Dienstag, 16. August 2022
Köfel 6 Waffenschein für Hunde

Auf der schmalen Straße zwischen dem Ostarm des Badewassers und der ehemaligen Wahlwinkler LPG kamen zwei Männer einander näher. Sie hielten beide aufs Dorf zu. Sie waren trotz der regenverhangenen November-kulisse gut zu sehen und auseinander zu halten, weil der vordere Mann einen hellblauen Regenschirm trug, während der Radfahrer, der zu ihm aufschloß, in einem roten Umhang mit Kapuze steckte, der fast wie ein Zelt über Gepäckträger und Lenkstange reichte. Beide Männer mochten um 50 sein. Der gedrungene Schirmträger mit schütterem, blondem Haar über einem rosigen Gesicht erinnerte an einen erwerbslosen Maurerpolier. Von dem Radfahrer war naturgemäß nicht viel zu sehen. Er trug eine schnörkellose Messingbrille mit ovalen Gläsern.

Allerdings gab es noch ein unscheinbares Lebewesen, das umgekehrt vom Dorf her auf die Männer zutrottete. Das war der Schäferhund des Schirmträgers. Vermutlich war er vorgelaufen und kam nun brav zu seinem Herrn zurück. Der Regen, der ihm vom rauhen, dunklen Pelz troff, schien ihm nichts auszumachen. Auch der Radfahrer in seinem knallroten Zelt konnte ihn nicht verunsichern. Er wich keine Pfotenbreite von der Straßenmitte ab.

Der Radfahrer hatte inzwischen den Schirmträger überholt. Er sprach sich zu, den Klügeren zu mimen, der nachgibt. Man konnte ja nicht wissen, ob der Köter das Zelt nicht mit einer Würstchenbude verwechseln würde. So stoppte er, um das wuchtige Tier unter verächtlichem und zähneknirschendem Blick himmelwärts (alles grau) vorbeitrotten zu lassen. Wer wollte einem Hund schon vorwerfen, die Straftatbestände Nötigung und Erpressung nicht zu kennen, vom Friedenswahrungsgebot des NATO-Vertrages ganz zu schweigen? Dafür schien er allerdings Verachtung zu kennen. Der Hund hatte sie offenbar gewittert, denn nun trottete er gerade nicht vorbei. Vielmehr hielt er inne, um an dem bespritzten Fahrrad und den Käsefüßen des Fahrers zu schnüffeln. Dieser kochte.

»So ist es schön«, hörte der kochende Radfahrer hinter sich. »Nur mal schnuppern, nicht wahr, Hasso? Keine Angst, der tut Ihnen nichts!«

Dem Radfahrer ging sozusagen die rote Kapuze hoch. Er trug sein kurzes, braunes Haar zurückgekämmt. Er wandte sich jäh um und bellte:

»Was meinst du, wieviele Hundertmale ich diesen Spruch schon gehört habe, du Arsch mit Ohren!«

Damit trat er in die Pedale, weil der zottige Schäferhund inzwischen von ihm abgelassen hatte. Nur etwas Hundespeichel wehte durch den aufkommenden Fahrtwind von den Schuhen und Hosenumschlägen des Erbosten. Der Hosenumschlag auf der Kettenseite war durch eine gelbe Wäscheklammer verengt.

Der Schirmträger hatte erst einen gewaltigen Schock überwinden müssen. Jetzt polterte er ungläubig:

»Was hat er gesagt? Arsch mit Ohren? Ja ist das denn zu fassen? Ich haue ihn in die Fresse! Ich bringe ihn um! So ein Dreckskerl! Na warte – Hasso, zeig diesem Dreckskerl mal, wie gut du deine Zähne geputzt hast!«

Hasso wirkte noch unschlüssig. Er blickte hin und her. Zum Dorf hin wurde die rote Würstchenbude rasch kleiner. Alles, was nach Flucht aussieht, muß normalerweise jedem Hund verdächtig erscheinen.

»Na los schon!« fluchte sein Herr. »Faß ihn, Hasso!«

Dabei stieß er seinen schon halb geschlossenen Schirm Richtung Dorf und setzte sich auch selber in Trab. Das wirkte. Hasso rannte wie ein Gewitter hinter dem roten Radfahrer her.

Als dieser den hechelnden Hund hinter sich hörte, hatte er bereits den Abzweig der Straße und den Abzweig des Bachs erreicht. Während die Straße nach links zum Bahnübergang knickte, floß der Bach unter ihr durch und knickte parallel zu den Gleisen der Waldbahn nach rechts ab. Der Mann erkannte, dem Köter in der Schnelligkeit unterlegen zu sein. So ließ er kurzentschlossen sein altes Fahrrad fallen, das ohnehin nicht viel taugte, und setzte mit flatterndem, rotem Umhang über den Bach. Ihm saß schlicht die Angst im Nacken. Als er sich umwandte, hätte er fast zu früh frohlockt. Der Köter war offenbar wasserscheu. Allerdings hetzte er bereits zu der kleinen Straßenbrücke, um den Missetäter über diesen kurzen Umweg zu stellen. So musterte dieser ähnlich gehetzt die Bäume, die im Sommer den Kirmesplatz an der Waldbahnhaltestelle beschatteten, jetzt aber ziemlich kahl waren. Vielleicht kam auch das Wartehäuschendach in Betracht. Doch dann eröffnete ihm ein lautes Schellen vom Bahnübergang her die beste Alternative: aus Richtung Waltershausen kam die Waldbahn.

