Montag, 15. August 2022
Köfel 5 Letzter Ritt einer VIP

Luckenwalde schüttelte mißbilligend sein schulterlanges, blondes Haar. »Nie und nimmer! Dingo macht das Rennen. Wollen wir wetten?«

»Sehr witzig«, erwiderte Köfel und verstaute seinen Wettschein sorgfältig in seiner Umhängetasche.

Luckenwalde strich genüßlich seinen gleichfalls blonden Schnauzbart. Sie verließen die Wettschalter am Totalisator und umrundeten den Abreiteplatz, der im Rücken des Tribünengebäudes lag. Über dem weitläufigen Oval der Rennbahn erhob sich ein strahlend blauer Himmel. Da Luckenwalde noch nach Widerworten zu dürsten schien, sagte Köfel:

»Du hast mir doch selber erzählt, Dingo stamme aus Märklins Stall. Ich kann unmöglich auf ein Pferd setzen, das für diesen Kriegstreiber läuft! Siehst du das ein?«

Luckenwalde verdrehte die Augen. »Du mit deiner Polit-Brille! Das ist der einzige Makel an dir. Unser Beruf ist es, Verbrecher zu bekämpfen, mein lieber Armin, nicht Politiker.«

Im Gegensatz zu dem schlacksigen Luckenwalde hatte Köfel seine drei Euro auf Veronika gesetzt. Er hatte einmal eine Geliebte gleichen Namens gehabt, an die er ohne Groll zurückdenken konnte. Von Galopprennen hatten beide Kriminalkommissare verhältnismäßig wenig Ahnung. Aber sie waren auch nur privat hier.

Köfel sah seinen Begleiter strafend an. »Mein Gott – Politiker oder Politikerinnen sind doch VerbrecherInnen!«

Luckenwalde machte »tse-tse« und winkte ab. Da er zur Faulheit neigte, hätte er ungern widersprochen. Köfel war ohnehin unbelehrbar. Nur im Snookersalon ließ er sich gern von Luckenwalde zeigen, wie ein Kopfstoß ohne Durchbohrung der Tischplatte bewerkstelligt werden kann.

Das im viktorianischen Stil errichtete Tribünengebäude glänzte mit buntlackierten Schnitzereien an den Brüstungen und Pfosten. Es war gut besetzt. Das Gelände wimmelte von Leuten, weil das Herbstwetter mitspielte. Es war der letzte Renntag der Saison. Jenseits der Landstraße, an der die Rennbahn auf dem Boxberg lag, standen hohe Eichen und Buchen, die sich bereits verfärbten. Diesseits zogen sich Stallungen hin. Von den sieben Rennen des Tages waren drei gelaufen. Es ging gegen 16 Uhr. Sie hielten auf den VIP-Turm des Tribünengebäudes zu, denn Luckenwalde hatte seinen Begleiter überredet, wenigstens bei einem Rennen einmal von ihren Privilegien Gebrauch zu machen. Sie besaßen die erforderlichen Brust-Anhänger für den Turm.

Köfel hatte die Rennbahn bis dahin nur bei Wanderungen gestreift. Von sich aus wäre er niemals auf die Idee gekommen, ein Pferderennen zu verfolgen. Er hielt es mit Stefan Zweigs persischem Schah, der auch so wisse, daß ein Pferd schneller als das andere laufe. Welches, sei ihm egal. Der Hinweis Luckenwaldes, Köfels neue Flamme treffe doch ohnehin erst am Abend ein, stimmte ihn um. So nahmen sie die rappelvolle Waldbahn, die auf ihrem Weg von Gotha nach Tabarz den Boxberg streifte. Luckenwalde unterhielt Köfel mit Informationen aus der Lokalzeitung (die Köfel nie las) und der Lokalgeschichte. Schirmherr des Rennens sei Ex-Minister Friedhelm Märklin. Er bringe seine Gräfin mit, die Geld wie Heu habe und diversen Pferdesportverbänden präsidiere. Die Wettkampfstätte auf dem Boxberg zähle mit dem äußeren Oval über 2.900 Meter zu den längsten der 47 deutschen Galopprennbahnen. Herzog Ernst II. aus dem Gothaer Schloß Friedenstein, der sie 1878 gründete, sei wie Märklin Pferdenarr gewesen. 2000 ging sie verspätet den Weg allen DDR-Volkseigentums: Privatisierung.

Folgendes hatte Luckenwalde nicht erzählt, da er's nicht wußte. Im August 1912 sah die Pferderennbahn eine Tauglichkeitsprüfung für Kampfflugzeuge. Das hatte nahegelegen, weil die Gothaer Waggonfabrik neuerdings solche Flugzeuge baute. Die Gothas waren beispielsweise 1916 an der Bombardierung Londons beteiligt. 1918 hatte die Waggonfabrik schon 1.250 Beschäftigte. Auch im »Dritten Reich« zählte sie zu den bedeutenden Rüstungsbetrieben. Insofern war Friedhelm Märklin als Schirmherr dieses letzten Rennens der Saison gar nicht so fehl am Platze, hatte er doch unter Kanzler Gerhard Schröder das sogenannte Verteidigungsministerium unter sich gehabt.

