Mittwoch, 17. August 2022
Köfel 7 Bohumil

Vor einigen Jahren war Köfel nur seinem versetzten Chef zuliebe nach Gotha gezogen. Freiwillig hätte er das nie getan. Merkwürdigerweise gab es nämlich in der traditionsreichen Residenz- und Kreisstadt nicht einen Hauch einer linksradikalen Szene. Gotha war immer eine Hochburg der Linken gewesen. Das Gothaer Programm der frühen Sozialdemokraten dürfte sogar manchem westdeutschem Bürger etwas sagen. Auch USPD und KPD waren ungewöhnlich stark verankert. Doch spätestens seit der sogenannten Wende um 1990 scheint alles Zu-linke als Sünde zu gelten. Ob Plakate, Club, Kneipe, Kino, Buchladen – nichts. Die neuen Sozialdemokraten aus der Ex-PDS und ihre Einrichtungen können wir ja nicht zählen. Eher ersticken sie jeden linksradikalen Hauch mit ihren karrieristischen Vorbehalten im Keim.

Andererseits wäre Köfel ohne den Umzug von Südhessen nach Thüringen sehr wahrscheinlich niemals Jule Klaas begegnet, sodaß er ihn nicht bereute. Fiel ihnen einmal in Köfels Gothaer Erkerzimmer die Decke auf den Kopf, fuhren sie meist nach Waltershausen. Zwar wäre es gar zu sehr geschmeichelt, Köfels Kumpel Ulf und die Puppenfabrikkommune mit ihrer Veranstaltungskneipe Spatz als Waltershausens linksradikale Szene zu bezeichnen, doch das war immerhin besser als gar nichts. Auch das Erlernen des Tangotanzens war vielleicht noch nicht der revolutionäre Durchbruch. Jule hatte Köfel überredet. Durch den Tango-Kurs im Spatz hielten sie sich neuerdings sogar jede Woche einmal in dem Städtchen am Fuße des westlichen Thüringer Waldes auf. Auch diese Fortbildung bereute Köfel nicht. Beherrschte man die ersten Schritte und Würfe, kam man wirklich auf den Geschmack. Der Tango-Kurs fand jeden Dienstagabend statt, wenn der Spatz – wie auch montags – Ruhetag hatte. Er galt als geschlossene Gesellschaft.

Da Ulf und dessen Geliebte Ines ebenfalls teilnahmen, lag es für Jule und Köfel nahe, in Ulfs Riedhäuschen am Stadtrand zu übernachten. Unsere Geschichte setzt an einem Dienstag im Februar um 23 Uhr 12 in Ulfs Wohnküche ein. Köfels Handy dudelte. Es war sein Chef. Dieser wußte natürlich um die regelmäßigen Tango-Umtriebe seines Lieblingsmitarbeiters. Davon abgesehen, konnte er sich gegen Köfel fast jede Unverschämtheit herausnehmen, denn dieser verehrte ihn.

»Hallo, mein Bester. Wie ich sehe, scheinen Sie weder zu tanzen noch zu schlafen … Am frühen Abend – vermutlich mit der Dämmerung – hat es bei Waltershausen einen Jagdunfall gegeben – falls es einer war. Ein Mountainbike-Fahrer alarmierte die Polizei. Er hatte am Otterbachsteich unterhalb von Deyßingslust einen jaulenden Hund vernommen. Der Hund umstrich einen Hochsitz, der dort am Waldrand steht. Das heißt, jetzt steht er nicht mehr. Er war zusammengebrochen. In den Trümmern entdeckte unser Radfahrer den Jäger, der zu dem Hund gehörte. Zwar schien er noch zu leben, doch auf der Fahrt zum Krankenhaus starb er. Unsere Schupo-Kollegen konnten am Tatort verständlicherweise nicht viel ausrichten. Es wurde ja dunkel. Verdächtige bemerkten sie nicht. Der Radfahrer kommt schon deshalb kaum in Betracht, weil sich der Hund dankbar gegen ihn zeigte. Die Kollegen meinten, im Scheinwerferlicht wirkte der zusammen-gebrochene Hochsitz nicht gerade morsch.«

»Haben sie ihn gesichert?« wollte Köfel wissen.

»Ja, Mensch – sie haben ihn natürlich wie üblich abgesperrt. Aber sollten sie etwa einen Campingbus anfordern, um mal eine romantische Nacht im Thüringer Wald zu verbringen?«

»Mit anderen Worten, ich soll mit dem ersten Sonnenstrahl dahin kriechen und jeden Pfosten einzeln umdrehen und alle 100 Fußabdrücke der lieben Kollegen mit Kunstkautschuk ausgießen.«

»Sie sagen es. Nehmen Sie die Sache gleich morgen früh in Augenschein. Ich vermute, Sie stecken bei Ihrem Bekannten Ulf? … Dann wird Sie Voßkämpen um 7 bei Ulf abholen. Geben Sie mir bitte die Adresse.«

Köfel tat es und erhielt im Gegenzug die Personalien des Zeugen und des Verstorbenen. Damit wünschte ihm sein Chef noch einen schönen Abend.

»Sehr witzig«, knurrte Köfel, während er sein Handy wieder einsteckte. »Morgen früh um 7 schickt er mir einen Bullenwagen auf den Hals!«

Sie saßen zu viert um den Küchentisch, auf dem noch die abgegessenen Teller standen. Ines lächelte. »Wo sollst du denn hinkriechen, um irgendwelche Pfosten zu untersuchen?«

Köfel gab die Geschichte wieder. Morgen früh stand sie sowieso in der Zeitung.

»Wie heißt denn der Jäger?« wollte Ulf wissen.

»Ein Hubert Wiedenhaupt aus Waltershausen.«

»Oh!« machten Jule und Ulf im Chor, nachdem sie sich angeblickt hatten.

»Muß man Wiedenhaupt kennen?«

»In Waltershausen kennt ihn jeder«, klärte Jule Köfel auf. »Aber Ulf kennt ihn vermutlich schon länger als ich.«

Ulf nickte und setzte Köfel wie auch seine Geliebte Ines, die in Eisenach lebte, ins Bild. Wie immer bei Ulf, gab es dazu vorzüglichen Wein.

