Donnerstag, 11. August 2022
Das Ende der Licksfits
ziegen, 13:49h
Bandenbildung ist eine feine Sache, wenn sie auch meistens schlecht ausgeht. Für Thoreau wäre das nichts gewesen. Aber der Eigenbrötler und begabte Prosaschreiber wanderte sowieso schon 1862 in den Sarg, erst 44 Jahre jung. Damals war ich Mitte 20. Meine Lebensentwürfe änderten sich ungefähr jede Woche. Gleichwohl hatte mich Thoreau ans Herz geschlossen und sogar die »Balladen« gelobt, die ich schon damals verzapfte. Ich spielte verschiedene Gitarren und vor allem das 5-String-Banjo recht gut, während mein väterlicher Freund die Musikalität eines Telegrafenmasten besaß. Was mich zusätzlich aufgewertet hatte, war rund ein Jahr vor Thoreaus Tod die Einladung seines Mentors Emerson, einmal dessen kurzzeitigem Gast Michail Bakunin die Hand zu schütteln. Eben aus Sibirien, Rußland, geflüchtet, stand der bekannte Anarchist damals im Begriff, sich von Boston aus nach Europa einzuschiffen. Emerson beherbergte ihn in seinem Haus Old Manse in Concord, Massachusetts, für zwei oder drei Tage. Ich nahm dann gleich an einer ausgedehnten, natürlich kontrovers verlaufenden Gesprächsrunde teil, von der in der New York Tribune sogar ein kurzer Bericht erschien. Er stammte aus meiner Feder. An Bakunin hatten mich vor allem Rauschebart und Selbstbewußtsein beeindruckt. Allmählich zog ich dem Liedermachen den Journalismus vor und faßte in allerlei anarchistischen Blättern Fuß. Den Absprung in die Bandenbildung fand ich aber erst 1878, als auch ich schon die 40 überschritten hatte. Er verdankte sich im Grunde genauso dem Zufall wie die Begegnung mit Shaye. An Vorsehung glaubte ich nie.
Im besagten Jahr überraschte mich die Nachricht, ein gewisser Robin McIntosh, der sich als mein Patenonkel herausstellte, habe mir seine bei Jackson in Alabama gelegene Sägemühle vermacht. Ehrlich gesagt, hielt sich meine Begeisterung zunächst in Grenzen. Schließlich zählte Alabama zu den in Sklaven und Schießeisen vernarrten Südstaaten, soviel wußte ich immerhin. Bei Mobile grenzte es mit einem Zipfel an den Golf von Mexiko. Das Städtchen Jackson lag auch da unten, im Clarke County. Doch dann sagte ich mir, in diesen Breiten ist es köstlich warm, selbst die Winter sind mild, und wenn alle Stricke reißen, kannst du diese verdammte Sägemühle verhökern und dich mit dem Batzen Geld wieder an Bord eines Küstenschiffes begeben. Bis dahin kam es dann aber nicht, weil mir auf einem Steg über den Beaver Creek (der die Mühle antreibt) eine schwarze Hexe in den Weg trat. Das war Shaye.
Nicht, daß sie dunkelhäutig gewesen wäre. Die Tochter des Trappers Jack Licks hatte lediglich etwas Choctaw-Blut in den Adern – aber das hatte völlig ausgereicht, um die eher kleine, stämmige, schwarzgelockte Person nicht nur mit hitzigem Köpfchen auszustatten. Ich war sofort hingerissen. Allein ihre grauen, kaum merklich geschlitzten Augen sprühten mehr vor Lebenslust als die Felsen im Creek von der Gischt. Ihre keineswegs matronenhaft üppigen Brüste ließen an stehende Pinienzapfen denken. Es liegt mir freilich fern, die knapp 30jährige zu verklären. Ned Buntline, dieser alte, herzkranke Säufer, Prediger und Schreiberling, hätte sie jede Wette als gertenschlanke, verrufene Squaw gegeben, der in jedem Stiefel je ein blutverschmiertes Messer locker sitzt. Buntline glänzte bekanntlich um 1870 mit einer Woge aus verlogenen Groschenromanen über den angeblichen »Wilden Westen«, die nicht nur die Ostküste heimsuchte. In Wahrheit paarte sich Shayes Freiheitsdurst mit großem Verantwortungsgefühl. Ihren Scharfsinn hinzugenommen, verwundert es also nicht, wenn sich das doppelbödige Konzept der Licksfits vor allem ihr verdankte. Ohne ihre Anregungen hätte ich es bestenfalls zustandegebracht, auf dem Gelände meiner Sägemühle so etwas wie die Brook Farm aufzuziehen. Vermutlich wäre auch diese »Kommune« nach wenigen Jahren den Bach heruntergegangen. So aber erwischte es nur meinen Bart. Shaye bestand sofort darauf, er müsse fallen; sie ginge nicht mit Kerlen ins Bett, um in einem Dickicht zu erwachen.