Der VIP-Turm, im Grundriß doppelt so groß wie Köfels Erkerzimmer in der Gothaer Ernststraße, erhob sich an der Nordseite der Tribüne. Im vierten und letzten Geschoß waren sämtliche Fensterflügel ausgehängt worden; dort würden die VIPs in 10 Minuten ihre Operngläser oder Feldstecher zücken. Die junge »Amazone« am vorkra-genden Treppenaufgang ließ nach Luckenwalde auch Köfel einspruchslos passieren, obwohl er nicht gerade sehr salonfähig wirkte. Allerdings lächelte sie etwas krampfhaft – so wie Köfel sahen die Pferdepfleger in den Ställen aus.

Im VIP-Raum stolzierten knapp 20 Leute umher. Luckenwalde begrüßte einen Fabrikanten, bei dem er letztes Jahr Diebstähle zu untersuchen hatte. Bis in die »Steuerparadiese« war er natürlich nicht vorgedrungen. Sie bedienten sich am Büfett mit Getränken und lehnten sich in eine Fensterecke. Während sie Campari mit Bananensaft schlürften, füllte sich der Raum allmählich. Luckenwalde zückte sein Fernglas. Er war außer Snookerspieler Angler. »Sie versetzen gerade die Startmaschine«, teilte er Köfel mit. »Das höre ich«, erwiderte dieser. Wechselte die Distanz, wurde der Start verlegt – das Ziel verblieb stets in Höhe der Tribüne. Die bahnbreite Startmaschine mit den vielen Schwingtüren wurde von einem Traktor gezogen und dann aus der inneren Hecke rückwärts quer in die Bahn geschoben. Sofort nach dem Start zog sie der Schlepper dann wieder ein. »Da ist er ja!« raunte Luckenwalde wenig später. – »Wer?« – »Na, Märklin. Er unterhält sich gerade mit Herrn Brychcy, seines Zeichens Bürgermeister von Waltershausen.« – »Zeig her!«

Luckenwalde hatte recht. Die beiden Politiker standen zwischen Tribüne und Rennbahn auf dem Rasen und plauderten angeregt. Der körperlich kleine Michael Brychcy, um 50, war gleichwohl kaum zu übersehen, weil er stets wie aus dem Ei gepellt wirkte und über alle vier Backen strahlte. Seine Dynamik unterstrich er gern durch Händereiben. Er hätte auch Coach eines Rennstalls sein können. Märklin überragte ihn um Kopfeslänge. Zwar war der 60jährige Ex-Kriegsminister edel gekleidet wie immer, doch an seinem dümmlich wirkenden glatten Gesicht war nichts zu retten.

Köfel gab Luckenwalde das Fernglas zurück und kämpfte gegen das Sinken seiner guten Laune an. Wäre er im Dienst, müßte er Märklin sofort verhaften. Jemand anders tat es ja nicht. Zwar hatte es in den ersten Jahren nach dem Überfall der NATO auf Jugoslawien 1999 einige Anzeigen aus linker Ecke gegeben, doch die Staatsan-waltschaft hatte sie mit den üblichen Begründungen abgeschmettert. Assistiert von Außenminister Fischer, hatte Märklin damals Tag für Tag Greuelopern für die Medien inszeniert, um vom Bruch sowohl des Grundgesetzes wie des Völkerrechtes abzulenken. In seinen Opern grillten die Serben Föten, schmiedeten Hufeisenpläne, bauten KZs und so weiter. Dies alles konnte später widerlegt werden, doch da interessierte es die Medien nicht mehr. Bestenfalls bestand Hoffnung auf Verläufe a lá Argentinien oder Uruguay. Das hieße, Märklin würde vielleicht mit 80 oder 90, wenn er bereits an Altersdemenz litt, zu einer Vernehmung vor irgendeiner sogenannten Wahrheitskommission gebeten.

Köfel kippte sich grimmig den Rest seines Longdrinks in den Rachen. Dann sah er mit bloßen Augen, daß Märklin dem entzückten Waltershäuser Bürgermeister seine inzwischen eingetroffene zweite Gattin vorstellte. Es war die von Luckenwalde erwähnte Gräfin mit dem vielen Heu. Märklin selber konnte allerdings auch in finanzieller Hinsicht nicht als Kriegsverlierer bemitleidet werden. Nach Schröders Abwahl machte sich Märklin wie jeder andere Ex-Minister oder Ex-Staatssekretär den berüchtigten »Drehtüreffekt« zunutze, um diverse Aufsichtsratsposten, Gastprofessuren, Gutachtertätig-keiten zu ergattern. Schließlich war einem ehemaligen Landesvorsitzenden der sogenannten Jungsozialisten nicht zuzumuten, mit erbärmlicher Minister- und Abgeordnetenpension in Altersarmut zu stranden.

»Verdammt«, murmelte Luckenwalde und pfiff durch die Zähne, ohne sein Fernglas abzusetzen. »Wenn ich diesen Bengel nicht aus der Gondel kenne! Ja, das ist er …«

Köfel ließ ihn gewähren. Er wußte, Luckenwalde hatte nicht etwa einen polizeibekannten Ganoven, vielmehr einen hübschen jungen Mann erspäht.