Der 52jährige Hubert Wiedenhaupt war steinreicher Immobilienhändler, Stadtverordneter und daneben der größte Bewunderer seiner eigenen Person – gewesen. Als Wohn- und Arbeitsstätte diente ihm bis zu seinem jähen Tod ein Haus, das allgemein als das Juwel der winzigen Waltershäuser Altstadt galt. Eingepaßt in die Häuserfront, lag das dreigeschossige Jugendstilgebäude aus hellem Sandstein kurz vorm Klaustor in der Hauptstraße. Es hatte vor Wiedenhaupt die Wohn- und Geschäftsräume der Lederfabrik Fridolin Gebhardt beherbergt. Trotz eines von Löwen bewachten gewölbten Portals wirkte die aufgelockerte Fassade nicht wuchtig. Das Portal kam Aufkäufer Wiedenhaupt durchaus entgegen, weil er ein beleibter, stattlicher Mann war und ohne Zweifel immer noch höher hinaus wollte. Er verstand sich als beflügelnder Wohltäter seines Heimatstädtchens und galt auch als solcher. Wem immer er beim Gang über den Marktplatz gönnerhaft zulächelte, die Hand schüttelte oder die Schulter klopfte – asiatische KleiderverkäuferInnen oder die einheimischen PfandflaschenanglerInnen eingeschlossen – man fühlte sich geschmeichelt. Wiedenhaupt besaß das runde, volle Gesicht eines Buben, der kein Wässerchen trüben kann. Das dunkle Haar trug er kurz. Er protzte weder mit Schmuck noch mit Kleidern, wenn er auch stets gediegen angezogen war. Er war Sohn des Volkes. Als Jäger war er natürlich auch Sohn der Wälder. Da er fließend Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch sprach, wäre er am liebsten auch noch der Sohn Europas gewesen.

»Ihr könnt ihn nicht leiden?« wollte Köfel wissen, während er von Ulf zu Jule blickte.

Die beiden bestätigten es. Jule sagte: »Von seiner onkelhaften Art einmal abgesehen, hat er noch kurz vor seinem Tod dafür gesorgt, daß hinter seinem Jugendstil-Edelbau – also auf dem ehemaligen Lederfabrikgelände – in Kürze ein Einkaufszentrum entstehen wird. Es wimmelt hier von Supermärkten und Boutiquen, während die Geldbörsen der ehemaligen DDR-BürgerInnen bereits Schimmel ansetzen – aber Herr Wiedenhaupt muß so ein Ding in die Altstadt rammen. Und was der Gipfel ist: in der Puppenfabrik tauchte er mit dem Vorschlag auf, das Einkaufszentrum über das brache Puppenfabrikgelände geradewegs an die Ohrdrufer Straße 'anzubinden'! Wir können von Glück sagen, wenn sich in der Landesver-fassung kein Paragraph findet, der Konsumtempeln Vorfahrt vor Kommunen garantiert.«

Im Lauf dieses späten Abends kam das Wohnküchen-gespräch auch noch auf Wiedenhaupts Lebensgefährtin. Doch wir wollen uns nicht das Maul zerreißen. Köfel würde sich schon sein eigenes Urteil bilden.


2

Voßkämpen war wohlweislich mit einem Geländewagen erschienen. Der Otterbachsteich lag recht hoch an einem Waldrand, der auf Wiesen und Äcker blickte. Im Hintergrund ragte der Inselsberg auf. Zwar hatte man von der Waldsiedlung im Waltershäuser Westen kaum einen Kilometer bis zum Teich zurückzulegen, doch gab es nur einen Feldweg. Zu allem Unglück hatte es in der Nacht wieder ausgiebigen Schneeregen gegeben. Alles war matschig.

»Mein Gott!« fluchte Voßkämpen. »Eigentlich sollte ich gleich wieder umkehren. Reifen- oder Fußspuren können wir vergessen.«

Köfel nickte. »Wenn wenigstens die Sonne schiene! Dann könnten wir uns einreden, zum Picknick hier zu sein.«

Der Trümmerhaufen des Hochsitzes lag kurz vorm Teich in einem Waldrandknick. Das weißrote Plastikband, mit dem er markiert worden war, leuchtete vermutlich bis zum Inselsberg. Sie stiegen aus, um sich der Unfall- oder Anschlagstätte vorsichtig zu nähern. Nicht daß sie Heckenschützen befürchteten; vielleicht gab es ja doch noch irgendwelche sicherungswürdigen Spuren.

Es sah nicht danach aus. Sie umschnürten die feuchten, dunklen Holztrümmer in entgegengesetzten Richtungen. Die überdachte Kanzel des Hochsitzes war zum Teil noch erhalten. Sie lag am Rand der ovalen Unfallstelle. Köfel dämmerte, der Hochsitz sei wohl kaum in sich zusammengebrochen, sondern eher wie ein gefällter Baum umgekippt. Er sagte es Voßkämpen, der ihm zustimmte. Gewiß war beim Aufprall einiges zerstört worden, doch die Fallrichtung gen Teich war unverkennbar. Sie trafen sich am mutmaßlichen Fuß des Hochsitzes und gingen in die Hocke.

»Sieh an«, sagte Voßkämpen, während er an einem Pfostenstumpf wischte. Sie hatten beide gefütterte Lederhandschuhe an. »So sieht ja wohl kein Windbruch aus.«

Der Pfostenstumpf wies einen ebenen, fast durchgehenden Sägeschnitt auf. Er wirkte allerdings verschmiert – vermutlich durch Erde. Doch nun erkannten sie Spuren von Sägespänen, die sich natürlich schon dunkel verfärbt hatten. Am benachbarten Pfostenstumpf entdeckten sie das gleiche Phänomen. Dagegen waren die anderen beiden Pfosten offensichtlich aus dem Erdboden gerissen worden. Jetzt fanden sich in den Trümmern auch rasch die Gegenstücke zu den angesägten Pfostenstümpfen. Sie verglichen die Winkel. Damit war auch das offensichtlich: Zwei der Pfosten waren keilförmig eingesägt worden. Es waren die beiden Pfosten, die zum Teich zeigten. In dieser Richtung war der Hochsitz gefallen.

Sie traten einige Schritte zurück, um den Hochsitz-Standort zu mustern. Köfel sagte: »Ist das Ding zum Teich hin gekippt, dürfte die Leiter auf der anderen Seite gesessen haben. Oder es stand bereits windschief zum Teich. Oder beides. Mir scheint jedoch, es gab diagonale Streben, vielleicht ist da auch noch was angesägt.«

So war es. Sie fanden zwei angesägte Streben im Trümmerhaufen. Köfels Theorie von der Leiter bestätigte sich ebenfalls. Sie traten erneut zurück.

»Herr Kommissar«, sagte Voßkämpen. »Wenn ich gehorsamst erzählen darf, wie es gewesen ist ..?«

Köfel lächelte und nickte.