Im übrigen erwies sie sich als ausgesprochen musikalisch. Shayes Trompete ließe sich sogar als Hebel zu unserem Konzept bezeichnen. Sie beherrschte sie erstaunlich virtuos und träumte von einer Kapelle, die jedes lahme alabamische Rind zum Tanzen, ja vielleicht sogar ganz New Orleans zum Wackeln bringen würde, denn von dieser vergleichsweise nahen Küstenmetropole träumte sie ebenfalls. Doch als Tochter eines Trappers schoß sie auch verdammt gut, und so überschlugen sich unsere Pläne sozusagen von einer Umarmung zur nächsten. Die »Kommune«-Idee sagte ihr durchaus zu, nur stellte sie sich eine solche Unternehmung irgendwie »beweglicher« vor. Selbstverständlich verspürten wir beide nicht die geringste Lust, Tag für Tag an einer lärmenden Gattersäge oder auch nur auf Gemüseäckern zu schwitzen. So verkauften wir die Sägemühle, wie schon angedeutet, behielten aber die sich anschließende Farm, da wir diese zunächst als Aufmarschgebiet, später als Winterquartier der ins Auge gefaßten Truppe zu nutzen gedachten. Hier gaben sich bereits in den ersten Wochen Dutzende von Gästen die Türklinke beziehungsweise die Querstangen unserer Pferdekoppel in die Hand. Wie sich versteht, kamen wir nicht umhin, streng zu sieben. Andrerseits stellten sich mit den Leuten Begabungen und Anregungen ein, auf die wir von allein gar nicht gekommen wären. Schließlich hatten wir rund 30 MitstreiterInnen beisammen, die kühn und emsig an die Bildung der fahrenden Artisten- und Lebensgemeinschaft Licksfits schritten. Wir schafften uns etliche Planwagen, Zug- und Reitpferde und auch einige nagelneue Schußwaffen an. Wir bauten Zirkuskulissen und übten die ersten Nummern ein.
Das wichtigste und schwierigste Training betraf freilich das Zusammenleben – ein Training, das sich selbstver-ständlich auf unseren Reisen bis zuletzt fortsetzte. Wie sich zeigte, war es beträchtlich einfacher, mit gekonnten Parodien auf Saloon-Schlägereien, Goldgräbergebaren und Showdowns zu glänzen, als ein unheldisches und aufrichtiges Miteinander in der eigenen Gruppe durchzusetzen. In dieser Hinsicht war unsere größte Stütze Margaret Fullers Tochter Conny, eine verschmitzte Frau Ende 40, die uns von George Ripley vermittelt worden war. Sie spürte den verheerenden Drang zum Rechthaben und zum Einschüchtern in den banalsten Gesprächen und Verrichtungen des Alltags auf, ohne die Betroffenen je zu beschämen. In unserer Zirkusband saß sie am Schlagzeug, man glaubt es kaum.