Die Thüringer Waldbahn, von Gotha nach Tabarz verlaufend, ist eine schlichte Straßenbahn, nur rumpelt sie vorwiegend an Baumstämmen und Feldgehölzen statt an Häusern vorbei. Ihre blau- oder rotweiß lackierten Gliederzüge mit den drehbaren Mittelplattformen stünden längst im Museum, wenn sich Kohl & Konsorten nicht 1989 entschlossen hätten, aus Ostdeutschland ein Freilicht-Kuriositäten-Kabinett für westliche GafferInnen zu machen. Der Zug, der jetzt diagonal über die Landstraße zum Kirmesplatz hin ratterte, war ein blauweißer. Seine Führerin schellte erneut, nur wütender, als ein bellender Schäferhund über die Gleise stürzen wollte. Der Hund wich zurück und rannte zwischen Bach und Straßenbahn mit dieser um die Wette. Sie verlangsamte jedoch ihre Fahrt, weil nun die Haltestelle kam, an der ein Mann im roten Umhang fuchtelnd Einlaß begehrte. Der Bahnsteig lag auf der Kirmesplatzseite. Kaum stand die Bahn, drückte der Rote wild auf den Knopf der hintersten Tür und rief beim Hineinstürzen:

»Zumachen! Machen Sie schnell wieder zu, der Köter hat es auf mich abgesehen.«

Die Zugführerin gehorchte, zumal sie den zottigen Schäferhund bereits im linken Außenspiegel zum Wagenende preschen sah. Die Fahrgäste drückten sich an den Fenstern oder Haltestangen die Nasen platt. Endlich war in Wahlwinkel mal etwas anderes zu sehen als Gänse, Hühner und Enten. Der Geflüchtete und vielleicht Gerettete schälte sich keuchend aus seinem roten Umhang, der die hintere Plattform überschwemmte. Die Bahn gewann an Fahrt. Doch plötzlich juchzten etliche Fahrgäste auf der Bachseite auf. Während die Kirmesseite von dem tobenden Schäferhund besprungen wurde, war auf der Bachseite ein fluchender Mann aufgetaucht, der das Hellblau seines umgekehrt geschwungenen Regenschirms mit dem Blauweiß der Waldbahn zu vermählen gedachte. Er hakte sich in letzter Sekunde mit dem Schirmgriff am rechten Außenspiegel ein und wurde dadurch notgedrungen mitgeschleift.

Die Zugführerin trat auf Bremse und Schelle. Dem Bremser an ihrem Außenspiegel zeigte sie dabei einen ganzen Vogelschwarm. Er ließ jedoch nicht locker. Die Fahrgäste johlten. Jetzt wurde es der Zugführerin zu bunt. Der Bremser draußen hatte nämlich angefangen, auch noch etwas wie »Haß! Haß! Haß!« zu brüllen – so schien es ihr jedenfalls, weil der Fahrtwind die O's von dem Hundenamen abriß. Sie war eine kurzhalsige, kräftige Frau mit Bubikopf, die zu DDR-Zeiten vermutlich regelmäßig die Betriebssportseite im Volk geziert hatte. Als die Bahn stand, schwang sie sich aus ihrer Kabine und stapfte durch das feuchte Gras und den glitschigen Schotter um den Bug ihrer Bahn, um dem Subjekt an ihrem Außenspiegel die Leviten zu lesen.

Das war die Chance des Schäferhunds. Da sich plötzlich alle Türen geöffnet hatten, hechtete er sich durch die Hintertür auf den roten Umhang. Als er erkannte, daß es sich nur um eine Hülle handelte, die zum Abtropfen an der Notbremse hing, preschte er in der einzig möglichen Richtung hinter dem Besitzer des Umhangs her. Dieser rannte unter »Hilfe!«-Rufen auf die Fahrerkabine zu. Von seinem Gebrüll alarmiert, machte die Zugführerin auf dem Absatz kehrt, sprang wieder in die Bahn und bedeutete dem auf sie zu Stürzenden mit der einen Hand, sich in die Fahrerkabine zu flüchten. Er tat es. Mit der anderen Hand hatte sie bereits das Eisen mit Grifföse aus seiner Scheide und Klemme neben der Vordertür gerissen. Auf die Bachseite springend, erhob sie es im Umwenden beidhändig wie ein Schwert. Es war höchste Zeit, stürzte doch schon der Schäferhund zur Kabine, um sich endlich den Hasenfuß zu holen, der seinen Herrn beleidigt hatte.

Normalerweise diente das flache Stelleisen dazu, hier und dort die Weichen der altertümlichen Waldbahn umzulegen. Jetzt landete es gut gezielt auf dem Schädel des Hundes. Er heulte furchtbar auf und kippte mit einer Drehung wie ein Sack Kartoffeln in den Trittschacht. Da er sich als Toter nicht auf den Stufen halten konnte, plumpste er ins Gras. Spitze Schreie auch im Publikum. Blut und Hirn quollen aus dem Hundeschädel. Die keuchende Zugführerin stemmte sich auf ihr Stelleisen, ohne das Viech aus ihren blitzenden Augen zu lassen. Der Geflüchtete äugte aus der Kabine. Sie hatten beide den Eindruck, der Hund sei erledigt. Aber dann mußten sie erkennen, sein Herr war noch durchaus lebendig. Er stürmte wutentbrannt um den Bug und sprang über seinen armen Hund in die Bahn, ehe die Zugführerin geistesgegenwärtig genug gewesen wäre, die Türen zu schließen.