»Jäger Wiedenhaupt trifft zu Beginn der Dämmerung ein. Die Schnittstellen an den Pfosten sind kaschiert und ohnehin fast vom Gras verdeckt. Die Schnittstellen an den Streben sind noch besser kaschiert. Wiedenhaupt fällt gar nichts auf, weil er sowieso nichts Böses ahnt. Er steigt die Leiter empor. Es gelingt ihm zumindest noch, die Kanzeltür aufzustoßen. Kippte der Hochsitz nämlich schon vorher, würde sich Jäger Wiedenhaupt geistesgegenwärtig an dem Ahornbaum festhalten, den du dort siehst. Oder er spränge tollkühn ab. Somit nehmen wir an, der Hochsitz brach spätestens weg, als sich der schwergewichtige Jäger auf sein Sitzbänkchen fallen ließ. Oder nehmen wir nicht?«

»Wir nehmen, Rudi. So glänzend, wie sie ist, könnte deine Theorie fast von mir sein. Ich werde dich für eine höhere Laufbahn vorschlagen.«

»Danke. Aber hat es sich nun um einen verblüffend ausgefuchsten Dummjungenstreich oder um einen gezielten Anschlag gehandelt?«

Köfel zuckte mit den Achseln. »Kann man im Moment nicht wissen … Ich würde sagen, du machst die einschlägigen Fotos und tütest auch ein paar Sägespäne ein, Rudi. Ich könnte unterdessen schon einmal beginnen, die nähere Umgebung nach irgendwelchen Fundstücken abzusuchen. Es muß ja nicht gleich eine Kettensäge sein.«

»Mein Gott!« verdrehte Voßkämpen die Augen. »Eine Kettensäge fände er gern! Bei Sägespänen, die man in ein Schnapsglas bekommt!«

Köfel grinste und machte sich auf die Suche. Immerhin wurde ihm dadurch etwas wärmer, herrschten doch nur wenige Plusgrade. Der Himmel war nach wie vor bedeckt. Im Unterholz fand er einen blinden Computer-Monitor und mehrere Präservative, die gemeinsam mit Bierflaschen überwintert hatten. Der Otterbachsteich war ein beliebter Ort für Stelldicheins. Durch den Teich getaucht, hätte er wahrscheinlich auch noch ein Fernsehgerät ergattert – wahrscheinlich eher als einen Fuchsschwanz oder eine Bügelsäge. Köfel starrte ausgiebig hinein, doch die Brühe war ziemlich trübe. Dann blickte er die Umgebung nach möglichen Standorten von Augenzeugen ab. Es gab weder Haus noch Viehunterstand. Der erwünschte Zeuge konnte nur Unwahrscheinlich heißen.

Als Voßkämpen fertig war, folgten sie in ihrem Geländewagen dem Feldweg bergan. Laut Karte führte er zu Deyßingslust, wo der Waldrand von einem Ausflugslokal und einigen Ferienhäusern gekrönt wurde. Es waren nur 500 Meter. Als sie jedoch nach 150 Metern um eine Waldspitze bogen, nahm Voßkämpen schon den Fuß vom Gaspedal. »Na also!«

Unter einer Kiefer stand ein großer, grüner Jeep mit weißem Dach, Kennzeichen GTH. Voßkämpen hielt vor ihm an und bedeutete Köfel mit einem Nicken auszusteigen, während er sich selber schon aus dem Wagen schwang. Draußen zog er ein kleines Schlüsselbund aus der Tasche, um es auf seiner gewölbten Handfläche hüpfen zu lassen. »Wollen wir wetten ..?«

Durch Tango, Wein und Kurzschlaf war Köfel etwas schwer von Begriff. »Wegen was denn, wenn ich fragen darf?«

»Na – daß es der Karren unseres Jägers ist!«

»Ach so«, kratzte sich Köfel an der Wange. »Der Schlüssel fand sich bei dem Toten.«

»Ja. Waffen, Feldstecher, Personalausweis – und eben der Schlüssel. Der Chef hat ihn mir mitgegeben.«

Der Schlüssel paßte. Sie gingen aber nur um den Wagen. Es war ein älteres Modell. Es paßte auch zu Ulfs Schilderung, daß Jäger Wiedenhaupt nicht mit einem bulligen, schwarzen Geländewagen protzte, der vielleicht noch durchs Klaustor, nicht jedoch durch die Bäume gegangen wäre. Als Nichtjäger fuhr er allerdings Porsche. Einen weinroten, hatte Jule erzählt.

Köfel hatte sich weiter die Wange gekratzt und dabei nachgedacht. »Ist die Witwe schon ins Bild gesetzt worden?«

Da Voßkämpen nickte, fuhr Köfel fort: »Paß auf, Rudi. Dann werde ich es wagen, ihr den Wagen ihres verstorbenen Gatten zuzuführen. Ich muß sie ja sowieso sprechen. Du dagegen könntest dann über Tabarz gleich nach Gotha zurückfahren. Bist du einverstanden?«

Voßkämpen ersparte sich ein Nicken und warf ihm nur den Schlüssel zu. »Guck erst mal, ob der Karren anspringt.«

Er tat es. Voßkämpen tippte sich an seine Baskenmütze, bestieg den Polizeiwagen und fuhr weiter zur Kuppe. Köfel folgte ihm in Wiedenhaupts Jeep. Er wollte seine Rückfahrt auf Deyßingslust kurz unterbrechen, um nach möglichen Zeugen zu schauen.


3

Jule und Ulf hatten nicht übertrieben: Wiedenhaupts Domizil am Klaustor war bemerkenswert. Neben einem buntverglasten Erker und einem kunstvoll behauenen Balkon glänzte die helle Sandsteinfassade mit zahlreichen Reliefs und Skulpturen, die in der Tat den Geist der Zeit um 1903 verströmten – diese Jahreszahl war ebenfalls zu sehen. Das zweite Stockwerk lag bereits im Mansardendach. Die größten Figuren bewachten vom Bogen herab das Portal: zwei Löwen. Dem ausladenden, beschnitzten Tor hätte Eiche gut angestanden, doch es war hellbraun lackiert. In seiner Mitte saß eine Tür. Köfel betätigte die Sprechanlage. Da er sich über Handy mit Nicole Wiedenhaupt verabredet hatte, bat sie ihn ohne Umschweife herein. Er finde sie ganz oben.