2

Um ein Haar wären Reutenborn ein paar Würste verkohlt, da er Märklin ebenfalls bemerkt hatte und nur schwer seinen Blick von ihm wenden konnte. Er haßte diesen Mann. Am liebsten hätte er seinen Grill mit der glühenden und qualmenden Holzkohle gestemmt und über dem gemeingefährlichen Schöndünster ausgekippt. Das war noch nicht einmal unrealistisch gedacht, denn im Gegensatz zu Märklins Gesprächspartner maß der hagere Reutenborn über 1,90. Die rote Schürze, die ihm sein »Arbeitgeber« Wöhler vorgeschrieben hatte, war wahrscheinlich der Hohn auf alle geplatzten Blütenträume Reutenborns. Der um einen Grill für Echte Thüringer Rostbratwürste erweiterte Ausschankwagen Wöhlers stand recht günstig im Winkel zu VIP- und Richterturm; Wöhler konnte sich nicht über mangelhaften Andrang beklagen. Er zapfte fast ohne Unterbrechungen. Wie sich versteht, entlohnte er seinen vor drei Monaten eingestellten Bräter Reutenborn nicht eben fürstlich. Mit diesem Knurren hatte er ja dankbar zu sein, wenn ihn Wöhler überhaupt der Kundschaft zuzumuten wagte. Und 61 war der Lulatsch schon! Wöhler ging erst auf die 40 zu. Nahe vor sich sah er die eigene Gaststätte, mindestens im neuen Erfurter Hauptbahnhof gelegen, besser noch am Domplatz. Wöhler schwebte nämlich ein gediegenes Lokal vor.

Reutenborns Gedanken an die Geldquellen, die sich der Ex-Minister inzwischen erschlossen hatte, trugen nicht zur Verbesserung seiner Laune bei. Aber Märklin war hier nur das Tüpfelchen auf dem i. Reutenborns Gemütsverfassung war bereits miserabel gewesen, bevor ihn dieses verfluchte »Knurren« befallen hatte. Es erinnerte teils an Asthma, teils an einen Schluckauf. Im übelsten Fall mußte Reutenborn alle 20 oder 30 Sekunden tief knurrend aufstöhnen. Schmerzen hatte er nicht. Warum er sich diese peinliche Störung vor rund einem Jahr bei einem harmlosen Stolpern über einen Bordstein zugezogen hatte, wußte niemand. Krankhafte innere Veränderungen hatten die Ärzte nicht gefunden. Allerlei Medikamente und Atemübungen schlugen nicht an. Eine Gesprächstherapie hatte Reutenborn als »fruchtloses Unterfangen« abgebrochen.

Inzwischen verfolgte er, wie sich Märklin von dem Bürgermeister und der eigenen Gattin löste, um auf den VIP-Turm zuzustreben. Irgendwelche zusammengerollten Unterlagen, die Märklin dabei mit der Rechten federnd auf seinen linken Handteller schlug, erinnerten fast an das Megaphon der Lüneburger Jungsozialisten, das Märklin vor rund 40 Jahren benutzt hatte, um den Demonstranten gegen die Notstandsgesetze »demokratische Spielregeln« einzutrichtern – im Falle Reutenborns und ein paar anderer allerdings vergeblich. Reutenborn hatte bald darauf seinen Job als Chemielaborant geschmissen, weil ihn Maos deutsche Abteilung der Roten Garde rief. Zuletzt hatte er in einigen mehr oder weniger anarchistischen Kommunen gelebt – aber auch darin war er letztlich gescheitert. Was den Lüneburger Mitbürger Märklin anging, so tauchte er 30 Jahre später als SPD-Chef und »Verteidigungsminister« wieder in Reutenborns Gesichtskreis auf. Selbstverständlich trug Märklin auch Mitverantwortung an der Ausplünderung der Erwerbslosen und der Wiedereinführung von Zwangsarbeit, die Kanzler Schröder betrieben hatte. Wenn Reutenborn persönlich dem »System Hartz-IV« bislang entgangen war, dann eben, weil er seit seinem Ausstieg aus der Kommune auf Schloß Tonndorf das erhebende Amt eines Bratwurstverkäufers versah.


3

Köfel hatte nicht mehr auf Märklin geachtet, weil ihn der Tumult vor der Startmaschine gefesselt hatte. Etliche Gäule wollten um keinen Preis in ihre Boxen; sie tänzelten, brachen aus oder stiegen auf, drehten sich und den wütenden Jockey im Kreis – Köfel feuerte sie insgeheim an, denn eigentlich hätte er als Kriminalbeamter bereits ähnliche Konsequenzen ziehen müssen. Doch jetzt wurde Köfel abgelenkt, weil der Schirmherr des Renntages mitten im VIP-Raum stand, um sich in seiner Bedeutung zu sonnen. Die SchmeichlerInnen umlagerten ihn sofort. Sich hütend, sie vor den Kopf zu stoßen, hatte er für jeden eine Auskunft oder eine Phrase. Ungefähr 40 Personen füllten den Raum. Die Gräfin und Brychcy waren noch nicht aufgetaucht. Luckenwalde unterhielt sich angeregt mit einem jungen Mann von der Thüringer Allgemeinen, der sich als Angler geoutet hatte. Köfel hörte nicht zu, fand es aber recht spaßig, wenn zweie beim Pferderennen über Forellen und Blinker fachsimpelten.