Nun entschlossen sich jedoch einige Fahrgäste, darunter BesucherInnen des Karateleistungszentrums am Waltershäuser Gleisdreieck, die Angelegenheit nicht mehr ausschließlich als kostenlosen Augenschmaus zu betrachten. Die Zugführerin hatte ihnen zu sehr imponiert. So stellten sie dem Hundehalter, der ihr an die Gurgel wollte, ein Bein, rammten ihn auf den nächstgelegenen Einzelsitz und fächelten ihm mit ihren verhornten Pranken Luft zu. Nach dieser schnappte er in der Tat. Die Zugführerin lächelte ihren Helfern dankbar zu und hielt dem Ausgepumpten das Stelleisen vor die Nase: »Sie haben Glück – es geht an Ihrem Dickschädel vorüber!«

Damit klemmte sie die tödliche Waffe wieder an die Wand und schwang sich in ihre Kabine, die inzwischen von dem verfolgten Radfahrer geräumt worden war. Er hing nicht minder ausgepumpt auf dem Fahrkartenentwertungsgerät und musterte seinen gedrungenen Widersacher, den er als Arsch mit Ohren bezeichnet hatte. Unterdessen schlossen sich die Türen. Er selber war mittelgroß, schlank und wies ähnlich annehmbare Ohren wie jener auf. Da sein Widersacher zu funkeln begann, funkelte er ebenfalls. So blieb es nicht aus, daß sie alsbald ein verbales Gefecht eröffneten, das wieder erheblich zur Belustigung der Fahrgäste beitrug. Während die Beschuldigungen und Schmähungen hin- und herflogen und die Waldbahn an Fahrt gewann, ließ sich trotzdem das Funkgespräch der Zugführerin mit ihrer Gothaer Zentrale vernehmen.

»… Ja, das glaube ich dir, Kollege. Wir hatten an der Haltestelle in Wahlwinkel eine kleine Fahrtunterbrechung. Sie führte mir zwei ziemlich verwirrte Mannsbilder und einen Schäferhund zu, den ich leider erschlagen mußte … Nein, mit dem Stelleisen … Ja, die beiden Verrückten sind noch an Bord … Nein, die Fahrgäste haben toll reagiert und sie mattgesetzt … Das halte ich für überflüssig. Wir passieren doch in ein paar Minuten sowieso die Schöne Aussicht, da kann die Polente die zwei Kampfhähne in Empfang nehmen … Ja, sicher, mach das mal gleich. Und schicke mir eine Springerin, denn es ist ja zu befürchten, die Polente kassiert mich ebenfalls gleich ein … Ach woher! Mein Wagen wimmelt ja von Entlastungszeugen! Die sollen mal schön einen Reisebus aus der Schubertstraße mitbringen … Ganz genau! Ende.«


2

Die um knapp 10 Minuten verspätete Waldbahn erklomm die leichte Anhöhe zur Schönen Aussicht gegen 16 Uhr. Köfel und sein Kollege Bertram von der Schutzpolizei hatten keinen Reisebus, sondern einen normalen Polizei-Pkw genommen. Da die Inspektion in der Schubertstraße fast um die Ecke lag, hätten sie auch zu Fuß gehen können. Doch es regnete noch immer, und sie wollten weder sich selber noch den Zeugen eine Erkältung zumuten. Angesichts der nahenden Waldbahn stiegen sie aus, überquerten die Waltershäuser Straße und schlüpften ins Wartehäuschen, wo unter anderem bereits ein bärtiger Mann in der dunkelblauen Waldbahn-Uniform stand. Köfel zog seinen grauen Filzhut und fand seine Vermutung, es sei der Springer für die Hundetöterin, bestätigt. Er bat den Mann um zwei oder drei Minuten Geduld, da er sich in der Straßenbahn erst ein paar Zeugen-Adressen notieren und vielleicht auch etwas umsehen müsse. Der Bärtige nickte nur.

Die Zugführerin stieg zuerst aus. »Frau Gumpling ..?« Sie bestätigte es. Dann verfolgten Bertram und Köfel belustigt, wie zwei mürrisch wirkende Männer um 50 von etlichen hinter ihnen feixenden Fahrgästen mehr oder weniger sanft hinterher gedrängt wurden. »Sie sind die Kontrahenten in Sachen Schäferhund ..?« Sie knurrten beide etwas, das als »Ja« interpretiert werden konnte. »Und das Tier?« wandte sich Köfel an die Zugführerin. Sie konnte ihn beruhigen. »Es liegt mausetot auf dem Wahlwinkler Kirmesplatz.« Köfel nickte etwas säuerlich, weil er kaum umhin kommen würde, auch noch den Verbleib der Leiche mit dem Hundehalter zu klären. Aber das hatte Zeit.

»Also gut, meine Damen und Herren! Folgen Sie doch bitte meinem Kollegen Bertram zum Wagen. Ich komme gleich nach. Wir fahren dann gemeinsam zur Inspektion, um uns über den Vorfall zu verständigen. Vielleicht ist die Sache schon in einer halben Stunde erledigt.«

Da es keinen Protest gab, führte Bertram das Trüppchen über die Straße. Köfel blickte ihnen vorsichtshalber nach. Er sah, daß sein junger Kollege alles richtig machte. Zum Beispiel ging er – wider Köfels Ausdrucksweise – den Tatbeteiligten nicht voran. Und dann nahm er keineswegs wie sie im Wagen Platz; vielmehr spannte er neben diesem einen schwarzen Regenschirm auf. Man konnte nie wissen. Im Wagen sitzend, wäre Bertram unter Umständen der ideale Nährboden für eine Beule am Hinterkopf gewesen.

In der Bahn bekam Köfel rasch die erwünschten Personalien einiger Zeugen. Er sah das Stelleisen an der Wand und einige Tropfen Blut auf dem Trittbrett. Das genügte ihm. Er gab dem neuen Zugführer Grünes Licht und wünschte Gute Fahrt.

Auf der Inspektion ließ sich Bertram mit den drei Tatbeteiligten im BesucherInnenzimmer der Abteilung Kripo nieder. Als ihn der Hundehalter nach der Möglichkeit fragte, mit seiner Frau zu telefonieren, reichte ihm der junge Polizist ohne Umschweife sein Handy. Die Frau hieß Manu – vielleicht Manuela. Karl hielt sich zurück und behelligte seine Frau nicht mit der Information, auf dem Wahlwinkler Kirmesplatz sei ein toter Schäferhund zu besichtigen. Er wies sie nur an, sein Abendessen warm zu stellen. Die beiden anderen Tatbeteiligten wollten nicht telefonieren. Köfel erschien und bat zunächst die Zugführerin in das Büro, das er sich mit Luckenwalde teilte. Dieser war unterwegs.

