Dienstag, 2. August 2022
Von Gittermasten und Maiskolben
ziegen, 16:01h
Mein Traumleben scheint, seit Jahrzehnten, recht rege zu sein. Erfreuliches und Bedrückendes hält sich ungefähr die Waage. Liebeswonnen sind nicht selten. Personen aus meiner Vergangenheit treten öfter auf, darunter leider mein letzter Chef, mit dem ich zunehmend Spannungen hatte. Auf solches Wiederaufleben könnte ich natürlich mit Handkuß verzichten – doch was will man machen? Wahrscheinlich wird man sein Gedächtnis, normalweise, frühstens beim Tod los.
Jugendliche Versuche, eigene Träume aufzuzeichnen, gab ich bald auf. Sie vertrugen sich nicht mit meiner rationalen und skeptischen Gesinnung. Erzählten mir Leute, etwa in der Kommune, herzergreifend von diesem oder jenem Traum, fragte ich mich jedesmal, woher sie bloß die Sicherheit nähmen, dies gerade so und nicht anders oder gar soeben geträumt zu haben. Für mich hing das alles völlig in der Luft – sie dagegen meinten mitunter, sie hätten jetzt einen starken Wink empfangen und folglich das Steuerruder ihres Lebens herumzureißen.
Kürzlich, im Mai, beging ich jedoch die Sünde, meinen (angeblich frischen) Traum vom Gittermasten aufzuzeichnen. Auf den so betitelten Zettel bin ich gerade gestoßen. Ich zitiere ihn auf die Gefahr hin, als Möchtegern-Phallokrat verhöhnt zu werden. »Ein Bezug auf aktuelle Erlebnisse, Nachrichten, Erwägungen ist nicht ersichtlich. Ich wohne in der Schlucht einer (Berliner?) Seitenstraße, vielleicht im 2. Stock. Es gilt, einen Gittermasten 'zu fällen', der von unserer Hausfassade störend emporragt, wohl schräg aus einem Sims, wie ein Kranausleger. Eine spezielle Pistole bringt ihn zum Absturz. Anscheinend ist er just nur so breit wie die Schlucht. Jetzt hängt er schräg in derselben, mit dem Ende am gegenüber liegenden Haussockel verhakt. Dort, am Rinnstein, hat er gerade noch eine schwarze Mercedes-Limousine verschont. Dann dämmert mir, welches Schwein ich hatte. Es hätte ja zum Beispiel ein Kind aus jenem Haus treten können. Aber ich muß erst einmal eine Besorgung machen, mit dem Fahrrad. Zurückgekehrt, lehne ich das Rad an mein Haus und denke, jetzt solltest du vielleicht mal aufräumen helfen. Der Mercedes wird gerade unter dem schräg schwebenden Gittermasten hervorgeschoben – gefahren nicht. Die Schiebenden fragen den Eigentümer, ob er jetzt wissen will, wer das war. Er erwidert, im Augenblick sei es ihm nicht wichtig, der Wagen sei ja noch heil. Mir dämmert meine bodenlose Fahrlässigkeit – aber da erwache ich auch schon, mit Schrecken. Ich erschauere: sollte ich wirklich zu einem derart groben Unfug fähig sein? Geträumt habe ich ihn jedenfalls.«
Nun ja, das wäre wohl noch die Frage … Zwar beklagte Lewis Mumford in seinem vor über 50 Jahren erschienenen Werk Mythos der Maschine, unter anderem, die verbreitete Unterschätzung der »Traumzeit« des Menschen. Das bezog er sowohl auf die Frühgeschichte wie auf die Moderne. Gleichwohl sah er, entgegen neuer Forschungsbemühungen, keine Chance, jemals unmittelbare, gesicherte Informationen über Trauminhalte zu erlangen. Könnten sie selbst »von einem Diagramm exakt abgelesen« werden, heißt es auf Seite 440 der einbändigen Fischer-Ausgabe von 1977, »müßte der Untersucher sich dennoch auf die Bestätigung des Träumers stützen, ob diese objektive Deutung richtig sei, und ohne diese subjektive Verifizierung – die selbst nicht verifizierbar ist! – bleiben seine eigenen Behauptungen zweifelhaft, wenn nicht wertlos.«
Hätte ich doch im Mai im Züricher »Schlaflabor« der beiden Wissenschaftlerinnen Inge Strauch und Barbara Meier gelegen!* Da hätte ich eine Menge Elektroden an meinem schnarchenden Kopf gehabt, die meine Hirnaktionsströme, meine Augenbewegungen und die Muskelspannungen an meinem Kinn gemessen hätten (S. 31). Auf diese Weise wären schöne Meßkurven entstanden, auf die Mumford schon angespielt hat. Sie hätten meine nächtliche Traumaktivität belegt. Nun muß ich den Damen oder ihren Assistenten nur noch erzählen, was ich geträumt hätte. Und da zahlreiche andere Laborkaninchen das gleiche tun, läßt sich, über die Jahre, ein ziemlich genaues Bild von Arten und Häufigkeiten diverser Träume gewinnen. Nur gesichert ist davon nichts.
