Samstag, 13. August 2022
Köfel 2 Bögen

Durch den Anschlag auf den joggenden Außenminister wurde Köfel immerhin mit dem kreisstädtischen Vereins-reichtum bekannt gemacht. Man verfüge sogar über einen traditionsreichen Verein der Bogenschützen, der mit rund 70 aktiven Mitgliedern den Verein der Modelleisenbahn-freunde noch deutlich übertreffe, eröffnete ihnen der Chef. Dabei schob er ihnen auch schon die alphabetische Liste der 70 Aktiven mit der Bitte zu, sie unter sich aufzuteilen und dann möglichst umgehend abzugrasen. Zuberschwamm und Köfel machten Stein-Schere-Papier. Zuberschwamm gewann, wählte die zweite Hälfte der Liste und überließ Köfel damit die Bogenschützen A bis M. Köfel schlug ihm vor: »Statt unterwegs dauernd Kaffee zu trinken, solltest du einmal bei deinem Therapeuten vorbeischauen und dich erkundigen, warum sich ein Mensch namens Zuberschwamm zufällig für den zweiten Teil einer alphabetischen Liste erwärmt.«

Mit dem Abgrasen der Liste war natürlich gemeint, die darin aufgezählten Leute ohne Vorankündigung aufzusuchen. Somit hatte Köfel jede Menge Lauferei – ohne Zweifel mehr als der joggende Außenminister. Dieser befand sich derzeit mit dem knallgrün lackierten Wahlkampfbus seiner Partei auf Tour und absolvierte in jedem Städtchen, wo der Bus Station machte, eine ausgesuchte und gutabgesicherte Joggingstrecke, die immerhin sechs Kilometer maß. Neben seinen Leibwächtern pflegten ihn die sportliche Fraktion der jeweiligen Ortsgruppe und der eine oder andere Überläufer zu begleiten. In der Kreisstadt führte die Strecke vom Obermarkt durch den mit blühenden Rosenbäumchen gespickten Schloßpark und dann hinunter in die Wachnitzschlucht, wo sich beiderseits des Flüßchens Weinkeller aus Sandstein und malerische Fachwerkhäuser mit Schieferdächern an die Steilhänge schmiegten. Der Osthang war zudem von Wald bekrönt. Wie sich versteht, sollte der ovale Kurs auch wieder auf dem Obermarkt enden, wo der keuchende, aber gleichwohl spitzbübisch zwinkernde deutsche Außenminister einige Erläuterungen zur unumgänglichen »Enttabuisierung des Militärischen« zu geben gedachte. Vielleicht bezog sich das Zwinkern darauf, daß er persönlich sich durch sein Joggen weniger für die Jagd auf muslimische Terroristen stählte, vielmehr für die immer jünger werdenden Frauen, die er während seiner steilen Karriere wie von der Seilbahn weg ehelichte.

Gestern nachmittag war die Abschlußrede ausgefallen. In der Wachnitzschlucht hatte sich der Außenminister plötzlich mit einem Aufschrei an seinen Hintern gefaßt. Bevor er stürzen konnte, umfingen ihn seine Leibwächter, wodurch sie ihn auch daran hinderten, an dem schmerzhaften Pfeil zu zerren, der in seinem Gesäß stak. Ein Rettungswagen, in dem der Außenminister bäuchlings liegend ins Polster fluchen mußte, brachte ihn sofort ins nahe Kreiskrankenhaus.

Köfel hatte inzwischen schon etliche Nieten gezogen. Die einen Bogenschützen traf er gar nicht erst an; andere parierten mit einem hieb- und stichfesten Alibi; dritte legten ihm selbstlos die Umrüstung der Polizei von Pistolen und Granatwerfern auf Bögen ans Herz. Man habe ja keinen geringen Vorteil dieser Waffe erst gestern gesehen – und nicht etwa gehört. Als Köfel am Landgericht eine sogenannte Trinkhalle streifte, genehmigte er sich ein Malzbier. Er trank es auf die Ausrottung aller kriegerischen Gelüste. Die Trinkhalle besaß ungefähr das Ausmaß einer Hundehütte.

Wenig später hielt Köfel auf ein älteres, stattliches Haus mit geschwungenen Jugendstilfenstern zu, um den Bogenschützen Frank Dübenheimer zur Rede zu stellen. Vier senkrecht angeordneten Klingeln zufolge wohnte Dübenheimer ganz unten. Womöglich war damit das Kellergeschoß aus Sandstein gemeint, das durch halbwegs große Fenster Aussicht auf ein paar Grashalme und Gänseblümchen und einen absolut stilgerechten Jägerzaun bot. Köfel hatte schon keine Lust mehr, Dübenheimers Klingel zu betätigen. Stattdessen betrat er die Einfahrt zu den rückwärtig gelegenen Garagen, um das Haus auf möglichst unverfängliche Weise zu umrunden.