An der Startmaschine trotzte nach wie vor ein Fuchs, der allerdings eher einem Windhund glich. Bei den kleinen, edlen Rennern mit den seidigen Fellen konnte man jede Ader und jede Rippe zählen. Köfel fragte sich, ob ein Pferd in freier Wildbahn wie der Teufel über drei Kilometer preschen würde, nur um sich beklatschen zu lassen, den Tierarzt aufzusuchen, für 150.000 Euro den Besitzer zu wechseln. Von Springpferden wußte er mit Sicherheit, daß sie aus freien Stücken niemals über Teppichstangen oder Friedhofsmauern springen würden. Vielleicht drehte auch ein Dakota-Mustang bei der Büffeljagd ziemlich auf, aber bestimmt nicht schnurgerade. Die Gerade war auch in diesem Oval auf dem Boxberg gegeben. Geschwindig-keitswahn und Zielstrebigkeit gehörten untrennbar zusammen. Warum sollte sich einer ohne Ziel verausgaben – sich krankrennen für nichts? Das Ziel des unausrott-baren Fortschrittsdenkens im allgemeinen war es, in der Schöpfung, die man nicht selber in Gang setzen durfte, wenigstens die Nase vorn zu haben. Macht euch die Erde untertan. Der US-Paläontologe Stephen Jay Gould hatte einige hervorragende Kritiken des Fortschrittswahns geschrieben. Wie Köfel sich entsann, hatte Gould in seinem Buch Illusion Fortschritt von 1996 als Paradebeispiele neben dem Baseballspiel und seiner eigenen Krebserkrankung die Evolution der Pferde behandelt. Er sprach vom »Evolutionsbusch« der zahlreichen Pferdearten, die es in 55 Millionen Jahren gegeben hatte. Die zwingende, gradlinige »Höherentwick-lung« vom Urpferdchen Hyracotherium zum heutigen Equus – das uns als das Pferd gilt – stellt ein Märchen dar. Winzige Verschiebungen, und es hätten sich ganz andere Arten durchgesetzt. Entsprechend sprach Gould auch schon früh vom Zufall Mensch. Der Mensch gefällt sich aber ungemein besser mit dem Auftrag, Krone der Schöpfung zu sein.

Eine Dame mittleren Alters in ausgesprochen schnittiger Motorradlederkluft lachte hell auf, weil Märklin offenbar ein umwerfender Scherz gelungen war. Sie faßte ihn gar am Arm und ließ ihn in ihren halbgeöffneten Reißverschluß linsen. Dann drängte sie ihren Bewunderer zur Fensterbrüstung, weil vom Richterturm soeben um Verzeihung für die störrischen Starter gebeten worden war – es gehe gleich los. Keine drei Meter von Köfels Ecke entfernt machte man dem Minister und seiner Motorradmieze Platz. Da hatte Köfel sie vor der Nase: die Elite der Evolution.


4

Reutenborn war Märklins Gebaren als Hahn im Korb nicht entgangen. Es erboste ihn verständlicherweise auch deshalb, weil es ihn auf sein neues Gebrechen verwies. Als knurrender Hahn konnte er sich die Hoffnung, noch einmal eine hübsche Frau für sich einzunehmen, ziemlich sicher abschminken.

Aber es kam noch dicker. Märklin und seine flotte Verehrerin schienen gerade Wöhlers Bude ins Auge zu fassen, denn sie gestikulierten entsprechend. Und als plötzlich des Hahnes Stimme vom Turm herabkrähte, fiel Reutenborn fast die Wurst aus der Zange.

»Hallo, hallo – lieber Kamerad in der roten Schürze! Sei doch so gut und bringe uns mal eben deine beiden knusprigsten Sticks herauf … Geht das in Ordnung?«

Im ersten Moment wollte Reutenborn aufbrausen. Gerade er! Einem Märklin gefällig sein! Und sich zu der Herablassung auch noch ein Trinkgeld in die Pfote drücken lassen!

Doch dann durchfuhr ihn eine Art Erleuchtung, und er biß sich auf die Zunge. Vielleicht war es seine Chance! So rief er in gespieltem Gleichmut zurück:

»Kein Problem. Kommt sofort!«

Während Reutenborn unwillkürlich knurrte, hob Märklin dankend die Hand. Auch Wöhler nickte Reutenborn wohlgefällig zu. Er hatte des Hohen Tieres Begehren natürlich mitbekommen und fühlte sich enorm geschmeichelt.

Obwohl sich Reutenborn mit seinem runden Tablett mit den beiden gefüllten Brötchen darauf bereits vom Grill entfernte, durchliefen ihn plötzlich heiße Wellen. Er hatte Mühe, das Tablett in der Waage zu halten. Jetzt wurden auch noch seine Hände feucht. Zum Knurren hämmerte sein Herz. Verdammt! Er mußte sich »am Riemen reißen«, schließlich war man unter Gäulen!