Shaye verstand es, die Leute nicht zuletzt durch ihre Musikalität zu begeistern. Sie hatte für jede heikle Situation die richtigen Takte oder Stücke bereit, und wenn sie sie nur pfiff. Sie brachte es auch fertig, einen Lulatsch wie Slim, der anfänglich zu allem seinen Senf geben mußte und dann kein Ende im Labern fand, mitten in der Gesprächsrunde als Zielstange für ihr Lasso zu benutzen, was sehr wirkungsvoll war, weil er buchstäblich mit Händen und Füßen zu reden pflegte. Alles lachte, Slim eingeschlossen. Jeder begriff Shaye im Grunde als Chefin, obwohl wir selbstverständlich alle gleichberechtigt waren und jede wichtige Entscheidung im Konsens fällten. Allerdings sah sich ein »harter Kern« um Shaye und mich dazu gezwungen, die geplante illegale Seite unseres öffentlichen Wirkens in der ersten Zeit wohl oder übel stillschweigend von der Konsens-Regel auszunehmen. Wir wollten erst einmal etwas Erfahrung sammeln. Die Licksfits hatten sich über einen langen Sommer hinweg bereits einen gewissen Namen in unserem Heimat-County gemacht. Selbst ein reaktionäres Blatt wie die Tombigbee News zeigte sich uns gewogen, weil wir unsere Attacken gegen Rassismus, Ausbeutung und so weiter »auf höchstem künstlerischem Niveau« vorbrachten und an den Lagerfeuern in unserer Planwagenburg nachweislich keine entführten Säuglinge brieten. Unsere eigenen nebenbei auch nicht. Aber im kommenden März, als wir mit unserem Troß gen Osten zum Conecuh River aufbrachen, um zunächst die Gegend zwischen Andalusia und Troy mit unseren Darbietungen zu erfreuen, wollte es der »harte Kern« wissen. Er setzte sich eines Nachts vorübergehend zu Pferd von der Truppe ab, um die Bankfiliale der Wells Fargo in Elba, Coffee County, aufzusuchen. Wir raubten sie kurz nach Öffnung aus.
Shaye und mir war bereits vor der ersten Suche nach Mitstreitern für unser Projekt »klar wie Kloßbrühe« gewesen, es würde auf Dauer unmöglich sein, eine Gruppe von über 40 Köpfen (die Kinder eingeschlossen) allein durch Zirkusvorstellungen, Tanzveranstaltungen, Jagd, Nüsse sammeln und freundliche Sachspenden seitens der Bevölkerung zu ernähren. Wir mußten also Geldquellen erschließen, die uns möglichst wenig Arbeit aufbürden würden. Da kam Engelbert, von dem wir jenen Spruch mit der Kloßbrühe übernahmen, sozusagen goldrichtig. Er stammte von deutschen Einwanderern ab und hatte im Raum Texas/Kalifornien einige Jahre für die Wells Fargo als Postreiter und Kutscher gearbeitet. Man hielt ihn schon aufgrund seiner Abkunft für solide, und dann hatte er sein eckiges Gesicht auch noch mit einem rötlichen Bart eingerahmt, der jeden Gedanken an schwarze Gesichtstücher in weite Ferne rückte. So hatte man ihn auch bald als »Geldbriefträger« verwendet, wie er dazu zu sagen pflegte. Als er bei uns eintraf, hatte er eine längere Flucht hinter sich – und keinen halben Dollar mehr in der Tasche. Engelbert war also der erste »Kommunarde«, den wir in unsere illegalen Absichten einweihten, und dann verdankten wir auch unseren ersten Coup in Elba eben ihm. Wir ritten zu sechst. Es war ein ziemlich harmloser Überfall am hellichten Tage, der dem Trottel in der Bank nur ein paar Kratzer, uns dagegen rund 3.200 Dollar einbrachte. Dabei hatten wir für den Raub selber lediglich zwei Leute eingesetzt. Die anderen waren mit ihren ausgeruhten Gäulen an günstigen Punkten, die ein spurloses Wegtauchen gestatteten, postiert worden – nach Art einer Staffel also, über mehr als 30 Meilen hinweg. Die Verfolger hatten keine Chance.
Unser »harter Kern« war sich somit darüber im klaren, daß das künstlerische Unternehmen Licksfits zu einem guten Teil als Tarngeschäft begriffen werden mußte und auch erst dadurch auf das Niveau eigentlicher Lebenskunst zu heben war. Aber das konnte auf Dauer nicht insgeheim, ohne ausdrückliche Billigung der ganzen Gruppe vonstatten gehen. In manchen Planwagen wurde ohnehin schon gemunkelt, weil es wieder einmal Schwierigkeiten in der Terminplanung (Zirkus/Raubzug) gegeben hatte oder weil das jüngste krumme Ding, über das sich die Blätter empörten, zufällig wieder einmal in der Nähe unserer Wagenburg gedreht worden war. Zu allem Unglück luden wir »Illegalen« uns im August jenes zweiten Sommers einen Deputy Sheriff aufs Gewissen, unsere erste, aber bis heute auch einzige »feindliche« Leiche, denn unseren lieben Genossen und Verräter Todd verschonten wir großherzig. Der Tote fiel bei Greenville an. Dort hatten wir den Weg einer Postkutsche gekreuzt, die neben den Fahrgästen und Schutzleuten eine hübsche, kleine Kiste mit Goldbarren beförderte. Wir konnten das Kistchen fast mühelos übernehmen, aber dann setzten uns ein paar eigentlich unbeteiligte Leute eines zufällig vorbeikommenden Gefangenentransportes nach, voran jener Tropf von Deputy, der wahrscheinlich von seiner Beförderung träumte – zum Sheriff, nicht ins Jenseits. Shaye schoß ihn im Reiten mit ihrer nagelneuen Büchse, einer Winchester 76, vom Pferd.