Von der hohen Durchfahrt führte eine gewundene Treppe – diesmal tatsächlich Eiche – zunächst in den 1. Stock. Hier stutzte Köfel. Zum Treppenhaus hin offen, gab es eine große Diele, die einer Baustelle glich. Offenbar wurden neue Fliesen oder Kacheln verlegt. Etwa zwei Drittel des Fußbodens waren bereits erneuert. Sie zeigten eine wunderschöne Jugendstilkachel in Weißgrün. Darüber lagen Bohlen zum Laufen. Einige Pakete mit den Kacheln sowie Mörtelsäcke standen im Treppenhaus. Nun ja, sagte sich Köfel – warum auch nicht? So nahm er die Treppe zum Mansardengeschoß.

Durch Jule und Ulf war Köfel ja vorgewarnt. Ohne den Vorwurf der Plattheit zu fürchten, hatten sie die mindestens 20 Jahre jüngere Witwe Wiedenhaupts als »steilen Zahn« beschrieben. Gegen ihren Gatten gehalten, war sie zwar nur ein Strich in der Landschaft, doch im Verein mit ihren schulterlangen, kanstanienroten Locken wippte auch ihre sogenannte Oberweite ziemlich heftig, wenn sie beim Einkaufen über den Markt stöckelte. An diesem Vormittag hatte sie ihre Oberweite in ein schwarzes Fähnchen gezwängt, sodaß Köfel noch rechtzeitig einfiel, soeben ein Trauerhaus betreten zu haben. Nicole lächelte allerdings höflich, als sie ihm die Wohnungstür öffnete, die es hier oben gab. Erfrischenderweise führte sie ihn nicht in irgendeinen Prunksalon, wo nach den Löwen die Elefanten kamen, sondern in eine blitzsaubere kleine Wohnküche, die über eine ebenfalls kleine Theke mit hohen Hockern verfügte. Die Theke war sogar gedeckt. Als ihn Frau Wiedenhaupt prompt einlud, an ihrem Frühstück teilzunehmen, konnte er nicht widerstehen, denn um halb Sieben bei Ulf hatte es nicht viel gegeben. Es wurde ihm ja hoffentlich nicht als Bestechung ausgelegt. So schenkte Frau Wiedenhaupt ihm und sich selber köstlich duftenden Kaffee ein, während er bereits nach einem verlockenden Lachsbrötchen griff.

Zum Glück war Nicoles Fähnchen nicht über Gebühr ausgeschnitten. Das Küchenfenster ging offenbar nach hinten hinaus. Auf einen Garten mit kahlen Obstbäumen folgte die Fabrikbrache, auf der das Einkaufszentrum errichtet werden sollte. Vertikal durchs Bild schnitt ein Sendemast, der noch schlanker als Frau Wiedenhaupt war. Köfel fand sie eigentlich nicht schlimm. Sie hatte durchaus markante Gesichtszüge, hinter denen sich vermutlich nicht nur Bohnenstroh verbarg. Ein freier Hocker zeigte den schmalen Rücken eines aufgeschlagenen Buches. Es hieß Das Flockenkarusell und enthielt Gedichte von einem Thomas Rosenlöcher. Na immerhin. Da gewölbte Seiten zu sehen waren, brauchte man keine Attrappe aus dem Möbelgeschäft zu argwöhnen.

Sie kamen überein, sich zwanglos an dieser Frühstücks-theke zu unterhalten. Nach einem Schnörkel über den »schweren Schlag«, der seine Gastgeberin getroffen habe, stellte Köfel fest:

»Ich habe mir vorhin mit einem Kollegen den Unfallort angesehen, Frau Wiedenhaupt. Wir halten es von daher nicht für ausgeschlossen, daß der Schlag gezielt erfolgte. Das hieße, es läge mitnichten ein Unfall, vielmehr ein Anschlag auf das Leben Ihres Mannes vor.«

Frau Wiedenhaupt schien überrascht. »Ein Anschlag? Warum denn das? Wer sollte denn meinem Mann nach dem Leben trachten?«

»Nun ja, Frau Wiedenhaupt, genau das wollte ich Sie fragen. Wüßten Sie Anhaltspunkte? Gab es beruflich oder privat Streitfälle, offene Rechnungen, Drohungen? Denken Sie bitte in Ruhe nach. Der kleinste Strohhalm könnte uns nützlich sein.«

Sie tat es. Sie starrte beim Nachdenken sogar konzentriert auf einige Pünktchen des bräunlichgelb marmorierten Linoleums, das in der Küche lag. Doch nach einer Weile verzog sie den Mund und schüttelte langsam ihre kastanienroten Locken. »Es tut mir leid – mir fällt beim besten Willen nichts ein. Ich kann es auch noch gar nicht glauben.«

»Es ist ja auch nicht sicher. Wir müssen dieser Möglichkeit nur nachgehen, Frau Wiedenhaupt. Vielleicht fällt Ihnen später noch etwas ein. Wir beschränken uns jetzt auf den gestrigen Dienstag. Hatte Ihr Mann irgendeinen Ärger?«

»Nicht daß ich wüßte. Im Gegenteil! Er freute sich über die neuen Kacheln, soweit sie schon lagen. Er hat eins tiefer, müssen Sie wissen, seine Geschäftsräume. Sie haben die neuen Kacheln in der Diele vielleicht gesehen. Er lobte sich selber für seine gute Wahl. Und auf die Jagd freute er sich ja auch immer. Er machte gestern schon gegen 14 Uhr Schluß, wie ich von Frau Schierholz weiß, um sich für die Jagd umzukleiden. Ich war unterwegs. Er wollte auf dem Acker am Otterbachsteich Köder für Schwarzwild auslegen, dann mit dem Hund das Revier abstreifen und mit der Dämmerung auf Ansitz gehen. Das hat er ja offenbar auch getan …«

Sie erwehrte sich eines Schluchzens, indem sie mit verkniffenen Augen den Kopf schüttelte und dann nach ihrer Kaffeetasse griff. Köfel dachte nach, während er versuchte mitfühlend zu wirken.

»Sie erwähnten Köder – für Wildschweine ..? Gut. Was nimmt man denn da?«

»Ich glaube, Hubchen nahm gerne Maiskörner. Ach, entschuldigen Sie – so nannte ich meinen Mann.«

Das schien zu stimmen. An einer zerwühlten Stelle des Ackerrandes hatte Köfel Maiskörner entdeckt, die noch nicht verquollen waren.