Auch der jungen Amazone, die den Treppenaufgang des VIP-Turmes bewachte, war Reutenborns Beauftragung nicht entgangen. Sie nickte ihm lächelnd zu und ließ ihn einspruchslos passieren. Armer Kerl! dachte sie. Was hat er denn nur für einen Frosch verschluckt? Sie blickte ihm nach und sah, daß er auch noch wie Espenlaub zu zittern schien. Vielleicht hatte er noch nie in seinem Leben einen prominenten Politiker bedient.


5

Köfel lehnte wie alle an der Brüstung und blickte zum Start. Als er aus den Augenwinkeln heraus eine jähe Bewegung wahrnahm, die ungefähr in Kniehöhe ansetzte, war es schon zu spät. Märklin kippte mit einem Aufschrei über die Brüstung und stürzte in die Tiefe. Schreie von anderen Personen folgten, während sich Köfel auf den mutmaßlichen Attentäter hechtete und Luckenwalde zur Tür rannte, um nötigenfalls eine Flucht zu verhindern. Zwar hatte Köfel den Attentäter in der Klammer, doch leistete dieser nicht den geringsten Widerstand, sah man einmal von einem merkwürdigen Knurren ab. Köfel hatte ihn natürlich längst als den Wurstbräter mit der roten Schürze erkannt. Waffen konnte Köfel nicht an ihm ertasten. Die beiden Brötchen mit den Sticks waren auf dem Teppich zerborsten. Draußen war die Hölle los. Aber auch in Köfels Rücken erscholl Gebrüll. »Ein Verrückter! Dieses Schwein!« Im Umwenden sah er einen tadellos gekleideten Herren auf sich zustürzen, der gleich noch andere Rächer nach sich zog. Köfel ließ Reutenborn los, wehrte den ersten Faustschlag ab und rief schneidend: »Kriminalpolizei! Nehmen Sie sofort Vernunft an, sonst machen wir Pferdeäpfel aus Ihnen! Bernd, habe ich recht?!«

Luckenwalde reagierte prompt. »Kriminalpolizei! Keiner rührt den Täter an, keiner verläßt den Saal!« rief er von der Tür aus. Da der führende Rächer trotzdem noch auf Köfel einhieb, weil dieser Reutenborn deckte, legte ihn Köfel kurzerhand aufs Kreuz. Das bewog die anderen Männer zum vollständigen Rückzug. Auch der Lärmpegel im Raum sank durch Köfels Aktion deutlich ab.

Der Mann am Boden rieb sich seine Prellungen, gab sich aber noch nicht geschlagen. Er keuchte: »Verrückte, ich sage es ja! Wenn Sie von der Kripo sind, warum haben Sie dann das Attentat nicht verhindert? Und dann noch brutal werden! Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?!«

Luckenwalde platzte heraus: »Jetzt aber Schluß! Geben Sie bitte noch ein paar Minuten Ruhe, dann werden wir Sie nicht mehr behelligen.« Er lehnte nach wie vor an der Tür und schickte strafende Blicke durch den Raum.

Der zu Boden Gegangene rappelte sich murrend wieder auf. Die anderen Leute starrten teils aus dem Fenster zu dem Menschenauflauf um den Gestürzten, teils auf Reutenborn. Er hatte sich auf einen Stuhl sinken lassen und das Gesicht in seinen Händen vergraben. Sein Knurren ging einstweilen im Tumult unter. Die Schürze auf seinen Knieen wirkte wie ein Leichentuch, obwohl oder weil sie rot war. Während Luckenwalde sein Handy zückte, beugte sich Köfel aus dem Fenster und rief: »Ist der Rettungswagen alarmiert?« Das wurde bejaht. Luckenwalde wählte die Einsatzzentrale an.

»Kriminalkommissar Luckenwalde. Bitte sofort einen Streifenwagen zur Rennbahn am Boxberg. Es hat einen Anschlag gegeben. Ich denke jedoch, zwei Kollegen genügen … Nein, der Rettungswagen ist schon unterwegs … Jawohl. Ende.«

Das Telefongespräch trug zur Disziplinierung der Anwesenden bei. Gleich darauf näherte sich der jaulende Rettungswagen. Ehe die Sirene zu laut zu werden drohte, verkündete Köfel nach einem Blickwechsel mit Luckenwalde:

»Meine Damen und Herren, um die Zeit bis zum Eintreffen unsrer Kollegen zu nutzen, werde ich schon einmal beginnen, die Personalien der Augenzeugen aufzunehmen, so sie denn vorhanden sind. Wer hat den Ablauf der Tat verfolgt und stellt sich mir als Erster zur Verfügung ..?«

Wie sich ergab, war Reutenborns Zugriff von zwei Personen beobachtet worden. Offenbar war er geradewegs auf den Ex-Minister zugegangen, der ihm wie fast alle Anwesenden den Rücken zukehrte. Dann bückte er sich überraschend, ließ das Tablett fallen und umklammerte Märklins Fußknöchel, um ihm so die Beine hochzureißen. Die beiden Zeugenaussagen deckten sich.