Wieder am Vorgärtchen eingetroffen, nahm Köfel durch das linke Fenster einen vollbärtigen Mann im Kellergeschoß wahr, der ihm die Seite zukehrte. Er stand vor einem Tisch, auf dem wiederum ein ziemlich großes Terrarium stand. Köfel meinte Molche darin zu erkennen. Während im Rücken des vollbärtigen Mannes ein stummes Farbfernsehgerät flackerte, lag unmittelbar vor ihm ein Hackbrett auf dem Tisch. Seine Beschäftigung bestand darin, mit der Linken sich windende Regenwürmer aus einer Blechdose zu fischen, um ihnen mit der Rechten, in der ein altes Fahrtenmesser federte, die Köpfe abzuhacken. Ihre geringelten Leiber servierte er dann. Dazu schlug er das Hackbrett kurzerhand auf dem oberen Rahmen des Terrariums auf, sodaß die Kringel in der Tat wie Regen auf die Farne, Moose und bräunlichen Molche niedergingen. Die Kopfstücke wischte er vorher in eine andere Dose.

Köfel bückte sich zum Fenster, das gekippt war, und klopfte gegen die Scheibe. Der Bärtige sah kurz auf, nickte unbeteiligt und hackte weiter.

»Sind Sie sicher, daß die Regenwürmer das gerne haben?« erkundigte sich Köfel durch den Fensterspalt.

Der Bärtige zuckte die Achseln, ohne sich in seiner Fütterung zu unterbrechen. »Hauptsache, meine Bergmolche lieben sie. Man muß das machen, weil die Regenwürmer sonst sofort in die feuchte Erde schössen. Dann würden die Molche natürlich in die Röhre gucken. Wo brennt's denn, guter Mann ..?«

»Vermutlich im Gesäß unseres Außenministers. Ich komme von der Kripo und wollte sie um ein paar fachmännische Auskünfte bitten. Sie sind doch Herr Frank Dübenheimer?«

»Bin ich«, brummte der Molchfreund. Dann stieß er mit seinem Ellbogen Richtung Bildschirm: »Er war vor einer halben Stunde im Fernsehen. Das heißt, er liegt noch in unserem Krankenhaus und läßt sich von seiner jüngsten Mieze das Händchen und wer weiß was noch alles halten. Kommen Sie ruhig rein, aber durch die Tür. Ich mache Ihnen auf.«

Dübenheimers Bergmolche hatten cremefarbene Bäuche. In freier Wildbahn hätte sie so mancher Storch sicherlich gern aufgespießt, weil er sie für einen hübschen Nachtisch hielt. Ihr Halter war gelernter Schreiner, absolvierte aber inzwischen eine Umschulung zum Ergotherapeuten. Im Moment hatte er Schulferien. Während sein erster Sportbogen noch aus Schichten verleimten Eschenholzes gefertigt worden sei, werde heute nur noch Glasfiber oder Carbon verwendet. Die enormen Zugkräfte könnten einem Pfeil eine Anfangsgeschwindigkeit von über 200 Stundenkilometer verleihen. Eine Sportschützin hatte Köfel bereits versichert, in guter Verfassung pflege sie auf 30 Meter jede Walnuß, auf 90 Meter immerhin noch jede zweite Apfelsine zu treffen. Dübenheimer bestätigte es, fürchtete allerdings für sich selber, diese Leistung nicht wieder so schnell zu erreichen. Wegen der verdammten Schule habe er seit dem vergangenen Herbst keinen einzigen Pfeil mehr abgesetzt. Vor Köfel sitze sozusagen eine Karteileiche, grinste der geruhsame Regenwurmkiller. Ob Köfel ihm das abnehme, stehe natürlich auf einem anderen Blatt.

»Ja«, erwiderte Köfel. »Wie haben Sie denn beispielsweise den gestrigen Nachmittag verbracht?«

»Da haben Sie es schon«, zeigte Dübenheimer seine flache Hand. »Kann ich kaum beweisen! Ich habe hier gesessen und gebüffelt, und als mir die Augen brannten, bin ich vor Erschöpfung eingepennt. Als ich wieder aufwachte, kam die Geschichte mit dem Außenminister gerade in den Nachrichten.«

Köfel nickte. »Ich glaube, ich werde Sie nicht mehr lange belästigen, Herr Dübenheimer. Könnten Sie mir freundlicherweise zum Abschluß noch Ihren Sportbogen zeigen?«

»Selbstverständlich. Der Koffer liegt in meinem Keller. Wenn Sie einen Moment warten …«

»Nicht nötig«, erhob sich Köfel von Dübenheimers Couch. »Ich komme mit.«

Im Treppenhaus nickte ihnen eine etwas südländisch wirkende Dame zu, die von oben kam. Köfel sah ihr nach, bis die Haustür ins Schloß gefallen war.

