Freitag, 12. August 2022
Köfel 1 Der Fund im Sofa

In Wintersteins kleiner Junggesellenwohnung hatte sich nicht der geringste Anhaltspunkt für sein jähes Verschwinden gefunden. Deshalb fuhr Köfel noch einmal zum Südbahnhof hinaus, wo Wintersteins Werkstatt lag. Ohnehin war der Polsterer dort zum letzten Mal gesehen worden. Die Floristin aus dem Blumengeschäft gegenüber hatte ihm am vergangenen Donnerstag gegen 11 zugenickt, als er seinen Lieferwagen bestieg, um Richtung Stadtmitte davonzufahren. Nein, eilig habe der 47jährige nicht gewirkt.

Winterstein hatte eine ehemalige Metzgerei gemietet. Die Schlachterei mit der großen Flügeltür diente ihm als Werkstatt. Dagegen nutzte er den früheren Verkaufsraum zum Zuschneiden und als Büro. Einen Geldschrank gab es nicht, aber eine robuste Nähmaschine. Wintersteins Einkommen war bescheiden. Geschäftsunterlagen und Bankauskünfte hatten nichts Bedrohliches offenbart.

Eine ab Brusthöhe verglaste Schiebetür und zwei Treppenstufen führten in die tiefer gelegene Polsterei. Köfel schloß die Werkstattür auf und schlug ihre Flügel zurück, um die stickige Luft hinauszulassen. Es war ein heißer Sommertag. Die Luft auf der belebten Straße war vermutlich kaum besser, doch lag das Haus ein paar Meter zurückgesetzt, wodurch Winterstein auch einen Verladeplatz hatte – oder gehabt hatte. Sein beschrifteter Ford Transit war bislang ebenfalls nicht wieder aufgetaucht. Laut Wintersteins Ankündigung an der Ladentür trat er seine Betriebsferien erst in rund zwei Wochen an.

In der Werkstattmitte stand ein aufgebocktes Hirsch-Sofa, das offenbar eines neuen Bezuges harrte, denn der alte war seitlich und hinten bereits abgerissen. Üblicherweise auf Mahagoni gebeizt, bestand das geschweifte Gestell mit der hohen Rückenlehne in diesem Fall aus Nußbaum. Köfel schätzte das Sofa auf mehrere seiner Monatsgehälter. Während er es langsam umrundete, ließ er seine Augen angestrengt über die Wände und die wenigen Tische, Regale und Maschinen gleiten, die an ihnen standen. Es gab nichts Besonderes, sieht man davon ab, daß Köfel über den Schlauch eines Preßlufttackers stolperte. Er hängte den Tacker an eine Leiste mit Haken und steckte seinen Kopf in den ehemaligen Kühlraum. Dort hatte Winterstein seinen altertümlichen Kompressor untergebracht, der fast wie der Welt erster Erdgastank aussah. Leichengeruch oder Blutspuren fehlten.

Köfel ging zweimal, dreimal, fünfmal um das verdammte Hirsch-Sofa, ohne die geringste Entdeckung zu machen, die möglicherweise zu einer Erklärung von Wintersteins Verschwinden beitragen konnte. Schließlich stieß Köfels Fuß an einen Holzhammer, der unter dem Sofarücken zwischen allerlei Unrat auf den Fliesen lag. Aber Unrat war vielleicht zu schimpflich ausgedrückt. Fladen verstaubter Grauwatte, gewölbte vergilbte Pappdeckel, eingeschnurrte Möbelborte, krumme Ziernägel und noch ein paar Kleinigkeiten durchrührte Köfel mit seiner Schuhspitze. Beispielsweise Bruchstücke von alten Keksen, eine 50-Pfennig-Münze und sogar eine gut erhaltene Nagelschere. Daraufhin stutzte Köfel und nahm das zum Teil schon geöffnete Polstermöbel näher in Augenschein, während er bereits scharf nachdachte.

Aha. Er fängt also hinten an. Nachdem er den Bezugsstoff (die Spannteile) entfernt hat, nimmt er die Pappdeckel ab, worauf ihm allerlei Kleinigkeiten entgegenpurzeln, die sich im Laufe der Jahre im Sofa verstecken konnten, weil sie in den Spalt zwischen dessen Sitz- und Rückenpolster geraten waren. Ich würde sagen, biegt ein Dr. Helmut Kohl die Sitzfläche durch, verschluckt der Spalt sogar Tonband- oder CD-Kasetten. Für die Kanzleramtsakten muß er sich allerdings etwas anderes einfallen lassen. Möglicherweise hat es also ein hier nicht mehr vorhandenes Fundstück gegeben, das unseren Polsterer veranlaßte, zwischen Frühstücks- und Mittagspause mit seinem Lieferwagen Richtung Stadtzentrum zu verschwinden. Es war ausgefallen oder skandalträchtig genug, um ihn leider auch an der ordnungsgemäßen Rückkehr zu hindern.