Während Köfel noch Notizen machte, ging unten die Sirene wieder los. Er tauschte mit Luckenwalde einen vielsagenden Blick. Sein Kollege hielt nach wie vor die Tür, um jetzt eher umgekehrt den Eintritt von Leuten zu verhindern. Wegen der Sirene wußten sie beide, Märklin konnte nicht oder noch nicht tot sein, durften doch Krankenwagen keine Leichen transportieren. Reutenborn hatte sich inzwischen seiner albernen Schürze entledigt und anschließend rücklings auf dem Teppichboden ausgestreckt. Sie hatten keinen Grund gesehen, ihn daran zu hindern. Seine Augen waren bis auf einen Spalt geschlossen. Er wirkte schief, unzugänglich und ächzend wie ein alter Fachwerkbalken.

Luckenwalde rückte jetzt von der Tür ab, weil sich die beiden Kollegen von der Schutzpolizei bemerkbar machten. Sie traten ein. Luckenwalde wollte ihnen gerade die Lage umreißen, als vom Richterturm eine Ansage kam. Da noch Aussicht bestünde, das Leben des tragisch Verunglückten zu retten, habe sich die Rennleitung schweren Herzens entschlossen, das Rennen nicht abzubrechen. Start Nr. 4 erfolge in wenigen Minuten.

Reutenborn hatte nicht wahrnehmbar reagiert. Luckenwalde setzte die Kollegen ins Bild. Sie kamen zu viert überein, im Moment seien weitere kriminalistische Untersuchungen überflüssig. Da auch keine Volkserhe-bung mehr niederzuwerfen war, nahmen sie Peter Reuten-born in ihre Mitte und verließen geschlossen den Saal.


6

Nach kurzer Berichterstattung an die Einsatzleitung ging Köfel nach Hause. Luckenwalde hatten sie bereits in Sundhausen abgesetzt. Jetzt war es kurz nach 18 Uhr. Die Gothaer Polizeiinspektion – ein mächtiger Neubau mit kugelbeschwerten Zinnen auf dem flachen Dach – lag außerhalb des Zentrums in der Schubertstraße. Köfel wohnte auf halbem Wege zwischen seiner Dienststelle und dem Schloßpark in einer stillen Seitenstraße. Er hatte nur 10 Minuten zu gehen. Die Ernststraße lag in einem »besseren« Viertel, das überwiegend Villen aus der Jugendstilzeit mit Vor- und Hintergärten aufwies. Jule gegenüber war ihm diese Lage erstmals peinlich gewesen. Doch sie verspottete ihn nur als »Parkwächter« und hielt sich nicht ungern besuchsweise in Köfels Domizil auf. Sie war inzwischen nach Tonndorf gezogen. Köfels kleine Wohnung lag zwar im Dachgeschoß einer Villa, doch sein Hauptzimmer füllte einen ausgedehnten Erker aus, der turmartig übereck auf die Ernststraße und den seitlichen Garten blickte. Köfels schmale Küche unter der Dachschräge diente zugleich als Wohnungsflur. Er ging zunächst ins Bad um zu duschen, bevor er ein Essen für zwei Personen zubereitete.

Jule traf gegen acht ein. Da sie sich wegen einiger Gastspiele des Zirkus' – den letzten der Saison – drei Wochen lang nicht gesehen hatten, dehnte sich die Begrüßung entsprechend aus. Es war schon neun durch, als Köfel seine Gemüsepfanne noch einmal in den Backofen schob. Bananen, Ingwer, Schinken waren auch im Spiel. Jule rühmte das Essen. Sie saßen im Erkerzimmer an einem kleinen, runden Tisch, den Köfel meistens mit Stapeln von Büchern an seinem Bett stehen hatte. Jule erzählte von unterwegs. Der Zirkus war im Vogtland gewesen. Dabei fiel ihr jedoch unvermittelt ihre Fahrt zu Köfel ein. Sie war von einem Gast im Tonndorfer Schloß mitgenommen worden, der sie geschlagene 40 Kilometer lang mit seinem Autoradio beglückte. Von daher erkundigte sie sich bei Köfel, ob er schon von dem Anschlag auf der Rennbahn am Boxberg gehört habe, dem kein Geringerer als der Ex-Minister Friedhelm Märklin zum Opfer gefallen sei.

»Zum Opfer gefallen?«

»Ja, tot. Es kam in den Nachrichten, als ich vorhin im Auto dieses Stiesels aus Kassel saß.«

»Tot?«

»Tot«, nickte Jule. Sie lauerte auf ein Anzeichen 'klammheimlicher Freude' im Gesicht ihres Geliebten, doch als Kriminalbeamter merkte es Köfel und hütete sich.