»Stehen Sie auf Tango?« zwinkerte Dübenheimer. »Frau Lopez wohnt im Dachgeschoß. Ich glaube, sie hat sogar einen Doktor. Sie arbeitet im Heimatmuseum.«

Köfel nickte und folgte Dübenheimer durch eine Stahltür in den allgemeinen Teil des Kellergeschosses. Die einzelnen Verschläge waren ganz herkömmlich mit Dachlatten abgeteilt. Die Lattentüren hatten Riegel mit Vorhängeschlössern. Der schlanke Koffer, den Dübenheimer in seinem Abteil aus einem alten Kleiderschrank zog, hätte auch ein Fagott enthalten können. Die beiden Wurfarme, Mittelgriff und Visier, diverse Pfeile klemmten säuberlich in ihren mit Samt ausgeschlagenen Nischen. Ein Laie hätte schwerlich an eine todbringende Waffe im Wert zwischen 500 und 2.000 Euro gedacht. In der Tat galten die Bögen in Deutschland auch nicht als Waffen. Es bedurfte weder einer Erlaubnis noch mußten sie unter Verschluß gehalten werden. Allerdings drückte Dübenheimer das Vorhängeschloß an der Tür seines Abteils wieder zu.

Während Köfel Dübenheimer für die Mühe dankte, streifte sein Blick die Türschilder der benachbarten Abteile. Links war Bergengrün, rechts Lopez zu lesen.

Im Treppenhaus verabschiedete sich Köfel mit einem Händedruck von dem zukünftigen Ergotherapeuten. Er wünschte ihm dabei auch Erfolg fürs Diplom. Dübenheimer grinste und bedankte sich artig.


2

Es dauerte bald zwei Stunden, bis Köfel eine fällige Verknüpfung zwischen dem Molchfreund Dübenheimer und jenem Schürzenjäger gelang, der gegenwärtig das Amt des deutschen Außenministers bekleidete. Köfel hatte am Obermarkt zu Mittag gegessen und machte gerade einen kleinen Verdauungsspaziergang im Schloßpark. Am Hölderlindenkmal erblickte er etliche Menschen, die es zwecks eines Erinnerungsfotos umringten. Sie steckten in farbenprächtiger Odenwälder Tracht. Das Heimat-museum! Es lag ja in der Wachnitzschlucht. Und wenn sich Köfel nicht täuschte, ziemlich genau an der Stelle des gestrigen Anschlages.

Köfel beschleunigte seinen Schritt und nahm die abschüs-sigen Gassen zur Wachnitz hinunter. Das Heimatmuseum war in einer aus Sandstein gemauerten ehemaligen Papiermühle untergebracht worden. Tatsächlich blickte es in leichter Schräge über das Flüßchen von hinten auf den Ort des Attentats, der noch auf der Fahrbahn markiert war. Die Luftlinie maß bestenfalls 50 Meter. Über dem imposanten Walmdach aus Schiefer war ein steiles Weingärtchen zu sehen, das bis zum Wald anstieg. Leider toste der Verkehr heftiger als das Flüßchen. Nur gestern war er dem Außenminister zuliebe stadteinwärts umgeleitet worden.

Köfel hatte Glück; einer Tafel an der alten Zufahrtsbrücke zufolge hatte das Heimatmuseum geöffnet. In der großen Diele war eine Ecke mit Hilfe eines schönen Tresens aus dunklem Eichenholz zum Empfang gestaltet. Ein Mann um 50 mit Künstlermähne hatte Dienst. Köfel stellte sich und sein Anliegen vor. Der Mann ließ sich zunächst Köfels Ausweis zeigen, ehe er pietät- und huldvoll nickte.

»Mein Name ist Siegfried Meuler. Ich leite dieses Museum.«

»Ah ja«, erwiderte Köfel. »Wie groß ist denn Ihre Mannschaft hier?«

»Entschuldigen Sie einen Moment …«

Meuler bat Köfel mit einer Handbewegung um Platz, da ein Ehepaar eingetreten war und auf den Tresen zustrebte. Er grüßte, kassierte und bot für später alle erdenkliche Hilfe an. Das Ehepaar begab sich auf den üblichen Rundgang.