»Sie erwähnten eine Frau Schierholz ..?«

»Die Sekretärin meines Mannes. Vor einer Stunde habe ich mit Johanna telefoniert. Ich bat sie, heute nicht zu kommen. Das verstand sie natürlich.«

Köfel nickte. »Natürlich … Vielleicht können Sie mir nachher die Adresse von Frau Schierholz geben. Offenbar hat sie ja Ihren Mann als letzte gesehen.«

»Ja. Ich selbst mußte um 11 aus dem Haus. Ich hatte einen Frisörtermin. Für den Abend waren Hubchen und ich zu einem Geburtstag eingeladen. Bevor ich verschwand, ging ich noch einmal in sein Büro, um ihn daran zu erinnern. Er erinnerte mich aber seinerseits an den Pirschgang, den er vorhatte; er könne deshalb erst am späten Abend bei der Feier auftauchen. So verblieben wir. Doch er kam nicht. Er war auch telefonisch nicht zu erreichen. So ging ich um Mitternacht etwas beunruhigt nach Hause. Unten stand ein Streifenwagen. Da erfuhr ich es.«

Köfel nickte. Nach einer Anstandspause legte er Wiedenhaupts Jeep-Schlüssel auf die Theke. »Ehe ich es vergesse, Frau Wiedenhaupt – ich habe mir erlaubt, im Wagen Ihres Mannes hierher zu kommen. Er stand unweit des Unfallortes. Jetzt steht er um die Ecke – vor der VR-Bank in der Triniusstraße.«

»Das war nett von Ihnen, Herr Köfel. Danke.«

Köfel hob leicht die gespreizte Hand. Er dachte für einen Moment über die Möglichkeit nach, Nicole Wiedenhaupt könne sofort nach seinem Verschwinden zum Telefon greifen, um sich mit Johanna Schierholz ins Benehmen zu setzen. Falls sie zu Hause war. Oder ein Handy besaß. Aber das wäre ja kaum zu verhindern. Die Sekretärin herzubestellen, um Frau Wiedenhaupt bis zu deren Eintreffen zu bewachen, fand er etwas zu stark. Wer weiß, wie sie sich die Zeit vertrieben hätten.

So sagte Köfel seiner Gastgeberin, er wolle sie für heute nicht mehr länger belästigen, und ließ sich die Adresse von Frau Schierholz geben. Dann hakte er nach: »Könnten Sie mir auch den Frisör und den Ort der Geburtstagsparty nennen, Frau Wiedenhaupt?«

Sie tat es.

»Eine letzte Frage: Wann sind Sie auf dieser Party erschienen?«

»Es muß kurz nach 21 Uhr gewesen sein«, erwiderte sie ohne Zögern.

Köfel zog eine Visitenkarte aus seinem Notizbuch, bevor er es zuklappte. Frau Wiedenhaupt möge ihn bitte sofort anrufen, falls ihr noch zweckdienliche Beobachtungen einfielen. Er sicherte ihr umgekehrt Benachrichtigung über das Ermittlungsergebnis zu, dankte für Bewirtung und Auskunft und verabschiedete sich.


4

Laut Stadtplan wohnte Johanna Schierholz unweit der Altstadt am Ziegenberg. Um sich die geringe Chance der Überrumpelung nicht zu nehmen, verzichtete Köfel auf einen Anruf. Er tauchte durchs Klaustor, weil er zunächst Richtung Markt zu gehen hatte. Erfreulicherweise blinzelte inzwischen die Sonne durch ein paar Wolkenlöcher. Das alte Postamt lag allerdings im Schatten. Es war am Vorabend ebenfalls erwähnt worden. Um 1900 bei Gelegenheit eines Brandes, der eine Lücke gerissen hatte, aus rotem Backstein in die Häuserflucht eingepaßt, blickte es auf eine kleine Ausbuchtung der neuerdings wieder gepflasterten Hauptstraße – mit kunstvoll behauenen Fenstersimsen, Rosetten mit Posthörnern und zwei wehrhaften Dachgauben aus Sandstein, die neben Fenstern als deutsche Brieftauben den furchterregenden Seeadler zeigten. Wie sich versteht, stand auch Postamt dran. Und es konnte ja nicht jeder zu seinen Eroberungen sagen: Sie finden mich gleich hinterm Klaustor im Postamt. Ulf hatte nämlich zu berichten gewußt, Hubert Wiedenhaupt habe gerade um den Erwerb dieses leerstehenden Gebäudes gefeilscht, weil es ihm sehr geeignet erschien, mehrere sündhaft teure Eigentums-Wohnungen darin unterzubringen. Vielleicht sprang jetzt ein Konkurrent ein.

Ansonsten hatte das alte Postamt in Ulfs Riedhäuschen ein Streitgespräch über Fragen der Architektur & Ästhetik entfacht. Das »neue« war ja kein Postamt mehr. Es hieß jetzt Filiale. Man hatte es in einem öden DDR-Gebäude auf das Format einer Keller-Einliegerwohnung für Zwerge gestutzt. Innen sah die Filiale »natürlich« wie gelackt aus. Als Jule sie schmähte, wagte Ulf den Hinweis, das alte Postamt strahle ja auch nicht gerade die Aura einer von Toulouse-Lautrec gemalten Ballettänzerin aus. Mit der Formel »je älter, desto schöner« käme man nur als junger Mensch durchs Leben. »Aber je wärmer, desto menschlicher!« rief Jule erbost. Die Filiale sei reine Funktion. Keine Eckbank, kein Tintenklecks, kein Schaltergespräch über das Marktangebot an Gemüse. »Halten Sie bitte Abstand«, höhnte Jule. »Diskretion in einem Geldschrank, ich lache mich tot!«

Köfel mußte kichern. Jule hatte sich wie ein Postamt-Seeadler auf die Wiedenhauptschen Löwen gestürzt, die sie umzingelten. Ines war natürlich Ulf beigesprungen, während sich Köfel lieber herausgehalten hatte. Diskussionen über Sicherheitsabstände zwischen ungefesselten Personen waren immer heikel. Prompt versuchte ihm Jule aus dieser Zurückhaltung in ihren Gästebetten unterm Dach noch einen Strick zu drehen.