Zugführerin Elke Gumpling, 48, schilderte den Vorfall am Kirmesplatz aus ihrer Sicht. Ihre Sicht wich nicht nennenswert von der hier gegebenen ab. Sie stilisierte sich auch nicht zur Heldin der Arbeit. Den Griff nach dem Stelleisen verdanke sie der Erzählung eines Kollegen, der damit einmal einen messerschwingenden jungen Nazi in Schach gehalten hatte.

»Aha«, nickte Köfel. »Aber wenn Sie hinter dem Verfolgten kurzerhand die Kabinentür geschlossen hätten, wäre er doch in Sicherheit gewesen? Oder nahmen Sie an, der Hund sei speziell aufs Türklinkendrücken abgerichtet?«

Elke Gumpling verzog ihr Gesicht, rollte mit den Augen und sah Köfel halb spöttisch und halb strafend an. »Herr Kommissar, Sie müssen genauer hingucken! Die Kabinentür hat keine Klinke. Davon abgesehen, war ich weder darauf versessen, selber dem Köter zum Fraße zu dienen noch ihm den einen oder anderen Fahrgast zu opfern. Das Tier war doch von Sinnen!«

Köfel schmunzelte. »Ganz im Gegensatz zu Ihnen, Frau Gumpling! Ich danke Ihnen und bitte Sie, einstweilen wieder draußen Platz zu nehmen. Vielleicht noch zu Ihrer Beruhigung gesagt: Ich kann mir nicht denken, daß Sie belangt werden. Sollte ich recht behalten, werde ich eher umgekehrt Ihrem Chef vorschlagen, Ihnen einen Tag bezahlten Sonderurlaub zu spendieren.«

Als nächster saß der Hundehalter in Köfels Büro. Karl Moog, erwerbsloser Bagger- und Kranführer, zuletzt bei der Baufirma Kleine in Waltershausen beschäftigt, bestritt den uns bekannten Hergang an und in der Straßenbahn nicht. Das hätte ihm bei den zahlreichen Augenzeugen auch nichts genützt. Moog hielt besonders die Vorgeschichte für bedeutsam. Diese Gewichtung besaß den Vorteil, daß die Vorgeschichte außer ihm und dem Radfahrer niemand kannte. Es gab also keine lästigen Augen- oder Ohrenzeugen. Schlimmstenfalls stand Aussage gegen Aussage. So setzte Moog die treuherzig-besorgte Miene auf, die er als eifriger Fernseher vor allem von unbestechlichen Landesvätern her kannte, und trug vor:

»Er hat mich als Arsch mit Ohren beschimpft, Herr Kommissar! Und wissen Sie, was er sagte? Jawohl, er sagte nämlich, solche Ärsche mit Ohren wie ich seien ihm schon hunderte von Malen begegnet – und noch jedesmal habe er ihnen die Fresse poliert. Jawohl! Und da soll ich schön stramm stehen und keinen Widerstand leisten, Herr Kommissar? Ich bitte Sie!«

Köfel rieb sein Stoppelkinn, während er den schlagfertigen Bagger- und Kranfahrer mit Interesse musterte. »Verstehe, Herr Moog! Und dann haben Sie die Arme oder Ihren Regenschirm vor Ihr Gesicht gehalten, um die Faustschläge des Mannes abzuwehren ..?«

»Nun ja … Nicht ganz … Er hat ja nur einmal so durch die Luft gewischt, und dann hat er sich lieber davongemacht, weil er natürlich sah, mit uns kann er das nicht machen. Wen wundert es, wenn dann Hasso gleich hinter ihm hergestürmt ist. Der Schuft hatte seinen Herrn bedroht. Ich schrie mir natürlich die Lunge aus dem Hals, um Hasso zurückzuhalten, aber das nützt ja nichts. Also bin ich hinterher gemacht. Dann sehe ich, daß die Waldbahn sowohl den blöden Radfahrer wie meinen treuen Hasso gefährdet – folglich hänge ich mich mit letzter Kraft an dem Scheißspiegel ein, um das Schlimmste zu verhüten!«

Moog atmete schwer aus und erstrahlte dann schon fast. Offenbar war er stolz auf seine Erzählung. Im Wartezimmer hatte er sich eigentlich nur den Anfang zurechtgelegt. Aber einmal in Fahrt gekommen, hatte sie eine Wendung genommen, die ihn selber verblüffte. Jetzt stand er doch in gar nicht so schlechtem Lichte da!

Köfel rieb erneut seine Kinnladen, um seine Belustigung zu verbrämen. »Welche Übel wollten Sie genauer verhüten, Herr Moog?«

»Na, daß der Typ oder mein Hund überfahren werden! Diese Zugführerin war ja taub, die hat nichts gehört – denn ich schrie ja! So halten Sie doch, habe ich immer geschrien, aber sie hielt nicht.«

Köfel nickte und sah zu, den phantasievollen Bagger- und Kranfahrer so schnell wie möglich wieder ins Warte-zimmer zu bekommen. Dann hielt er sich erst einmal an Luckenwaldes Zimmerlinde fest und prustete sie kräftig voll, womit er sich nebenbei das heutige Gießen ersparte. Erst dann bat er den Radfahrer ins Büro.

Der Radfahrer war erheblich nachlässiger als der Arbeiter Karl Moog gekleidet. Seine fleckige und speckige olivgrüne Manchesterhose hatte die Waschmaschine wahrscheinlich letztmals an Ostern gesehen. Sie war beulig wie ein Eierversteck. Allerdings war der Mann tadellos rasiert – besser als Köfel. Dieser ließ ihn in dem Armlehnstuhl vor seinem Schreibtisch Platz nehmen und bat um den Personalausweis.