»Was haben sie denn in den Nachrichten noch gesagt?«

»Ein möglicherweise geistig behinderter Bratwurstver-käufer habe Märklin hinterrücks aus dem VIP-Turm gestürzt. Märklin war Schirmherr des Renntages und hatte auch selber Pferde laufen. Der Täter habe sich widerstandslos festnehmen lassen.«

Köfel schüttelte halb ungläubig, halb belustigt seinen Kopf. »Ein möglicherweise geistig Behinderter ..?«

»Ja. Hat die Tussi im Radio gesagt.«

Köfel schnob. »Aber ich habe es nicht der Einsatzleitung gesagt! Wie schnell das geht …«

»Du? Ich dachte, du hättest das ganze Wochenende frei!«

Köfel nickte beruhigend und erzählte von seinem kleinen Ausflug mit Bernd Luckenwalde, bei dem sie prompt in die Dienstfalle rasselten. Werden dienstfreie Kriminalbeamte mit Vergehen konfrontiert, können sie sich ad hoc »in Dienst versetzen« um amtlich zu handeln. Ihre Dienstausweise führen sie in der Regel ohnehin immer mit sich; ihre Dienstwaffe schon seltener. Aber auf dem Boxberg war es ja ohne Schießerei abgegangen. Beamte wie Köfel und Luckenwalde sind in zahlreichen Kampfsportarten ausgebildet.

»Dann meinst du, der beherzte Typ, der Märklin aus dem Rennen geworfen hat, war kein Verrückter?«

»Ich glaube nicht. Er briet seine verseuchten Würste nicht weniger routiniert als andere arme Henker – ein langer Lulatsch so Ende 50, schätze ich. Er wirkte vielleicht behindert, weil er seltsam knurrte, wohl von einer Krankheit oder einem Unfall her. Aber ein Verrückter streckt sich nicht nach vollbrachter Mordtat rücklings auf dem Teppich aus; er versuchte wohl sich zu beruhigen. Seine rote Schürze, die er sich vorher abband, warf er übrigens auf die Fensterbrüstung, von der sie auch prompt abrutschte – sozusagen dem Gestürzten hinterher …«

Jules Brauen waren von Satz zu Satz höher gewandert. »Sagtest du ein langer Lulatsch so Ende 50 ..?«

»Richtig.«

»Heißt er zufällig Peter Reutenborn?«

Jetzt war das Staunen an Köfel. »Woher weißt du das?«

»Ich brech zusammen!«

Jule mußte sich von Köfels Bestätigung erst einmal erholen. Sie griff nach der Weißweinflasche und schenkte nach. Schließlich murmelte sie mehr zu sich selbst: »Aber so etwas lag ja eigentlich in der Luft. Peter hatte immer eine Mordswut auf die 'Sieger von 1968', und dann verfolgte ihn auch noch das Pech …«

»Woher kennst du ihn denn?«

»Aus Tonndorf.«

Peter Reutenborn hatte – im Gegensatz zu Jule – sogar zu den Gründern der Kommune auf Schloß Tonndorf gehört. Er verließ sie bald nachdem Jule sich ihr angeschlossen hatte. Er hielt das Projekt für gescheitert – für ihn hatte sich in dem heruntergekommenen Schloß eine »Hippie-Fraktion« mit einem Laissez faire durchgesetzt, das ihm gar nicht behagte. Emil hatte Jule einiges von Peter und dem Konflikt erzählt. Er betonte, Peter sei das Handtuchwerfen nicht eben leicht gefallen – sich auch selber manche Illusion gemacht zu haben, sei dabei noch das Bedrückendste für Peter gewesen. Mit dem Ausstieg hatte er etliche tausend Euro und seine sinnvolle Beschäftigung in der Schlosserei der Kommune verloren, sodaß er wieder dem »Freien Markt« zum Fraße fiel. Allerdings hatte er keinen Gesellenbrief vorzuweisen. Würste zu braten war dann natürlich die Krönung. Auch der Lohn war lächerlich; an seine magere Altersrente wagte er kaum zu denken. Es kam hinzu, daß er in seiner Erfurter Sozialwohnung zu vereinsamen drohte, weil die Kommuneszene weggefallen war. Er war ja doch in einigem Unfrieden von den meisten Tonndorfern geschieden. Dann ereilte ihn dieses Knurren, weil er über einen schnöden Bordstein gestolpert war. Das Gleichge-wicht verloren zu haben, paßte natürlich als Metapher seines Allgemeinzustandes wie die Faust aufs Auge.

Jule hob ihre Schultern. »Mit seiner neuen Behinderung konnte sich Peter natürlich auch von seiner heimlichen Hoffnung verabschieden, noch einmal eine Lebens-gefährtin zu finden. Mit der letzten hatte er sich bald nach Kommunegründung entzweit.«

»War er streitsüchtig?«

»Eigentlich nicht. Es ist schwer zu beschreiben. Er war ein freundlicher und zugänglicher Mensch, aber nur bis zu gewissen Grenzen. In diesem Punkt unterschied er sich deutlich von Emil, während ihre Kritik am Kommunekurs viel Übereinstimmung zeigte. Peter verpönte das 'Psychologisieren'. Er wollte die Erörterung von Gemütszuständen in die einzelnen Beziehungen oder Zimmer und Bauwagen der Kommunarden verwiesen wissen. Unser wöchentliches 'Sozialplenum' galt ihm teils als Kinderei, teils als Folter. Er glaubte, das 'Psychologi-sieren' – also Ansprechen von Wünschen, Groll, Konflikten – erschwere das Gemeinschaftsleben. Erleichtert werde es von einem höflichen, rücksichtsvollen Umgang miteinander. Wie das getrennt werden kann, ist mir unbegreiflich. Jene Weigerung fiel dann ja auch immer mal wieder auf Peter zurück. Er konnte zuweilen wegen einer Kränkung, eines Mißverständnisses, ja seines Mißmutes trotzig oder aggressiv werden … Zweimal teilte er sogar Faustschläge gegen einen Kommunarden und einen Gast aus, wie mir Emil anvertraute. Natürlich schämte sich Peter alsbald und bat um Verzeihung.«