An der Stadtkirche bog er Richtung Friedhof ab, der bereits am Fuß des Ziegenbergs lag. Ob im Fall Wiedenhaupt zum billionsten Male die Liebe im Spiel war? Das hieße wieder endlos in Beziehungskisten zu wühlen, Seitensprünge aufzudecken, in Eifersucht zu ertrinken. Vorausgesetzt, Nicole Wiedenhaupt sei das Führen einer Handsäge zuzutrauen, wäre sie nach vollbrachter Tat natürlich mit Vergnügen kaltblütig auf der Geburtstagsparty erschienen, um dort alsbald das Stück »Beunruhigung über das Ausbleiben meines geliebten Gatten« zu geben. Allerdings war dieser steinreich, sodaß wohl eher das Standardmotiv Habgier in Frage kam. Für die Eifersucht wäre ein Nebenbuhler Wiedenhaupts zuständig, der gefälligst auch mit einer Handsäge umzugehen weiß. In Wahrheit traute Köfel dem »steilen Zahn« Nicole keine Mordtat zu. Er hielt sie noch nicht einmal für eine Heuchlerin. Angenehmerweise hatte sie keineswegs vorgegaukelt, durch den jähen Tod ihres Gatten reif für den Selbstmord zu sein. Sie würde sich mit dem vielen Geld schon einzurichten wissen.

Eine naheliegende Kandidatin für Eifersucht war sicherlich die Sekretärin Schierholz, die von Köfel mit immer kräftigeren Atemzügen angesteuert wurde, da die Friedhofsallee zum Ziegenberg hin anstieg. Nur hätte sie dann nicht ihren Chef, vielmehr dessen knusprige Gattin zu beseitigen gehabt. Man konnte also eher vermuten, Wiedenhaupt habe irgendetwas auf dem Kerbholz gehabt, was Frau Schierholz entweder zu ahnden oder aber zu decken wünschte.

Mit solchen verfrühten Spekulationen unterhält man sich nun, dachte Köfel, während er die Kurve zur Ziegenbergstraße nahm. Diese führte quer zum Hang durch eine Gartensiedlung, die aus vorwiegend älteren Ein- oder Zweifamilienhäusern bestand. Oberhalb der Gärten ragte Laubwald auf. Der Blick ins Tal ging über die Gummiwerke und die Autobahn bis zum Krahnberg bei Gotha. Das waren gut 10 Kilometer.

Das schlichte Häuschen von Johanna Schierholz war nur eingeschossig. Am einzigen Briefkasten des Gartentors stand ihr Name. Das Tor ließ sich öffnen. Erfreulicherweise erinnerte der schmale Vorgarten nicht an die neue Waltershäuser Postfiliale. Im Windfang angekommen, betätigte Köfel die Schelle. Sie dudelte, jaulte oder piepte nicht; sie schellte. Jetzt war Köfel schon fast für die Eifersuchtskandidatin eingenommen.

Sie war zu Hause. Vor Köfel stand eine zierliche Frau Mitte 50. Mit ihren sandfarbenen Cordhosen und ihrem kurzen, dunkelblonden Haar wirkte sie ähnlich unscheinbar wie ihr Häuschen. Sie sagte mit leichtem Stirnrunzeln: »Ja bitte?«

»Frau Schierholz, ich muß Sie leider stören – Kriminalpo-lizei.« Damit hielt er ihr seinen grünen Dienstausweis hin.

Sie wurde etwas blasser. Darauf hatte Köfel gehofft. Dann nickte sie aber verständig und bat ihn herein.


5

Was die Schilderung des Unfall- oder Mordtages betraf, konnte Köfel zunächst keinen Widerspruch zwischen den Aussagen der Gattin und der Sekretärin entdecken. Mit Fingerzeigen auf Todfeinde, Gekränkte oder Neidische konnte Frau Schierholz ebenfalls nicht dienen. Sie saßen in einem freundlichen Wohnzimmer in Cocktailsesselchen aus den 50er Jahren, die ausgesprochen keck bezogen worden waren. Es wurde Köfel aber rasch deutlich, daß sich Johanna Schierholz als Vertraute eines Immobilienlöwen nicht gerade pudelwohl gefühlt hatte. Vielleicht war sie dazu sowohl zu bescheiden wie zu gebildet. Sie sprach ein ziemlich gutes Deutsch, was womöglich mit den vielen guten Büchern zusammenhing, die Köfel in einem verglasten Bücherschrank aus Nußbaumholz ausmachte, der in seiner Reichweite stand. Bei Wiedenhaupt hatte sie ja vermutlich eher Vertragsentwürfe, Börsennachrichten und schlaue Bücher darüber gelesen, wie man den Fiskus übers Ohr haut.

Dann fiel ihm eine kleine Lücke auf – mochte sie auch unbedeutend sein. »Wie ich im Vorbeigehen sah, Frau Schierholz, hatten Sie gestern in der Büroetage eine Art Baustelle. Frau Wiedenhaupt sagte mir, Ihr Chef sei des Lobes voll gewesen über die neuen Jugendstilkacheln. Sie erwähnten das noch gar nicht.«

Ihrem Gesicht war ein wenig Ertappung anzusehen. »Ach so«, erwiderte sie und rieb die zierlichen, auf Nußbaum gebeizten Armlehnen ihres kleinen Sessels. »Aber das ist ja nichts Besonderes. Die Handwerker hat man schon mal im Haus.«

Köfel witterte Morgenluft. »Ist die Baustelle erst gestern eröffnet worden?«

»Ja. Strunk – der Fliesenleger Strunk aus Ibenhain, wissen Sie? – Strunk kam pünktlich um neun, wies seine beiden Männer ein und verschwand wieder. Um 16 Uhr machten sie Feierabend. Sie wollten heute Mittag fertig sein, aber Nicole hat natürlich gleich ihren Chef angerufen und um Aufschub gebeten. Mich hat sie ja auch gleich angerufen.«

»Hat es für Ihren Chef einen Ärger mit Strunks Leuten gegeben?«

Frau Schierholz schwieg. Sie biß ihre Lippe und sah abwechselnd aus den drei Fenstern ihres Wohnzimmers.

»Frau Schierholz«, sagte Köfel behutsam. »Ich erwähnte bereits, Sie brauchen sich um Himmelswillen nicht selbst zu belasten. Haben Sie aber Beobachtungen getroffen, die unter Umständen zur Aufklärung beitragen können, müssen Sie mir das sagen. Sie kommen sonst in Teufels Küche.«

Sie brauchte noch einmal eine Minute. Dann zeigte ein Seufzer den inneren Ruck an, den sie sich offenbar gegeben hatte. Sie erzählte die folgende Geschichte.

>>Strunks Gesellen Markus – ein baumlanger Kerl Anfang 30 – kannte ich bereits flüchtig. Er hatte im Sommer das Bad im Mansardendach neu gefliest. Ich mußte nach dem Rechten sehen, weil die Wiedenhaupts im Urlaub waren. Jetzt kam er mit einem rund 10 Jahre älteren Begleiter, der Bohumil hieß – laut Markus ein Tscheche. Er schien leidlich Deutsch zu verstehen, blieb allerdings selber nahezu stumm. Stämmig gebaut, bewegte er sich doch geschmeidig. Auf seinem runden, glattrasierten Gesicht lag ein melancholischer Ernst. Das dunkle Haar trug er kurz, während Markus fast eine Mähne wie Nicole hat.