»Herr Reitmeier aus Waltershausen also … Reitmeier mit zweimal ei? Henner Reitmeier? Sagen Sie mal, der Name kommt mir irgendwie bekannt vor ..!«

»Wollen Sie mir schmeicheln?«

»Warum?«

»Weil ich ein Schriftsteller bin, den keine Sau kennt!«

»Aah!« tippte sich Köfel erleuchtet an die Schläfe. »Jetzt weiß ich es. Vor etlichen Jahren brachte die Hamburger Zeit einen ausgezeichneten längeren Artikel über Snooker, der war von Ihnen! Kann das sein?«

»Das stimmt allerdings. Ich hoffe nur, inzwischen lesen Sie Die Zeit nicht mehr.«

Köfel lag das nächste Warum? auf den Lippen, doch er verkniff es sich. Zum einen konnte er sich den Grund denken, zum anderen ging es ja eigentlich um einen erschlagenen Hund. Köfel entschloß sich, das Gespräch – nicht etwa die Vernehmung, denn das hätte der Belehrung und eines Protokolls bedurft – gleich auf die Vorgeschichte zu bringen. Er bat den Schriftsteller um eine Schilderung.

Der hagere Reitmeier hatte die Beine übergeschlagen und lehnte bequem im Stuhl. Er gestand ohne Scham, den Schirmträger als Arsch mit Ohren beschimpft zu haben, denn dessen Spruch Keine Angst, der ist ganz lieb, der tut Ihnen nichts habe er schon hunderte von Malen in seinem Leben gehört. Das habe er auch dem Schirmträger gesagt. Damit sei er wütend davongefahren, doch dieser habe seinen Köter hinter ihm hergehetzt. Die scheinheiligen oder saudummen Empörungsrufe des Schirmträgers und das Faß ihn, Hasso! habe er mit eigenen Ohren gehört. Dann habe er freilich Gas gegeben. Kurz vorm Bach …

Köfel hob die flache Hand. »Einen Augenblick bitte, Herr Reitmeier. Sie sagten: scheinheilig oder saudumm. Warum?«

»Weil Hunde gefährliche und zumindest einschüchternde Waffen sind. Ob der Halter gedenkt, sie einzusetzen oder nicht, spielt keine Rolle.«

Köfel verstülpte die Lippen und nickte langsam. »Der Zimmermann Heinz Melcher aus der Melankolonie Stichtaöhr hat sich neulich ähnlich geäußert. Offenbar kann man es so sehen. Melchers Kommune hat die Ächtung des Hundes sogar im Statut. Kennen Sie die Kommune?«

»Nie gehört. Es klingt aber interessant. Vielleicht sollten Sie mir einmal die Adresse geben.«

»Das kann ich gerne tun. Doch zuvor zur Sache. Bestehen Sie auf einer Ahndung des auf Sie erfolgten Übergriffs durch den aufgehetzten Schäferhund? Ich gebe Ihnen gleich zu bedenken: die Aussichten sind gering. Da vermutlich keine Zeugen aufzutreiben sind, stünde Ihre Aussage gegen die Aussage von Herrn Moog, falls er nicht einknickt.«

»Bestünde Aussicht auf einen Prozeß?«

Köfel grinste sofort und winkte mit dem Zeigefinger. »Sie Schlawiner! Sie wittern also Ihre Chance. Sie sagen sich: wenn das durch die Medien geht, kennen mich armen Schriftsteller schon ein paar Säue mehr!«

Reitmeier hob entrüstet seine gespreizten Hände. »Wo denken Sie hin, Herr Kommissar! Ich bin die Bescheiden-heit in Person. Ein Prozeß böte lediglich die Chance, einmal die zirka 50 Millionen Köpfe zählende Hundelobby in Deutschland anzupinkeln und beispielsweise die Einführung von Waffenscheinen zu fordern.«

Köfel schmunzelte. »Schon wahr, Herr Reitmeier, aber der Staatsanwalt dürfte kaum mitspielen. Er wird auf einen außergerichtlichen Vergleich pochen. Ich denke ebenfalls, für einen Prozeß lohnte der ganze Aufwand nicht.«

»Na gut«, winkte Reitmeier ohne große Überwindung ab. »Dann lassen wir es. Der Vergeltungs- oder Rachegedanke ist mir ohnehin fremd. Mir würde es genügen, wenn der liebe Moog begriffe, daß er in Begleitung eines scharfen Köters auf manche Leute alles andere als lieb wirkt.«

»Ich gebe Ihnen recht. Ich könnte mich in dieser Richtung bemühen. Versuchen wir es also kurzerhand mit einer Schlichtung?«

Da der Schriftsteller nur nickte, bat Köfel ihn, die anderen Tatbeteiligten und den Kollegen Bertram in ungefähr drei Minuten ins Büro zu führen. Er machte sich inzwischen weitere Notizen und dachte über das sinnvollste Vorgehen nach. In der Ecke zwischen Luckenwaldes Zimmerlinde und der Bürotür stand ein runder Tisch. Köfel nahm dort Platz. Als auch die Vorgeladenen nebst Bertram an ihm saßen, eröffnete Köfel die Sitzung mit den Worten:

»Meine Damen und Herren, erfreulicherweise ließen alle drei Tatbeteiligten durchblicken, an einer versöhnlichen Beilegung des Konfliktes interessiert zu sein. Weitere Ermittlungen und gar ein Prozeß wären nur mit unnötigen Kosten und krankmachendem Ärger verbunden. Meiner Ansicht nach bietet sich ein sofortiger Vergleich geradezu an. Herr Moog hat sicherlich einen prächtigen, wertvollen Schäferhund verloren, an dem sein Herz hing. Andererseits wirkte dieser Hund sowohl auf Herrn Reitmeier wie auf Frau Gumpling ohne Zweifel sehr bedrohlich. Nur darauf kommt es an, Herr Moog. Sie können bei einem Spaziergang die friedlichsten Absichten hegen – und doch wirkt ein Deutscher Schäferhund auf manche Menschen nicht wie ein runder Konferenztisch, auf dem eine weiße Flagge steht. Der Hund könnte beißen, zumal Sie ihn nicht an der Leine führten, Herr Moog. Der betroffene Mensch könnte demnach Angst haben. Zumindest zwingt ihn Ihr Hund zum Argwohn und zum Ausweichen. Damit wird bereits der Straftatbestand der Nötigung gestreift, Herr Moog. Nebenbei hat Ihr Hund eine Unterbrechung des öffentlichen Nahverkehrs verursacht, die normalerweise Regreßforderungen nach sich zieht … Allerdings hat Ihnen Herr Reitmeier genauso unbezweifelbar ein paar unflätige Worte an den Kopf geworfen. Sie waren spontan empört und legten es sicherlich nicht auf eine heimtückische Vergeltung an. Kurz und gut, wenn sich die Dame und die beiden Herren zu schlichten Händedrücken entschließen könnten, dürfte jeder sein Zugeständnis gemacht haben. Was halten Sie davon?«

Elke Gumpling reagierte zupackend wie schon früher. »Aber sicher!« platzte sie heraus und hieb ihre Hand wie die KaratekämpferInnen auf den Tisch. »Der Kommissar hat völlig recht. Begraben wir also unser Kriegsbeil, Herr Moog?«

Der Angesprochene druckste herum. Er rieb seine rosigen Wangen mit den Fingerknöcheln seiner schruntigen Pranken – wodurch sein Gesicht noch länger wurde als bereits durch Köfels Ansprache bewirkt – und irrte mit seinem ehedem treuherzigen Blick von einem zum anderen. Er erntete keine Feindseligkeit. So seufzte er und schlug in die Hand ein, die seinen Hasso in die Ewigen Jagdgründe befördert hatte. Reitmeier schloß sich an und gab dann auch seinem Widersacher die Hand.

»Ich bin sehr erfreut«, stellte Köfel fest. »Morgen werde ich einen Bericht schreiben und meinem Chef vorschlagen, die Akten zu schließen. Das wird er erfahrungsgemäß tun. Damit wäre die Sache erledigt – vorausgesetzt, Herr Moog verspricht mir, sich möglichst unverzüglich um die Hundeleiche zu kümmern? Na, prima … Jetzt habe ich freilich schon wieder eine Überstunde gemacht. Die Sitzung ist dringend beendet! Möchte jemand von Ihnen nach Hause gebracht werden? Herr Bertram hat Spätschicht und macht das sicher gerne.«

Doch die Männer versicherten, das sei nicht nötig, sie könnten die Straßenbahn nehmen, und Frau Gumpling wollte zu Fuß ins nahe Wagendepot.

»Auch gut«, erwiderte Köfel, gab mit einer Handbewegung Bertram frei und griff sich dann seinen Regenmantel vom Garderobenständer. »Gehen wir doch einfach geschlossen zu viert, es ist auch mein Weg!«


3

Auf dem Weg zur Schönen Aussicht ließ sich Köfel leicht zurückfallen, um neben Reitmeier zu gehen. Der Schriftsteller hatte die Nachhut gemacht. Es war schon dunkel, doch hatte es immerhin zu regnen aufgehört, sodaß Reitmeier seinen roten Umhang unter dem Arm tragen konnte. Dafür knurrte Köfel der Magen. Er sagte:

»Wissen Sie was, Herr Reitmeier, wenn Sie nicht gerade von dringenden Manuskripten erwartet werden, böte es sich doch an, gemeinsam unseren hiesigen schönen Snookersalon am Bahnhof aufzusuchen. Es gibt dort auch ausgezeichnete Imbisse. Sie wären mein Gast. Meine Wohnung liegt auf dem Wege. Somit könnte ich kurz hinaufspringen, um meine Queues zu holen. Ich besitze zwei. Sie sind beide nicht die Schlechtesten.«

Reitmeier war von der Vertraulichkeit des Kommissars nicht sonderlich überrascht. Dessen Äußerungen und seine Verhandlungsführung hatten ja deutlich gemacht, daß Köfel für einen Polizisten als Rarität gelten mußte. Er erwiderte:

»Ihre guten Queues in Ehren, Herr Köfel, nur: wie steht es mit mir? Ich habe seit mehreren Jahren kein Queue mehr angerührt. Um aber beispielsweise halbwegs genießbare Texte zu schreiben, trainiere ich täglich – seit mindestens 12 Jahren!«

Köfel winkte ab. »Da kommen Sie schnell wieder rein! Notfalls gebe ich Ihnen ein paar Punkte vor. Davon ab, fänden sich ja vielleicht auch noch andere interessante Gemeinsamkeiten.«

»Also gut. Ich habe Zeit. Ich müßte dann nur am Bahnhof nach der Abfahrtszeit des letzten Zuges schauen, der mir in Fröttstädt noch Anschluß nach Waltershausen gewährt.«

Köfel nickte. An der Straßenbahnhaltestelle verabschie-deten sie sich von Herrn Moog. Mit Frau Gumpling gingen sie weiter zum Wagendepot, das keine 400 Meter entfernt lag. Beim Händeschütteln sagte Reitmeier:

»Möglicherweise haben Sie mir das Leben gerettet, Frau Gumpling. Da ich ein armer Schlucker bin, kann ich Ihnen nur die Erkenntlichkeit in Aussicht stellen, Sie demnächst in den einen oder anderen Text zu hieven.«

»Ach Gottchen!« hielt sich Frau Gumpling den Mund. »Das wird was werden!« Damit verschwand sie winkend in dem Wagenhof.