Köfel sah sich erneut in der Werkstatt um. Auf einem Tisch in der Ecke standen vier gepolsterte Biedermeierstühle, die bereits neu bezogen waren. Man konnte nicht wissen, ob Winterstein zuletzt am Sofa oder an diesen Stühlen gearbeitet hatte. Köfel ging deshalb ins Büro zurück. Neben dem Schreibtisch hing ein großer Terminkalender an der Wand, in dem Winterstein offensichtlich mit verschiedenfarbigen Filzstiften Abhol- und Liefertermine und Bearbeitungsfristen eintrug. Sein geplanter Urlaub war ebenfalls vermerkt. Für den vergangenen Mittwoch war der Abholtermin eingetragen: »Hirsch-Sofa Nicki«.

In der Kundenkartei kam keine Familie oder Einzelperson namens Nicki vor. Allerdings gab es einen Nikolaus Schrunz, der am Obermarkt wohnte. Bei dieser Adresse konnte der Kunde kein armer Schlucker sein. Köfel verzichtete darauf, über sein Handy die für Schrunz angegebenen Telefonnummern anzuwählen. Stattdessen schlug er im Telefon- und Branchenbuch nach. Demnach handelte es sich bei Schrunz um einen Rechtsanwalt und Notar. Nicht auszuschließen, daß Köfel ihm schon einmal bei irgendeinem Prozeß im Landgericht begegnet war.

Die Floristin kannte den Kurze-Hosen-Träger Köfel bereits. Nachdem er Wintersteins Firmenräume wieder sorgfältig verschlossen hatte, überquerte Köfel die Straße, um sich der jungen Frau nunmehr durch besonderen Scharfsinn zu empfehlen. Er mußte zunächst warten, bis eine weißhaarige Dame ihr violettes Alpenveilchen bezahlt hatte. Dann nickte er zum Schaufenster:

»Ist unser guter Meister Winterstein früher Gewichtheber gewesen – oder wie pflegt er all diese Sofas außerhalb seines Lieferwagens zu bewegen?«

Die Floristin lächelte säuerlich. Dieser Kriminale schien sein Geld als stachelbeiniger Tourist zu verdienen. Sie erwiderte so gelangweilt wie möglich:

»Er hat einen Freund, der bei den schweren Sachen mit anfaßt. Wohl nicht verboten, was?«

»Ach woher! Aber möglicherweise könnte uns dieser Freund einen Fingerzeig zu Wintersteins Verbleib geben. Wissen Sie, wo der Mann wohnt?«

»Keine Ahnung. Winterstein ruft ihn Josef. Er erwähnte einmal, Josef sei gebürtiger Tscheche.«

»Hat Josef ein Auto?«

Die Floristin schnaubte verächtlich. »Dann wüßte ich wohl schon eher, wo er wohnt! Nein, er kommt manchmal mit dem Fahrrad. Oder Winterstein bringt ihn mit.«

»Na gut«, nickte Köfel und wandte sich zur Ladentür. »Vielleicht wird es auch so gehen. Ich danke Ihnen vorerst.«


2

Köfel saß vor einem Restaurant am Obermarkt und speiste. In der Nähe machte ein verhinderter Akrobat schmissige Straßenmusik, indem er auf einem Klapp-schemel sitzend mit je einer Hand Akkordeon und Trompete spielte und mit beiden Füßen ein umfangreiches Schlagzeug bediente. Von seinem verschmitzten Mondgesicht her konnte er durchaus Josef heißen. Der bucklig gepflasterte Platz war von alten Robinien beschirmt, die gerade blühten und mit ihrem süßlichen Duft jedem Rollmopshändler das Geschäft verdorben hätten. Schräg gegenüber lag ein vielbestauntes Fachwerkhaus mit vorkragenden Geschossen. Es beherbergte sowohl die Kanzlei wie die Wohnung des Nikolaus Schrunz. Im Erdgeschoß befand sich eine Kunstgalerie.

Nach einigen Erkundigungen hatte sich Köfel seine gefüllten Auberginen redlich verdient. Wintersteins Lieferwagen und der Polsterer selber waren am vergangenen Donnerstag am Obermarkt gesehen worden. Der Galerist erinnerte sich sogar, Winterstein höflich zugenickt zu haben, als dieser zum rückwärts gelegenen Treppenhaus ging. Der Polsterer war also sehr wahrscheinlich bei Schrunz gewesen. Ob er auch wieder fortgegangen war, blieb allerdings unklar. Immerhin war sein Lieferwagen weg.