Da die beiden Männer kaum Lärm machten – hatten sie Kacheln zu schneiden, gingen sie hinunter in den Hof – ließ ich meine Bürotür zur Diele gewohnheitsgemäß aufstehen. Dadurch heizen wir auch das Treppenhaus ein bißchen mit, denn dort gibt es keine Heizkörper. So beobachtete ich hin und wieder, wie sie die Kacheln mit einem Gummihammer behutsam in ihr Speisbett klopften. Die Masse schien rasch abzubinden, durften wir doch bereits nach Mittag Kacheln, die inzwischen verlegt waren, auf einer Bohle überqueren. Gegen 11 tauchte Nicole auf. Sie trug einen kurzen Lederrock und lange Stiefel. Sie stakte von der Treppe aus an den beiden kauernden Fliesenlegern vorbei zum Büro ihres Mannes. Während sich Markus einen kurzen Aufblick zu Nicoles Kniekehlen und darüber hinaus gestattete, blieb Bohumils Blick erstaunlicherweise gesenkt. Das nahm mich ziemlich für ihn ein. Da die Verbindungstür zu Wiedenhaupts Büro ebenfalls aufstand, kam ich kaum umhin, sein kurzes Gespräch mit Nicole zu verfolgen. Es ging um den Geburtstag und die Jagd. Dann verschwand sie wieder im Treppenhaus.

Nahmen mich gestern Vormittag nicht Wiedenhaupt oder das Telefon in Beschlag, schweiften meine Gedanken öfter zu Bohumil ab. Sein Kauern auf unserem Dielenestrich hatte etwas von einer zwar stummen, doch keineswegs schläfrigen Katze. Ich dachte an den Stumpfsinn und die Erniedrigung, die unsere so kostengünstigen »GastarbeiterInnen« in der Regel zu verkraften haben. Natürlich konnte es sich bei Bohumil auch zufällig um einen seit Jahren wohleingebürgerten Menschen handeln. Vielleicht stand ihm eine hübsche, fröhliche Libusse zur Seite, die bei Opel in Eisenach, mit einem adretten, weißen Häubchen bekleidet, in der riesigen, mit viel Edelstahl und Chrom blitzenden Kantine das Stammessen oder das Wahlmenü ausgab.

Um 11 hatte Wiedenhaupt einen Termin auf dem Rathaus. Bevor er ging, drückte er sein Wohlgefallen über das Werk aus, das gleichsam unter seinen Füßen entstehe. Markus nickte artig. Wiedenhaupt tauchte schon ins Treppenhaus, als er sich noch einmal umwandte. Wann sie denn Mittagspause machten, wollte er wissen. Markus erwiderte, er denke, so um halb Eins.

»Aha.« Wiedenhaupt deutete über die Diele. »Macht es euch bitte in der Teeküche bequem, dazu ist sie schließlich da. Frau Schierholz wird euch Tee oder Kaffee kochen – wie ihr wollt.«

Als es soweit war, wuschen sich die beiden Männer die Hände und packten am Küchentisch ihre Rucksäcke aus. Ich machte mir an der Kaffeemaschine zu schaffen. Markus nahm sich als erstes die Bild-Zeitung vor; dann erst biß er in sein Schinkenbrötchen. Bohumil schnitt sich Späne von einem harten Käse ab und fischte mit der Gabel in einem Glas mit verschiedenen eingelegten Gemüsefrüchten. Plötzlich kam Wiedenhaupt zurück.

»Hallo!« sagte er aufgeräumt und setzte zwei Alufolienpäckchen auf dem Küchentisch ab. »Heraus mit Tellern und Besteck, Frau Schierholz! Golden gebraten wie das Handwerk Boden hat!« Er zwinkerte dabei – wohl damit wir sein Bonmot nicht auf die Goldwaage legten.

Es waren zwei halbe Hähnchen mit Pommes Frites. Die Alufolie war innen ziemlich fettig. Markus bedankte sich wieder artig und nahm den gefüllten Teller entgegen. Doch als ich den anderen Bohumil überreichen wollte, wehrte dieser mit verlegenem Lächeln ab. »Bohumil nicht bitte.« Er deutete auf seinen Käse und das Einweckglas und fügte hinzu: »Hat schon gut!«

Während ich den Teller in der Luft hängen ließ, hob Wiedenhaupt die Brauen und sah Bohumil mit zunächst gespielter Bestürzung an. »Aber mein lieber Junge – du wirst doch meine Gastfreundschaft nicht ausschlagen ..?!«

Mein Arm mit dem dargebotenen Teller schien jäh wie in Eis erstarrt. Bohumil stand auf. Seine Augen funkelten derart bedrohlich, daß er seine Arme vermutlich an die Hüften preßte, um nicht handgreiflich zu werden. Langsam und mit belegter Stimme sagte er:

»Bohumil nicht will – o.k. ..? Und Bohumil nicht dein liebes Junge … Du besseres Mensch wegen hier ..?« Dabei rieb er Daumen und Zeigefinger aneinander.

Für Sekunden stand Wiedenhaupts Schnute in echter Fassungslosigkeit auf. Doch er fing sich sofort. Mit einem feinen, überlegenen Lächeln hob er die Schultern und verließ die Küche.

Markus, der von den Vorgängen vermutlich am wenigsten begriff, stocherte verlegen in seinen Pommes Frites. Ich stellte den verdammten anderen Teller endlich auf die Anrichte. Bohumil setzte sich wieder und sah aus dem Fenster. Da die Teeküche nur einen Türvorhang besitzt, der beiseite gezogen war, hörten wir Wiedenhaupts Schritte auf den Bohlen. Ich sagte mir, Bohumil könne womöglich Vegetarier sein. Aber darauf kam es natürlich nicht an. Zu offensichtlich hatte sich in Bohumil ein wahrscheinlich schon oft gedemütigter Stolz erhoben. Obwohl er kaute, konnte man seinen Gesichtsausdruck finster nennen. Plötzlich ließ sich auch Wiedenhaupts Stimme vernehmen. Offenbar stand seine Bürotür auf. Mir war sofort alles klar: er telefoniert; er spricht mit Absicht laut genug, um in der Teeküche verstanden zu werden; er demonstriert geruhsam und genüßlich seine Macht.

