sie erfaßten den Wahnwitz der Stätte trotz ihrer gemeinsamen Motorradmeise. Am Straßenrand waren die Reisebusse aufgefädelt; auf dem altehrwürdigen Gemäuer aus gelblichem Tuffstein turnten touristische Affenherden; unten am Fluß, der hier ein Eckchen Sandstrand zu bieten hatte, lagen die Erholungsuchenden wie die Ölsardinen. Dann kehrten Gudrun und Bott an ihre Lagune zurück. Nichts war zu hören als zuweilen ein Rascheln im Gebüsch oder ein Glucksen zwischen den Wasserpflanzen. Sie sprachen unwillkürlich mit gedämpfter Stimme, wenn sie sich etwas erzählten.

Gudrun machte Bott mit manchen Seltenheiten bekannt. So trafen sie den Bienenfresser, der mit seiner plakativen Farbenpracht den Stieglitz und selbst Gudruns Stahlroß in den Schatten stellte. In der Naturschutzzone zeigte sie Bott den zartrosa blühenden, aber kratzbürstig wirkenden Sumpf-Sitter. Dort gab es auch Fischotter. Dafür hatte sich bis zu dem Zwischenfall mit dem Kofferradio – der sich nach knapp zwei Wochen ereignete – nicht ein zweibeiniges Wesen an ihren Zeltplatz verirrt. Bott nahm stark an, weder Erich Honecker noch der grüne Starlinke Joschka Fischer hätten in diesem Fall von paradiesischen Zuständen gesprochen, obwohl bei Marx oft vom Jagen und Fischen die Rede ist. Die Begierde dieser Männer war eher auf den »lärmenden Betrieb« gerichtet, »den sie hinterher Geschichte nennen«, so Ernst Kreuder in einem Roman.

Während Bott mit Vergnügen in Gudruns Buch mit den Aphorismen S. J. Lecs las, beschäftigte sie sich oft mit seiner Mundharmonika. Bott hatte sich diese chromatische Mundharmonika für die Fälle zugelegt, in denen er seine innig geliebte Gitarre nicht mit sich führen konnte oder wollte. Ihren Namen verdankte sie nicht etwa ihrem Chrom. Sondern einem seitlich betätigten Schieber, durch den sich der Ton eines jeden Kanals um einen halben Tonschritt erhöhen läßt. Dadurch kann auf solchen Mundharmonikas in sämtlichen Tonarten gespielt werden. Freilich war weder die Bedienung des Schiebers noch das Anblasen der Kanäle kinderleicht, wie Gudrun rasch erkennen mußte. Übergab sie anfangs das Instrument ihrem Lehrer Bott, klopfte dieser jedesmal einen halben Liter ihres Speichels aus den Kanälen. Während die Zikaden in der Abenddämmerung die Schlucht in ein Umspannwerk zu verwandeln suchten, verblüffte ihn Gudrun einmal mit dem versonnen vorgetragenen Zitat: »Nemo me dacrumis decoret nec funera fletu / Faxit. Cur? Volito vivos per ora virum.« Sie schrieb es Bott einschließlich der Übersetzung auf. Es handle sich angeblich um die selbstgefertigte Grabinschrift des römischen Dichters Ennius. Niemand soll mich mit Tränen ehren noch mit Weinen meine Bestattung begehen. Warum? Ich schwebe lebendig auf den Lippen der Männer.


3

Eines Morgens wurde Bott von einem ungewohnten und reichlich unangebrachten Geräusch veranlaßt, seinen Kopf aus Gudruns Achselhöhle zu heben. Ein Radio plärrte! Gudrun schlief noch. Bott knurrte und schlüpfte aus dem Zelt ohne zu bedenken, daß er nackt war. Dies war ihnen nämlich längst zur Gewohnheit geworden.