Wir lagerten damals unmittelbar am Ufer des Conecuh Rivers. Für den Tag nach dem Coup bei Greenville war keine Vorstellung angesetzt. Heil zurückgekehrt, baten wir die Gruppe um eine außerordentliche Vollversammlung, da eine Gefahr im Anzug sei. Shaye gewann zwei Mädchen aus dem nächsten Dorf, die sich in der Wagenburg schon fast heimisch fühlten, fürs Kinderhüten. Wir rund 30 Erwachsenen begaben uns nach Mittag auf eine nahe, von drei dicken Eichen beschirmte Anhöhe. So hatten wir Schatten und zugleich freie Sicht auf ungebetene MithörerInnen. Wir saßen wie immer im Kreis. In der Mitte lag »zufällig« ein schwarzes Tuch. Engelbert, inzwischen von seinem roten Bart befreit, erhob sich, sah mit ernster Miene in die Runde und verkündete, spätestens übermorgen könnten die lieben Genossinnen und Genossen in der Andalusia Post oder im Montgomery Observer lesen, bei Greenville sei eine Postkutsche überfallen worden. »Ratet mal, was sie, neben den Fahrgästen und den Liebesbriefen, an Bord hatte ..?« Erwartungsgemäß bekam er keine Antwort, es sei denn, man erblickte eine solche in dem Umstand, daß sich sein unheilschwangerer Gesichtsausdruck nun auch in der Runde ausbreitete. Engelbert zog einen kleinen, schmalen Goldbarren aus der Messertasche seiner kurzen Lederhose, warf ihn auf das erwähnte Tuch, grinste und nahm wieder Platz.
In jeder Gruppe von Goldschürfern, Viehhirten oder Gesellschaftern eines Eisenbahnunternehmens hätte es für Minuten, wenn nicht Stunden heillosen Aufruhr gegeben. Die Licksfits dagegen waren inzwischen gut geschult, und das bewährte sich auch in dieser heiklen Situation. Es dauerte keine drei Stunden, bis unser »illegales« Programm die Zustimmung eines Großteils der Truppe besaß, obwohl zu diesem Zwecke wesentliche Fragen moralisch-politischer und selbstverständlich auch taktischer Natur zu erörtern waren. Erstaunlicherweise erwies sich der erschossene Deputy noch nicht einmal als die härteste Nuß. Jeder sei schließlich selbst dafür verantwortlich, auf welche Seite er sich stelle, wurde argumentiert, und dann habe er auch die möglichen Folgen zu tragen. Niemand habe den Deputy dazu gezwungen, sich seine Brötchen ausgerechnet im unmittelbaren Handlangerdienst für den menschen-feindlichen Kapitalismus zu verdienen. Nicht anders hätten wir später argumentiert, wenn 12 Soldaten der Unions-Armee so dumm gewesen wären, unsere mit Dynamit gewürzten Drohungen nicht ernst zu nehmen. Wie sich versteht, bildete sich niemand von uns ein, der Kapitalismus und sein Staat ließen sich durch möglichst durchgreifende Schießereien aus den Köpfen der Leute putzen. Dazu versuchten wir, wenn überhaupt, eher durch unsere satirischen Husarenstückchen im Zirkus und das Vorbild unserer Lebensweise beizutragen. Unsere spärlichen »Gewaltakte« stellten lediglich Notwehrmaß-nahmen von armen, freiheitsdurstigen Schluckern dar, die wir ja ohne Zweifel waren. Nach dieser Versammlung unter den Eichen waren wir allerdings drei weniger. Drei Genossen verließen uns anderntags, weil sie den neuen »illegalen« Kurs nicht mittragen wollten. Das nahmen wir ohne Groll hin. Nach einigen Jahren, die inzwischen ins Land gingen, darf auch als gesichert gelten, daß sie dicht hielten, uns also nicht verrieten. Das war Todd vorbehalten.