»Ah, da sind Sie ja … Wiedenhaupt hier. Mein lieber Strunk, Sie wissen, ich spiele mit dem Gedanken, Ihnen bei meinem Projekt in Ohrdruf die Bäder und Küchen anzuvertrauen. Ich muß Sie aber bitten: schicken Sie mir nie wieder Ihren Mitarbeiter Herrn Bohumil ins Haus – weder dort noch hier. Der Herr verschmäht meine Gastfreundschaft und wird auch noch ausfällig. Ich möchte mich im einzelnen dazu nicht weiter äußern. Sie können sich das gern bis morgen gründlich überlegen. Das war schon alles. Bis später, mein lieber Strunk.«

Damit legte er auf. Mögliche Nachfragen oder Einwände Strunks oder denkbare Erklärungen von Markus und mir zählten offenbar keinen Pfifferling für ihn. Ich versuchte durch ein Kopfschütteln mein Bedauern auszudrücken. Dann nahm ich ein Geschirrtuch und breitete es über dem verschmähten halben Hähnchen aus; wer wußte, ob sein Anblick nicht Bohumils Zorn weiter schürte, aber es wirkte auch ein wenig wie eine Beerdigung. Bohumil und Markus wechselten dabei einige Worte über Wiedenhaupts Urteilsspruch. Wie es aussah, hatte Bohumil den Kern des Telefongesprächs erfaßt, und Markus bestätigte jetzt, Wiedenhaupt wolle den Tschechen ab morgen nicht mehr sehen. Die Stimmung in der Teeküche war gedrückt. Ich ging in mein Büro; schließlich hatte ich zu arbeiten.

Ich atmete auf, als Wiedenhaupt schon gegen 14 Uhr Schluß machte und nach oben ging. Als er nach einer halben Stunde wieder an der Diele vorbeikam, tippte er Markus gegenüber mit betonter Lustigkeit an seinen federbesetzten Hut, bevor er zur Treppe abbog. Der Flintenlauf überragte die Schulterklappe seines Lodenmantels. Bohumil war selbstverständlich Luft für ihn. Der kauernde Tscheche sah nicht auf, verströmte jedoch die Aura einer Tellermine. Gleich darauf hörten wir im Hof den Jeep anspringen.

Während sich das Motorengeräusch entfernte, folgte ich einer Art sarkastischer Eingebung. »Drücke ihm die Daumen, Markus!« rief ich durch die geöffnete Bürotür. »Wenn er Glück hat, gibt's morgen Wildschweinbraten.«

Da Markus etwas verwirrt zu mir blickte, erklärte ich, Wiedenhaupt beabsichtige am Otterbachsteich Köder auszulegen, um Wildschweine anzulocken. Anscheinend gebe es einen Hochsitz an der Stelle, denn er habe davon gesprochen, in der Dämmerung auf Ansitz zu gehen.

Bohumil sah uns abwechselnd an und radbrechte: »Otte-bach-teich ..?«

»Genau«, nickte Markus. »Du kennst den Teich. Wir haben im Sommer Olivers Gesellenbrief dort oben gefeiert.«

Die Erinnerung an das Fest schien Markus' Unbehagen als bestochener Fliesenleger wegzuwischen. Er lachte und hielt Bohumil mit entsprechenden Gesten vor Augen, wie sie gegrillt und Wodka getrunken hatten. Dann erläuterte er, am Waldrand stehe ein Hochsitz, da wolle Wiedenhaupt »bumm-bumm« machen. Auch diese Mitteilung unterstrich er durch übertriebene Gesten des Kletterns und des Schießens. Doch Bohumil nickte nur knapp und beugte sich wieder über die Kacheln. Damit ging Markus offensichtlich auf, an Bohumils Stelle wäre er wohl auch nicht zum Scherzen aufgelegt. Er griff zur Kelle und schwieg.

Zwar war ich mir ziemlich sicher, Markus werde seinen tschechischen Kollegen Strunk gegenüber in Schutz nehmen. Ob das jedoch genügte? Deshalb entschloß ich mich ebenfalls zur Fürsprache. Vielleicht konnten wir so zumindest erreichen, daß Bohumil von Strunk anderweitig beschäftigt oder weiter empfohlen wurde. Ich rief sofort in Strunks Büro an, bekam aber nur seinen Anrufbeant-worter. Darauf zu sprechen, war mir zu riskant. Auch über sein Handy erreichte ich ihn nicht. Vielleicht führte er gerade eine Verhandlung. Seine beiden Leute räumten gegen 16 Uhr ihr Werkzeug zusammen und verabschiedeten sich. Das wissen Sie ja bereits. Ich nahm mir auf dem Nachhauseweg vor, es gleich am nächsten Morgen noch einmal bei Strunk zu versuchen. Das ließ ich freilich lieber sein, nachdem ich dann die Zeitung aus meinem Briefkasten gezogen hatte. Die kurze Meldung von dem »Jagdunfall« stand gleich auf der Titelseite.<<


6

Für eine ganze Weile sagte Köfel gar nichts. Er blickte über seine verschränkten Arme auf sein übergeschlagenes Knie. Wenn ihn nicht alles täuschte, war sein unscheinbares Gegenüber nicht nur von dem Vornamen Bohumil betört worden. Deshalb tat ihm Johanna Schierholz leid. Aber er bewunderte auch ihren Mut. Immerhin hatte sie sich ziemlich eindeutig gegen ihren verflossenen Chef gestellt, angeblich der reichste Mann Waltershausens. Nur hatte sie leider nicht das Gesetz auf ihrer Seite. Vorausgesetzt, Strunk und sein Geselle bestätigten ihre Angaben, kam er wohl kaum umhin, die Fahndung nach Bohumil einzuleiten. Denn darauf hätte er gegen Luckenwalde um dessen verzärtelte Zimmerlinde gewettet, daß sich dieser Bohumil bereits gestern abend nach getaner Waldarbeit dünngemacht hatte.

Köfel klappte sein Notizbuch zu und erhob sich. »Ich habe vorläufig keine Nachfragen, Frau Schierholz. Ich danke Ihnen sehr. Jetzt muß ich leider zur Firma Strunk. Könnten Sie mir aus Ihrem Telefonbuch die Adresse heraussuchen?«

Sie tat es und begleitete ihn zur Tür. Er gab ihr die Hand und betrat den Plattenweg. Er hörte hinter sich:

»Hoffentlich finden Sie ihn nicht, Herr Kommissar.«

Köfel wandte sich um und fragte lächelnd: »Können Sie schweigen?«

Sie nickte etwas unverständig.

Köfel sagte: »Ich hoffe es auch.«
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