»Leider sind wir nur noch zu zweit«, kam Meuler auf Köfels Frage zurück. »Ich teile mir den Dienst mit einer Kollegin. Sie werden ja selber wissen, wie sehr in den öffentlichen Haushalten gespart werden muß. Allerdings haben wir kürzlich eine 1-Euro-Kraft beantragt. Ich nehme an, das wird bewilligt.«

Köfel kratzte sich hinterm Ohr. »Gewiß hat der Sparzwang seine Gründe. Sind die aber einleuchtend? Ich brauche nur zwei Waffenschmieden wie Daimler und Heckler & Koch die Steuererleichterungen zu nehmen, schon bekommt jedes Heimatmuseum zwischen Main und Donau eine zusätzliche 15-Euro-Kraft!«

Der modisch gekleidete Museumsleiter (Trachtenjanker von Löffelholz) verengte seine Augen, ließ sich allerdings nicht zu einer Entgegnung herab.

»Hatten Sie gestern nachmittag ebenfalls Dienst, Herr Meuler?«

»Hatte ich.«

»Konnten Sie Auffälliges beobachten, das uns auf die Spur des Schützen oder der Schützin bringen könnte?«

»Leider nicht. Das habe ich gestern schon den Polizisten gesagt, die gleich nach dem brutalen Anschlag die Häuser durchsuchten.«

»Sie waren von dem Angriff auf unseren Außenminister schockiert?«

»Na, Mensch!« gab Meuler ungehalten zurück. »Sie etwa nicht? In einer Demokratie wird doch Politik nicht nach dem Faustrecht gemacht! Dabei sollte jeder Deutsche froh sein, nach Willy Brandt mal endlich wieder einen versöhnlich gestimmten Außenminister zu bekommen.«

»Versöhnlich gestimmt ..?« kratzte sich Köfel erneut hinterm Ohr. »War er nicht in jungen Jahren im sogenannten Frankfurter Häuserkampf ein lederjackiger Steinewerfer gewesen?«

»Papperlapapp!« winkte Meuler verächtlich ab. »Jugendsünden.«

Köfel lächelte süßlich. »Von mir aus hätte er ruhig bei seinen Jugendsünden bleiben können. Stattdessen läßt er, in Amt und Würden gekommen, angeblich undemokra-tische, jedenfalls unschuldige Ländchen wie Jugoslawien aus 5.000 Meter Höhe mit Bomben beregnen.«

»Ach, so einer sind Sie!« platzte Meuler heraus. Dann schnitt er sich allerdings mit einer unwirschen Handbewegung das Wort ab und ergänzte höflich: »Also, Herr Köfel, ich habe viel zu tun – hätten Sie noch Fragen?«

»Nein, danke, Herr Meuler. Auf Wiedersehen.«


3

Die Frage, ob die Kollegin des Museumsleiters zufällig Frau Lopez heiße, hatte sich Köfel wohlweislich verkniffen. Auch auf eine Besichtigung der Räumlichkeiten verzichtete er einstweilen. Dafür erklomm er eine ausgetretene Sandsteintreppe neben dem Haus, die ihn in den Weinberg hinaufführte. Die grünenden Rebstöcke zeigten bereits erbsengroße Trauben. Köfel lehnte sich gegen einen Absatz des steilen Weinbergs, verschränkte Füße und Arme und ließ seinen Blick über das Schieferwalmdach des Heimatmuseums und die Altstadt bis zum Turm des Landgerichts gleiten. Er sah die Kellerverschläge in Dübenheimers Haus vor sich. Vorausgesetzt, man hatte einmal das Bogenschießen erlernt, mußte man ja nicht Schreiner oder Schreinerin sein, um drei oder vier Dachlatten aus der Trennwand neben Dübenheimers altem Kleiderschrank zu lösen und sowohl nach der Ausleihe wie nach der Rückgabe des »Fagottkoffers« wieder säuberlich einzufügen. Sie trainiert ein paar Tage auf irgendeiner Odenwaldlichtung – und dann tauscht sie notfalls unter irgendeinem Vorwand ihren Dienst mit der Künstler-mähne, um den Außenminister sozusagen hautnah erleben zu können, sagte sich Köfel. Er sah die federnd schreitende Frau Lopez vor sich, die ihn aus ihren dunklen Augen um ein Haar an Frank Dübenheimers Wohnungstür gespießt hätte. Er hätte schon Lust, sich etwas näher mit diesem studierten Geschöpf zu messen. Aber die Vorstellung, es später womöglich im Käfig besuchen zu müssen, war nicht so schön.
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