Todd hatte damals ebenfalls unter den Eichen gesessen. Er hatte unsere Geldbeschaffungsaktionen gut geheißen und beteiligte sich in der Folge auch selber daran. Er war um 30, blond, eher schmächtig, aber wendig wie ein Wiesel, was uns sowohl bei solchen Aktionen wie bei manchen akrobatischen Zirkusnummern zugute kam. Reiten konnte er wie der Teufel. Zu behaupten, ich hätte schon immer Unheil in ihm gewittert, wäre glatt gelogen. Er stand mir einfach nicht besonders nahe, das war alles. Selbst Conny Fuller zeigte sich später überrascht davon, daß er uns nach dem Eisenbahn-Coup, bei dem er als einziger Aktivist geschnappt wurde, ans Messer zu liefern versuchte. Das gelang ihm zwar nicht, aber damit war das Projekt Licksfits gestorben. Conny meinte allerdings, etwas unangenehm sei ihr zuweilen Todds Mangel an Humor aufgestoßen. Humorlosigkeit passe ja eigentlich nicht zu guten, offenen, freiheitsliebenden Menschen, zumal wenn sie eher Kabarett als Zirkus machten. Ich nehme an, sie hat recht. Wahrscheinlich läßt sich noch nicht einmal sagen, Todd habe schon immer dazu geneigt sich zu verstellen. Nein, das tat er keineswegs. Mit seiner Behendigkeit täuschte er sich höchstens selbst. Denn im Grunde seines Herzens war er ein ängstlicher, verklemmter Mensch – ein Duckmäuser, hätte Thoreau gesagt. Irgendwann fühlt sich so ein Duckmäuser von den ihn umgebenden freiheitlich gestimmten Menschen zu sehr bedrängt, vielleicht sogar beschämt, und dann wird er unter Umständen, wenn nicht gewalttätig, zum Verräter.
Wie wir vor einigen Monaten durch einen sturzbe-trunkenen Offizier erfahren hatten, gedachte die Unions-Armee die neue Eisenbahnstrecke von Montgomery nach Mobile zur Beförderung des Soldes der traditionell in Mobile kasernierten »Streitkräfte« zu nutzen. Für EuropäerInnen: Montgomery ist die Hauptstadt Alabamas. Günstigerweise kannte eine Licksfits-Genossin einen Soldaten aus der dortigen Schreibstube, der mit dem Transport zu tun hatte. So wußten wir, in welchem Waggon des betreffenden Güterzuges der Zaster zu finden sein würde. Allerdings hieß es, neben den Dollars befänden sich, für alle Fälle, ein Dutzend Wachsoldaten in diesem Waggon. Wir beschlossen, sie lediglich einzuschüchtern statt zu töten. Shaye hatte in unseren Anfängen unter anderem einen baumlangen Creek-Indianer »eingebracht«, den alle Welt nur Mico rief. Mico war ein toller Gefährte, wie sich längst erwiesen hatte, zudem ein hervorragender Bogenschütze. Nun hatte er die Idee, mit dem neuartigen Sprengstoff zu arbeiten, den sie drüben in Schweden erfunden hatten, Dynamit. In geraffter Form erzählt, lief die Sache in der Tatnacht folgendermaßen ab.