Die beiden Männer folgten wie zuvor den Schienen der Bahnen 1 und 4. Bis zu Köfels Wohnung unweit der Haltestelle Ernststraße hatten sie nur noch fünf Minuten zu gehen. Reitmeiers Schritt war keineswegs schleppend. Köfel fiel das Geburtsdatum im Personalausweis des Schriftstellers ein, das ihn erstaunt hatte. Er sagte:

»Wie ein Greis von 58 wirken Sie aber gar nicht, Herr Reitmeier. Wenn es nicht am Snookertraining liegt – dann etwa am Schreiben?«

»Hoho!« lachte der Schriftsteller auf. »Ohne Schreiben, Herr Köfel, würde ich wahrscheinlich nur wie 30 aussehen!«

Köfel lächelte. Er wollte Reitmeiers Scherz gerade aufgreifen, als sein Handy dudelte. Es war Jule. Sie erkundigte sich, ob es bei ihrer Verabredung für den nächsten Tag bleibe. Das bejahte Köfel. »Prima – hat es sonst etwas Aufregendes bei euch gegeben?«

Mit »euch« meinte Jule die Kripo. Köfel erwiderte: »Eine heldenhafte Straßenbahnführerin hat einem Schriftsteller, den angeblich keine Sau kennt, das Leben gerettet. Er wurde von einem Schäferhund verfolgt.«

»Dann wäre es ja nicht weiter schlimm gewesen.«

»Was?«

»Na – wenn ihn doch sowieso keiner kennt!«

Köfel gluckste. »Na, na, na – das sage ich dem Schriftsteller aber lieber nicht. Wir marschieren gerade zum Snookersalon … Gut … Ja, mache ich. Tschüß, Julélula!«

Gleich darauf erreichten sie die Villa in der Ernststraße, aus deren Dachgeschoß Köfels großes Erkerzimmer herausstand. Er holte die Queues. Die schmalen, schwarzen Koffer hätten auch je eine doppelläufige Jagdbüchse enthalten können. Reitmeier nahm seinem neuen Bekannten einen Koffer ab. Nach wenigen Schritten hügelan bogen sie nach links.

»Verdammt!« hielt Reitmeier jäh inne. Sein Blick war auf das Straßenschild geheftet. »Vor dem ist man offenbar nirgends sicher. Selbst das Furznest Waltershausen hat eine Goethestraße.«

Da Köfel nur lächelte, setzte sich der Schriftsteller wieder in Bewegung. Die Goethestraße führte Richtung Schloßpark. Beiden Männern war allerdings die jüngste Krönung des Thüringer-Wald-großen Berges von Büchern über den Weimarer Dichterfürsten unbekannt. Ein italienischer Forscher führt da auf über 300 Seiten den »Indizienbeweis«, Frau von Stein sei nur eine Strohfrau gewesen, die Goethes Liebe zur Herzogin Anna Amalia höchstselbst zu verbrämen hatte. Stein war deren Hofdame gewesen. Dieser weltbewegende Befund versöhnt Italien sicherlich mit Berlusconi und der Mafia.

Nach einigen Querstraßen sagte Reitmeier: »Immerhin hatte Goethe kein Handy. Haben Sie keine Bedenken, Ihr Spür- und Scharfsinn könnte durch ungute Strahlungen geschädigt werden, Herr Köfel?«

»Naja … Ich kann da nicht so wählerisch sein, Herr Reitmeier. Ein Kripomann ohne Handy ist inzwischen undenkbar … Ich verdränge mein Wissen um diese Gefahr nicht anders wie ich meine guten Aussichten ignoriere, mich morgen mit dem Polizeiwagen zu überschlagen oder übermorgen von einem Neofaschisten erschossen zu werden, der sich unglücklicherweise als Verfassungs-schutzagent entpuppt.«

Reitmeier grinste. »Ich sehe, Sie blicken den Realitäten ins Auge.«

Sie durchschritten inzwischen den Südostwinkel des Schloßparks. Von den hohen, kahlen Bäumen tropfte es überall. Das Schloß selber auf der Kuppe wirkte wuchtig und häßlich wie immer. Jenseits der Parkallee bogen sie in die Jägerstraße. Vor deren Abknick in den Kunstmühlen-weg hielt Köfel inne. Er deutete zunächst nach links, wo ein stattliches älteres Gebäude aus bräunlichem Sandstein zu sehen war.

»Die Wohn- und Arbeitsstätte unseres Astronomen Peter Andreas Hansen«, erläuterte Köfel. »Er starb um 1870. Sehen Sie hinten den angestrahlten Turm? Das war dereinst die Sternwarte. Sie galt damals als mustergültig.«

Reitmeier nickte. Der vieleckige Turm wies ein umlaufendes blaugoldenes Band aus Rauten auf; in jeder Raute saß ein Sternchen. Jetzt deutete Köfel nach rechts in eine schmale Seitenstraße.

»In dem hell verputzten Mehrfamilienhaus hat Hanns Cibulka gewohnt. Erdgeschoß rechts. Ich hatte da einmal einen Einbruch zu untersuchen, bei dem ein paar wertvolle Gemälde verlustig gingen. Einem Schriftsteller die Bücher zu stehlen, bringt ja nicht viel ein. Allerdings habe ich von Cibulka so gut wie nichts gelesen. Es ist wie fast immer: man kennt nur den sogenannten Ruf.«

Der 2004 gestorbene Hanns Cibulka hatte über Jahrzehnte die Gothaer Stadtbücherei geleitet, die noch heute in der Orangerie unterhalb des Schlosses untergebracht ist. Außerdem schrieb er selber – neben Gedichten vor allem Tagebücher. Die Dramaturgie war nicht seine Stärke gewesen. Reitmeier schätzte ihn als ausgezeichneten Stilisten, was er Köfel auch nicht verhehlte, während sie den von Laternen gesäumten Kunstmühlenweg hinuntergingen.