Das Geplärr kam von ihrem Ufer. Es stieg hinter der Felsnase auf, die sich linkerhand in die Lagune schob. Um die Stelle einsehen zu können, watete Bott ins Wasser. Es war natürlich kalt, aber was ihn erstarren ließ, war der Anblick, der sich ihm bot. Am Ufer hatte sich offenbar ein ganzer einheimischer Clan ausgebreitet, der auch mehrere Kinder umfaßte. Das Kofferradio stand über einer geduckten jungen Frau, die eben ihren Kamm aus dem Korb gezogen hatte, auf einem Felsvorsprung. Das Familienoberhaupt, ein dürrer weißhaariger Alter im Campingstuhl, setzte mit einem Ruck den Säugling von seinem Schoß in den Sand. Ein schnauzbärtiger Bursche in knallroter Badehose dehnte sein Handtuch wie einen Expander, während seine Blicke den entblößten Geschlechtsgenossen Bott bereits töteten. Der Alte sprang auf und tappte wutentbrannt ins Wasser. Während er fuchtelnd gegen den Radiolärm anwetterte, deutete er abwechselnd auf Bott und die ihm anempfohlenen unschuldigen Frauen, Kinder, Urenkel. Sechs oder sieben Schritte trennten Bott von dem Alten. Der bückte sich plötzlich nach einem dicken Stein, den er mit seiner Kralle kaum festhalten konnte. Er brachte ihn in Schwung als befände er sich bei einer Kegelpartie. Bott war unfähig sich zu rühren; vielleicht war auch Trotz dabei. So starrte er auf den wütenden Alten, der ihn mit seiner Armschleuder zu verscheuchen oder zu vernichten trachtete.

Dann krachte der Schuß. Er zerriß den Radiolärm, warf den Stein ins Wasser, ließ das gedehnte Handtuch in den Sand gleiten. Jetzt waren auch die Eindringlinge wie gelähmt. Ihre entgeisterten Blicke waren offensichtlich auf einen Punkt geheftet, der über Botts schwarzer Mähne auf der anderen Schluchtseite lag.

Bott wandte sich unwillkürlich so langsam um, wie er es beim heimlichen Westfernsehen John Wayne oder Clint Eastwood abgeguckt hatte. Er entdeckte das Gesicht des Schützen auf Anhieb, obwohl es von dunklem Bartgestrüpp und dichtem Buschwerk umgeben war. Der Gewehrlauf blitzte in der Sonne. Dann ging eine Hand zum Kopf und lüftete lässig eine olivgrüne Schirmmütze. Der Dicke mit dem Jeep! Schon ließ Botts Retter eine kurze gebellte Schimpfkanonade los, deren Übersetzung sich erübrigte. Bott warf einen Blick über seine Schulter. Die Badegäste rafften bereits zähneknirschend oder kleinlaut ihre Siebensachen zusammen. Sie nahmen sogar die leeren Coladosen mit. Dann verschwanden sie auf dem Bergpfad zur Landstraße. Nur ein paar Kleinteile des zerborstenen Kofferradios übersahen sie. Der Dicke hatte es immerhin auf 30, 40 Meter mit dem ersten Schuß getroffen, ohne dabei zum Beispiel den Scheitel der geduckten jungen Frau zu vertiefen. Bott wandte sich wieder um. Doch sein Blick suchte den Steilhang vergeblich nach seinem Retter ab. Er hatte sich ebenfalls verdrückt.


4

Kopf auf den umschlungenen Knien, saß Gudrun im Zelteingang. Sie wirkte etwas abwesend, obwohl sie Bott entgegenblickte. Vor ihr lag ihr Fernglas. Bott angelte sich Hose und Hemd, denn ihn fröstelte. Dann fuhr er Gudrun übers Haar und ließ sich neben ihr nieder.

Der Schuß hatte Gudrun aus den Federn geholt. Darauf hatten sie und der »Wildhüter« sich gegenseitig im Feldstecher aufs Korn genommen. Er habe gegrinst und ihr mit der Mütze zugewunken, bevor er mit seiner Flinte im Gesträuch untergetaucht sei.