In Montgomery brachte einer von uns kurz vor Abfahrt des Zuges unter dem Waggon, der vor dem Geldwagen fahren würde, ein Bündel Dynamitstangen an. Wir anderen des Kommandos, außer Mico, lauerten bei Evergreen am Beginn einer Steigung, die den Zug zu der vergleichsweise harmlosen Geschwindigkeit von rund 10 Meilen zwang. Mico dagegen hockte weiter oben kurz vor dem Ende der Steigung in einem Maisfeld. Als die Scheinwerfer der Lok bereits an seinem Versteck vorübergeglitten waren, sahen wir ein kurzes Aufflackern, dann krachte es gewaltig. Dieser Eingriff, bei dem Mico das Dynamitbündel im Gehen oder Laufen mit Hilfe eines lodernden Pfeiles gezündet hatte, führte logischerweise dazu, daß der betreffende Güterwaggon in die Luft flog. Er selber hatte sich rechtzeitig auf den Boden geworfen. Zum Glück rissen auch die Kupplungen zu den benachbarten Waggons, sonst hätte es den halben Zug vom Gleis gehoben. So aber rollten alle noch folgenden Wagen wieder die Steigung hinab, während der Kopfteil des Zuges über der Anhöhe verschwand. Wir hockten ziemlich genau dort im Erlengestrüpp eines Tümpels, wo der nunmehrige erste Waggon des abgesprengten Zuges zum Stillstand kam, also der Waggon mit der Geldtruhe und den 12 Soldaten. Todd als der Wendigste von uns enterte ihn blitzschnell, pochte mit seinem Coltgriff aufs Dach und rief:
»Hört mal zu, ihr Vollidioten! Das nächste Bündel Dynamit ist genau unter euren Plattfüßen am Wagenboden angebracht. Es wird gezündet, sobald ich wieder verschwunden bin. Wollt ihr es darauf ankommen lassen oder zieht ihr es vor, eure Waffen aus dem Fenster zu werfen und diesen stinkenden Minkbau anschließend mit erhobenen Händen zu verlassen? Wir garantieren euch euer Leben. Ihr werdet lediglich gebunden. Wir wollen nur das Geld. Sobald wir es haben, ziehen wir Leine.«
Auf die Gefahr hin, als Pfennigfuchser oder Prahlhans zu gelten: diese Worte stammten von mir. Todd hatte sie auswendig gelernt, schließlich waren wir eine Theatertruppe. Er selber wäre kaum auf solche blumigen Worte gekommen, sie widersprachen seiner Natur, die ich ja bereits angedeutet habe. Man kann diese Ansprache aber auch nicht für seine Verhaftung und seinen daraufhin erfolgten Verrat an uns verantwortlich machen. Sondern er blieb entgegen unserer Absprache auf dem Waggondach, während wir die Unternehmung abschlossen. Immerhin sah er dadurch weiter als wir. Vielleicht bildete er sich aber auch nur ein, er könne uns von dort oben im Notfall besseren Feuerschutz geben. Jedenfalls waren wir genug, acht Leute ohne ihn, konnten ihn also getrost entbehren. Mico war inzwischen wieder bei uns eingetroffen. Damit zurück zu den 12 Soldaten: sie zogen tatsächlich einem möglichen In-die-Luft-gesprengt-werden die mögliche Erschießung als Gefangene vor, schmissen ihre Waffen aus dem Fenster und ließen sich von uns der Reihe nach in Empfang nehmen und an Händen und Füßen binden. Wir schoben und wälzten sie kurzerhand unter den Waggon ins Gleisbett, weil sie uns sonst nur im Wege gewesen wären.
Shaye und Engelbert schlüpften unterdessen in den Waggon und warfen uns wenig später die Truhe der Army vor die Füße, die dabei erfreulicherweise aufsprang, weil sie genau mit dem Schloß auf einem scharfkantigen Feldstein gelandet war. Während wir die Dollarbündel in Windeseile auf die Satteltaschen unserer Pferde verteilten, fluchte Todd plötzlich »Verdammt!« und fuchtelte in Richtung der Anhöhe, hinter welcher der vordere Teil des Zuges verschwunden war. Wie es aussah, hatte man etwas gemerkt und den Zug alsbald gestoppt, denn nun stürmte eine Horde von Leuten über den Schotter oder den anliegenden Erdnußacker auf uns zu. Sie steckten teils in Bahnuniform, sonst waren es Zivilisten, aber da das Mondlicht gut war, sah man auch die Waffen, die sie schwangen. Es schien sich überwiegend um Colts und Flinten zu handeln, nur ein breiter Kerl fuchtelte mit einer Eisenstange herum, wahrscheinlich der Heizer. Wir saßen im Nu auf unseren Pferden. Shaye war dabei geistesgegenwärtig genug, sich auch noch die Zügel von Todds Gaul zu greifen und derart die Seitenwand des beraubten Waggons zu streifen. »Nun los schon, du Hornochse«, rief sie zum Dach hinauf, »spring!«