»Hat er einmal aus der Kinderstube geplaudert?«

»Emil und mir gegenüber nicht. Das vermied er ja gerade.«

Köfel ließ die Neige Wein in seinem Glas kreisen, während er über das Gehörte nachdachte. Draußen war es längst dunkel. Jules Kurzhaarkopf ähnelte einer Kokosnuß, da ihn der Schein von Köfels Stehlampe nicht erreichte. Von der Küche her fiel gedämpftes Licht durch die Milchglasscheibe der Verbindungstür. Im Haus herrschte Stille. Köfels Nachbar im Dach war Wochenend-Heimfahrer, und ihre im Erdgeschoß wohnenden VermieterInnen hatten erfreulicherweise keinen Besuch von ihren 20 Enkeln.

»Hat Peter Kinder?«

Jule schüttelte ihren Kopf. »Eine frühe Ehe blieb kinderlos. Im vergangenen Jahr ist auch seine gebrechliche Mutter gestorben, die er in Lüneburg regelmäßig besucht hatte. Sie bezahlte ihm immer die Bahnfahrt.«

Köfel trank sein Glas aus, blieb in seinem Cocktailsessel zurückgelehnt und schloß die Augen. »Er mußte keine Rücksichten mehr nehmen. Er hatte nichts zu verlieren. Vieles hatte sich angesammelt und aufgestaut; jetzt begriff er die unverhoffte Möglichkeit, an Märklin zu kommen, als Chance. Beim Verlassen der Rennbahn haben wir mit einer Türsteherin und seinem Arbeitgeber aus dem Bierwagen gesprochen. Danach hatte sich die Möglichkeit spontan eröffnet. Daß Reutenborn den Anschlag plante, als er in der Zeitung von Märklins Schirmherrschaft las, darf wohl ausgeschlossen werden – schon eine Strafmilderung. Andererseits war er ohne Zweifel für eine solche Tat disponiert. Sie hätte sonstwen treffen können. Nur muß er ja dem Gericht seine Kinderstuben- und Kommune-geschichten sowenig auf die Nase binden wie dir. Seine Tat ist sozialpolitisch motiviert. Sie setzt ein antimilitari-stisches Fanal. Ja, genau das ist es, meine herzerfrischende Kokosnuß!«

Köfel hatte seine Augen wieder geöffnet. Jule belächelte den befremdlichen Kosenamen, dessen Gründe ihr verschlossen sein mußten. Sie fragte zurück: »Was ist es?«

Köfel rieb sich unternehmungslustig die Hände und griff nach der Weinflasche. »Der Anschlag muß gegen die Kriegshetzer und gegen unsere karrieregeilen VolksvertreterInnen ausgeschlachtet werden! Paß auf: morgen vormittag werde ich Reutenborn vernehmen, ehe ihn der Richter – du weißt ja, daß 24 Stunden Polizeigewahrsam nicht überschritten werden dürfen – nach Suhl oder Meiningen in die U-Haft schickt. Der Chef wird mir den Fall bestimmt überlassen; Luckenwalde will ihn sowieso nicht. Ich werde Reutenborn die geschilderte Strategie vorschlagen. Beißt er an, werde ich ihm einen bewährten linken Anwalt empfehlen und ihm auch versprechen, mich an den Kosten zu beteiligen. Ich sehe schon die GutachterInnen aufmarschieren, die den verblichenen Märklin und seine Spießgesellen derart nackt ausziehen, daß die Gräfin mit dem vielen Heu Heulkrämpfe kriegt! Was hälst du davon?«

Jule gefiel diese Art von Solidarität, obwohl die horrenden Anwaltskosten möglicherweise von ihren heimlichen Zukunftsplänen abgingen. Sie hatte jedoch andere Zweifel. »Was sagst du denn, wenn sich Peter mit Absicht in den Knast katapultiert hat? Wenn er gar nicht mehr raus will?«

Köfel schnalzte anerkennend mit den Lippen. »Nicht schlecht! Damit müssen wir rechnen. Aber das eine schließt ja das andere nicht aus. Eine Demaskierung von Märklin & Co würde ihm sicherlich auch als Zellen-bewohner gut tun. Unter 10 Jahren dürfte er ohnehin kaum wegkommen!«

Jule faßte sich ein wenig erschrocken ans Kinn. Schließlich war sie neulich selber nur recht knapp dem Knast entgangen. Aber dann griff sie ebenfalls nach dem neugefüllten Weinglas und sagte:

»Also einverstanden. Wir machen es so. Je länger Peter sitzt, umso öfter können wir ihn ja besuchen. Laß uns darauf anstoßen!«
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