Köfel hatte auch mit einem guten Freund telefoniert, der ein lokales Anzeigenblatt herausgab. Danach trat Schrunz gern bescheiden und unauffällig auf, lebte aber trotzdem auf großem Fuß. In charakterlicher Hinsicht hielt ihn der Freund für fähig, die eigene Großmutter als Turnschuhnäherin nach Thailand zu verkaufen. Er hatte auch rasch herausgefunden, daß Schrunz und Winterstein in derselben Klasse Abitur gemacht hatten. Von Winterstein wußte er allerdings so gut wie nichts. Es gebe ja Menschen, die gar keinen Wert auf eine akademische Laufbahn legten. Der Polsterer habe auch schon für die Staatlichen Schlösser und Museen gearbeitet. Vielleicht sei er Handwerker aus Leidenschaft.

Im Moment wurden Köfels Gedanken von einem Rettungswagen abgelenkt, der unterhalb des abschüssigen Marktplatzes mit Sirenengeheul über die Kaiserstraße raste. Auf einem Zebrastreifen der Kaiserstraße war neulich ein kleines Mädchen totgefahren worden. Für Köfels Empfinden erfüllte der moderne Autoverkehr ohnehin den Tatbestand einer Kriminellen Vereinigung. Dem betreffenden Fahrer und vor allem seinen Hintermännern hatte das aber noch nicht genügt. Seine EU-Fahrerlaubnis nach Art der Scheckkarten stellte sich als gefälscht heraus. Nachdem er zweimal durch die Prüfung gefallen war, hatte er sich die Fahrerlaubnis vermutlich für eine beträchtliche Summe schwarz gekauft. Bei wem, hatte er bislang nicht preisgegeben – sein Altbundeskanzler Kohl war schließlich auch ein vorbildlicher Schweiger, der gute Freunde, die ihm Schmiergeld brachten oder Akten abholten, nicht ins Messer laufen ließ. Da die Fälschung der eingezogenen Fahrerlaubnis nahezu makellos war, gingen Köfels Vorgesetzte von einem emsig handeltreibenden Ring mit erstklassigen Beziehungen zum Landratsamt aus. Die Ermittlungen hatten noch keinen Fingerzeig erbracht.

Plötzlich kam Köfel auf eine Idee, die seine Vorgesetzten vermutlich »mehr als kühn« genannt hätten. Während er seinen Espresso trank, erwog er sie und entschloß sich zu handeln. Nach dem Zahlen nahm er sich jedoch die Zeit für einen kleinen Abstecher zu dem Straßenmusiker, weil er dessen aufgeklappten Akkordeonkoffer wohl kaum auf über 15 Meter mit einer Zwei-Euro-Münze getroffen hätte.


3

Schrunz war da. Nachdem Köfel einen Vorwand bemüht hatte, führte ihn eine Angestellte in das prächtige Arbeits-zimmer ihres Chefs. Dieser bot dem Kriminalbeamten, der offenbar auf Durchreise zum nächsten Baggersee war, über eine mit Nußbaum und Vogelahorn furnierte Schreibtisch-platte hinweg die Hand. Köfel nahm sie, lehnte dankend einen mit schwarzem Leder bezogenen Clubsessel ab und wartete, bis der Anwalt und Notar wieder bequem im Stuhl lehnte. Dann winkte er mit dem Daumen zu einem wuchtigen Balken der Zimmerdecke:

»Ich vermute, das hübsche Hirsch-Sofa, das Ihr Schulfreund Winterstein gegenwärtig restauriert, steht normalerweise in Ihrer Wohnung. Das ist der richtige Platz für besonders vertrauliche Unterredungen mit etwas zwielichtigen Geschäftsfreunden, nicht wahr?«

Köfel zog seine EU-Fahrerlaubnis aus der Brusttasche seines Hemdes, um sie Schrunz wie einen kostbaren Handspiegel zu präsentieren. »Dreimal dürfen Sie raten, mit welchem Fundstück Winterstein am vergangenen Donnerstag hier erschien, um Ihnen entweder eine Moralpredigt zu halten oder aber einen erpresserischen Vorschlag zu unterbreiten?«

Schrunz schwieg. Er hatte ein ovales Gesicht, das von einer schwarzen Schmachtlocke gekrönt wurde. Wegen seiner verkniffenen Augen wirkte es allerdings nicht mehr ganz so spitz.

Köfel winkte ab. »Ich will es Ihnen sagen: Eine hervor-ragende Fälschung, blanko selbstverständlich, ausstellbar auf jeden, der gesonnen ist, viel Geld auf den Tisch zu legen.«

Schrunz war eine Spur blasser geworden. Und jetzt verriet er sich, weil der Rechtsanwalt in ihm durchkam.

»Woher wollen Sie das wissen?« gab er leise-lauernd zurück.
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