»Na, ich weiß nicht«, sagte Köfel. »Ich habe zu Hause so ein dünnes Bändchen, Späte Jahre heißt es, da steht kaum was drin und es kostet trotzdem 7 Euro. Ich fand die minimalen Bemerkungen, die es enthält, ziemlich dürftig. Auf dem Umschlag hatte es leider geheißen, es handele sich um 'meisterhafte Miniaturen', in denen die Sprache 'aufs Höchste verdichtet' sei.«

Reitmeier lachte schadenfroh. »Reingefallen! Das ist doch der übliche verblendete oder berechnende Käse, wenn im Todesjahr eines Autors noch schnell ein Werk von ihm auf den Markt geschmissen wird. Etliche frühere Bücher von ihm sind erheblich besser. Da er Moralist ist, lassen sie allerdings sämtlich Humor vermissen. Bei Cibulka gibt es nichts zu lachen.«

»Er war Moralist? Aber lebte er nicht in der DDR?«

»Tat er, Sie haben recht. Ich begreife es auch nicht so ganz. Wahrscheinlich kannte er Das Kapital nur von den Rücken in seiner Stadtbücherei her. Er denkt in seinen Büchern durchaus viel nach, aber selten tief. Er klagt oder beschwört lieber. Er haßte Mücken, die ihm lebenslänglich zusetzten, und als genau eine solche Plage beschimpft er auch das Geld. Er nennt es antidemokratisch, dabei ist das Gegenteil der Fall. Das Geld steht für völlige Gleichheit und das Geld sorgt für Mehrheiten. Als vollendeten Ausdruck unseres quantitativen Denkens und Handelns will oder kann er es nicht begreifen, weil er kein Marxist ist. Statt Analysen gibt er Nebel. Er beschwört 'Demokratie', vor allem 'Basisdemokratie' – was ist das? Wie funktioniert es? Er beklagt 'Maßlosigkeit', sieht böse 'Kräfte' am Werk, spricht verschwommen von einem 'Verrat an Europa', empfiehlt den 'Weg des Herzens' und glaubt fest daran, über kurz oder lang werde ein 'spirituelles Zeitalter' hereinbrechen. 'Hereinbrechen'! Da wird im Güstrower Dom sicherlich Barlachs Schwebender Engel von der Decke fallen.«

»Sie sind ja ganz schön in Fahrt!« sagte Köfel fast bewundernd. Daß sich Reitmeier möglicherweise seit längerem nicht mehr richtig ausgesprochen hatte, sagte Köfel lieber nicht. Sie hielten inzwischen auf den Bahnhof zu. Köfel ergänzte: »Vielleicht ist Cibulka auf seinen spirituellen Trichter gekommen, weil er immer dieses Observatorium vor der Nase hatte.«

»Gut möglich!« lachte Reitmeier. »Aus der DDR hat er ihn jedenfalls nicht.«

Sie bogen um die erleuchtete neue Straßenbahnhalle und erreichten den Bahnhof. Nachdem sich Reitmeier die Abfahrtszeit des letzten Zuges eingeprägt hatte, hielten sie quer über den Vorplatz auf den Snookersalon zu. Sie kreuzten dabei den Weg einer älteren Dame mit Dackel. Reitmeier sah seinen Begleiter an:

»Apropos Moral, Herr Köfel. Vorausgesetzt, Sie haben mir meine Darstellung abgenommen – meinen Sie nicht, daß sich in Herrn Moogs Reaktion auf meine Beleidigung eine sehr befremdliche, gewalttätige Gesinnung offenbarte? Wenn er die Behauptung, er sei ein Arsch mit Ohren, mit der Drohung pariert, diesen Mistkerl umzubringen?«

Köfel nickte ernst. »Da muß ich Ihnen allerdings recht geben.«

»Und daß an solcher Verfaßtheit weder Ihre geschickte Schlichtung – nämlich: Beschwichtigung – noch die Moralpredigt eines Hanns Cibulka rüttelt?«

»Ja. Es ist die Verfaßtheit des 'autoritären Charakters', der sich bei Adenauer so gut wie bei Ulbricht aufgehoben wußte.«

Reitmeier machte eine hilflose Handbewegung. »1989/90 bestand vielleicht eine Chance, in der verflossenen DDR eine Gesellschaft zu schaffen, die weder Konkurrenz – und damit auch Krieg – noch Eigennutz züchtet, vielmehr Solidarität einübt. Ansätze waren ja vorhanden. Aber die Schmiede 'westlicher Werte' wünschten das nicht. Jetzt kämpft auch im Osten wieder jeder gegen jeden.«

Köfel sagte dazu nichts. Sie hatten ohnehin das Gebäude erreicht, in dessen Erdgeschoß der Snookersalon Reiner Tisch lag, und machten vor ihm Halt. Der dreigeschossige Klinkerbau mit Flachdach erstreckte sich parallel zu den Straßenbahnschienen im rechten Winkel zum Bahnhof. Zu den Schienen hin war das Erdgeschoß in einem eleganten Bogen herausgezogen worden. Die Klinker hatten zumindest bei Tageslicht die Farbe von Auberginen. Das gradlinige und schmucklose Gebäude ließ an die Bauhaus-Architektur denken. Reitmeier hatte es früher übersehen. Jetzt drückte er sein Wohlgefallen aus.

Köfel nickte zustimmend und schob dem Schriftsteller die flache Hand aufs Schulterblatt. »Treten wir kurzent-schlossen ein, um mit unseren Bedrängern reinen Tisch zu machen ..!«

Das Zitat brachte Reitmeier zum Lachen. Die hohe Flügeltür des Eingangs hatte senkrechte Griffstangen aus Edelstahl. Reitmeier zog den rechten Flügel auf und über-ließ seinem neuen Bekannten mit einer Handbewegung den Vortritt. Köfel zog seinen Hut und folgte der Aufforderung.
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