Bott nickte. »Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht. Auf der Fahrt erwähnte er, eine Station im parc nationale Soundso zu leiten. Jetzt wissen wir ungefähr, wo.«

Gudrun kicherte. »Ob er uns schon die ganze Zeit beobachtet hat?«

»Selbstverständlich«, nickte Bott heftig. »Sonst hätte er sich ja nicht davon überzeugen können, daß du fachfrau-lich sorgsam mit Vertretern vom Aussterben bedrohter Arten umzugehen verstehst ..!«

Prompt stach ihn Gudrun mit ihrem spitzen Ellenbogen. Bott grinste nur. Es machte ihm wenig aus, sollte er mit seiner Behauptung richtig liegen. Die Spitzel der Stasi hatten für seine Abhärtung gesorgt. Bei einer kurzzeitigen Festnahme hatten sie ihn sogar einmal gezwungen, eine »Geruchsprobe« zu hinterlassen. Dazu mußte er sich eine Art Staubtuch unter die Achselhöhle klemmen, das sie dann, wie ihm später alte Hasen erklärten, in einem luftdicht verschlossenen Glas aufbewahrten. Das hatte lediglich zu einer Beeinträchtigung von Botts Hundeliebe geführt. Im Westen waren die Polizeiköter allerdings noch schlimmer, da auf Haschisch geeicht.

Gudrun war in Schweigen verfallen. Um sie aufzumuntern, schilderte ihr Bott die »Okkupanten«, die sich hinter der Felsnase breitgemacht hatten, sowie die Anbahnung seiner in letzter Sekunde durch den Wildhüter vereitelten »Steinigung«. Für diesen Ausdruck zeigte ihm Gudrun allerdings ein Vögelchen. Die Zertrümmerung des Kofferradios hatte sie sich schon zusammengereimt. Fragen stellte sie nicht. Bott hatte den Eindruck, in ihr arbeite irgendein Unbehagen. Er wartete ab.

Neben dem Augen- und Ohrenmerk für die Vögel sollte Bott Gudrun die nachhaltige Lektüre von Lecs Aphorismen verdanken, denn er bestellte sich das Buch, sobald er wieder in Erfurt eintraf. Erst dort stieß er dann auf einen Satz, der ihn – halb spöttisch, halb wehmütig lächelnd – an den Sandstreifen hinter der Felsnase denken ließ. »Wenn wir die Wüsten bevölkern, verschwinden die Oasen.« Er konnte allerdings noch nicht wissen, daß er nach einigen Jahren Freier Marktwirtschaft versucht sein sollte, selbst der DDR als einer verschwundenen Oase nachzutrauern.

Gudrun benagte verdächtig hartnäckig ihre Unterlippe. Bott war schleierhaft, was wohl in ihr vorgehen möge. Nach einigen Minuten erfuhr er es. Da platzte sie nämlich heraus:

»Es war ein Warnschuß! Eine Mahnung!«

Bott runzelte die Stirn. »Wie meinst du das? An uns gerichtet?«

»Ja.«

Sie nickte und fuhr fast ein wenig belustigt fort: »Ich erwähnte ja eimal flüchtig, ich hätte mich erst in diesem Frühjahr von einem Mann getrennt, mit dem ich etliche Jahre zusammen war. Mein Gott, Bott! Welches Drama, bis wir uns voneinander losgeeist hatten! Erst Langweile, dann Haarspalterei … Vielleicht erinnerst du dich auch noch an die Provencegrasmücke, die ich dir kürzlich gezeigt habe. Im Althochdeutschen hießen die Grasmücken noch Grasschmiegen. Vögel, die sich durch Gebüsch oder Riedgras schmiegen, nebenbei begabte Sänger, verkommen über Jahrhunderte hinweg, aufgrund eines sorglosen Sprachwandels in der bewegten Menschenwelt, zu Mücken. Bei menschlichen Liebespaaren findet diese Entwicklung binnen weniger Monate oder bestenfalls Jahre statt. Ich finde, lieber Bott, das sollten wir verhindern.«

Bott blickte sie derart verdutzt an, daß sie auflachte und ihm wieder einmal die Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. Doch sie gab keine weiteren Erklärungen. Offenbar war sie auch nicht an einer Diskussion interessiert, denn sie sprang auf, um in den Büschen zu verschwinden. Wenig später lief sie zum Wasser.

Es erübrigte sich darauf zurück zu kommen. Bott sah rasch ein, sie hatte recht. Sie blieben noch eine Woche zusammen in der Schlucht des Gardon; dann warf sich Bott seine Reisetasche über die Schulter und nahm den Pfad zur Landstraße. Sie sahen sich nie wieder.
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