Todd begriff und drückte sich ab. Bei seiner Behendigkeit wäre er vermutlich tadellos in seinem Sattel gelandet, wenn sich nicht einer der unter dem Waggon verstauten gefesselten Soldaten schon vor einigen Minuten dazu entschlossen hätte, sich in Rückenlage, die gut besohlten und beschlagenen Stiefel voran, ungefähr einen Meter über die vordere Schiene zu schieben. Jetzt trat er Todds Gaul genau im richtigen Augenblick in die Haxen. Der Gaul brach aus, womit auch Shayes Gaul einen Satz nach vorn machte. Todd krachte in die Disteln, die hier den Schotter des Gleises säumten. Zwar wendete Shaye ihr Pferd noch einmal auf der Hinterhand, doch da uns bereits die ersten Kugeln um die Ohren pfiffen, rief sie: »Abhauen!« und preschte auch schon selber davon. Wir bescheinigten ihr etwas später, als wir uns in einem Hickhoryhain unweit eines erquickenden Rinnsals die erste Pause gönnten, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Hätten wir versucht, Todd herauszuhauen, wären wir nicht umhin gekommen zu schießen, und damit hätte es sehr wahrscheinlich ein Blutbad mit Toten auf beiden Seiten gegeben. So aber bestand eine gewisse Chance, Todd aus dem Knast zu befreien, falls er nicht bereits am nächsten Signalmasten hing. Den Inhalt unserer Satteltaschen nahmen wir erst in der Werkstatt eines mit uns befreundeten Hufschmieds in Augenschein. Sam hatte seine Esse schon vor dem Morgengrauen entfacht. Es waren über 16.000 Dollar. Wir gaben Sam 400 davon ab, hatte er doch einen Schlag von Plagen, die er kaum ernähren konnte.
Zwei Tage später erfuhren wir durch einen Gewährsmann, der in Grove Hill beim County-Sheriff beschäftig war, gottseidank noch rechtzeitig, Todd habe an diesem Morgen ausgepackt, weil man ihm Straffreiheit zugesichert hatte. Gegen eine Kaution, die merkwürdigerweise der Tabakpflanzer Norris gestellt habe, und mit der Auflage, sich täglich beim Town-Marshal von Jackson zu melden, sei er daraufhin sogar auf freien Fuß gesetzt worden. Nach dieser niederschmetternden Eröffnung beschlossen wir innerhalb von wenigen Minuten, unsere Planwagen im Stich zu lassen und uns zunächst einmal aufzuteilen. Allerdings wollte Conny bei Sam vorbeireiten, um ihn zu bitten, sich um die Planwagen zu kümmern. Wie sich versteht, teilten wir auch die Goldbarren und die Dollars auf, die wir besaßen. Wir trafen ein paar Vereinbarungen, um uns benachrichtigen und möglicherweise wieder vereinen zu können, umhalsten uns und sprengten, einzeln oder in kleinen Gruppen, Kinder eingeschlossen, auf unseren Reit- und Zugpferden in alle Himmelsrichtungen davon.
Aus der Wiedervereinigung wurde übrigens nichts. Dafür hielt Todd bald nach seiner Entlassung erfolgreich um die Hand von Emily Norris an, einer Tochter seines Gönners. Offenbar hatte sie sich im zurückliegenden Winterquartier bei einer Tanzveranstaltung in unser blondes Wiesel verliebt. Inzwischen ist Todd auf der Tabakranch der Boß. Wie man hört, zeugte er seinerseits schon wieder blonde Wiesel, die er von mehreren kalbsgroßen schwarzen Doggen bewachen läßt. Sonst hätten wir sie am Ende noch entführt! Einmal erzählte ich Shaye von dem Wandtuch, das bei Emerson in der Küche gehangen hatte. Darauf waren die Worte Üb immer Treu und Redlichkeit gestickt. Bakunin hatte damals geseufzt, ein schöner Ausspruch, wenn er auch leider von seinem Widersacher Karl Marx stamme. Daraufhin meinte Emerson allerdings kopfkratzend, seines Wissens stamme er aus einem alten deutschen Volkslied. Da sie beide keine Belege an der Hand hatten, blieb die Sache unentschieden.
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