Immerhin räumen Strauch/Meier die mehrfache Wack-ligkeit ihres (vermutlich durchaus honorarträchtigen) Forschungsfeldes ein. Schon auf Seite 15 ihres 2004 überarbeiteten Buches stellen sie fest, weder wüßten wir, wie Träume entstehen, noch, warum wir träumen. Unmittelbare Beobachtung fällt leider aus (27). Der einzige Schlüssel zum Tor der seltsamen, »chaotischen« Traumwelt sei die Traumerinnerung – die jedoch sei stets subjektiv gefärbt, sicherlich oft auswählend (79), im ganzen unberechenbar und flüchtig (246). Ziemlich gewiß scheint lediglich zu sein, daß nur das in einen Traum eingehen kann, was im Gedächtnis eines Träumers »in irgendeiner Form gespeichert« ist (153).
Damit sind wir wieder beim Gedächtnis. Das aber stellt nach meinen Kenntnissen bis zur Stunde ein nahezu unangenagtes Rätsel dar. Wie beim Träumen sind auch beim Sicherinnern oder beim Vergessen zahlreiche Nervenzellen, Synapsen und sogar Gehirnregionen beteiligt – nur weiß keiner, welcher Fahrplan dieser Vernetztheit zugrunde liegt. Vielleicht sollte man seufzen: Gottseidank! Sonst schritte die IT-, Medien- und Pharma-Branche schon morgen daran, uns mit Träumen zu impfen, die wir leider noch nicht gespeichert haben …
Ich will Sie abschließende noch mit dem Traum der Freiluft-Malerin Mary Dryer beglücken. Er kam mir 2018, als ich an meiner Wild-West-Geschichte Reise nach Fort Lashermink saß, einem Kurzroman mit 12 Liedern, der knapp 60 Seiten hat. Drei Musiker sind in der Prärie mit zwei Planwagen und einem Piano in geheimer Mission (Waffen!) zu einem Waldlager versprengter IndianerInnen unterwegs. Dabei treffen sie Mary an der Staffelei. Sie malt gerade einen von ihr erlegten Greifvogel ab.
>>Zum Leidwesen sämtlicher drei Männer war Mary ungefähr so musikalisch wie ein Truthahngeier. Sie konnte schießen, traf aber kaum einen Ton, wenn man sie einmal zum Singen genötigt hatte. Gleichwohl eröffnete sie ihnen eines morgens beim Frühstück, sie habe von einem Chor geträumt, wenn auch nur kurz. Zum Auftakt habe es gehießen, es sei doch eine günstige Gelegenheit, bei dem und dem Präriefest einen Auftritt des neuen Soundso-Chores einzuflechten, bei dem sie, Mary, anscheinend mitwirkte. Alle ChorsängerInnen waren aufgeregt, weil sie eigentlich noch gar nicht genug geübt hatten. Aber dann habe die Szene bereits gewechselt: es sei plötzlich um ein akrobatisches Wagenrennen gegangen, erzählte Mary. Sie stand mit den anderen Chorleuten oder sonstwelchen MitstreiterInnen auf einem von drei feurigen Rossen gezogenen Streitwagen, der unter den Augen des Publikums (vielleicht gab es Tribünen oder Hügel mit Zuschauern darauf, die wie Mary ein Fernrohr besaßen) auf ein langgestrecktes, schmales, bestenfalls 30 Meter breites Maisfeld zuraste. Aufgabe der Insassen sei es nun gewesen, sich in den Sekunden des Durchbruchs vom Wagen aus nach den Seiten hin in den Mais zu hechten, damit es dann so aussehe, als wären sie vom Erdboden verschluckt worden. Tatsächlich donnerten die Rosse nach dem Durchbruch mit wie leergefegtem Streitwagen in die Prärie, während von den Abgesprungenen nicht ein Hemdzipfel zu erblicken gewesen sei. Wahrscheinlich habe das Publikum »Ah« und »Hurra« geschrien und seine Hüte in die Luft geworfen, aber darüber sei sie sich schon nicht mehr sicher. Das war alles, was sie noch von diesem Traum wußte, behauptete sie jedenfalls.
Steve schrieb den Traum heimlich auf. 15 Jahre später kramte er das entsprechende Heft hervor und trug Marys Traum einem mit ihm befreundeten Psychologen vor, der sich gerade für eine Neuerscheinung aus Wien begeistert hatte, Freuds Traumdeutung. Der Experte zeigte sich von Marys Traum kaum weniger angetan. Marys Sehnsucht nach dem Kollektiv springe einen ja aus diesen Bildern geradezu an. Deshalb, ihrer Einsamkeit wegen, sei sie vermutlich auch Hundehalterin gewesen. Sie habe aber wohl selber geahnt, jene Sehnsucht werde, bei ihrer eigensinnigen Störrischkeit, nie zu stillen sein. Deshalb der Absprung. Allerdings – sie sei ja ins Maisfeld gehechtet, ins Verborgene und auf die Erde zu, ins Mütterlich-Weibliche mithin. Ob die Malerin womöglich starke lesbische Neigungen besessen habe?
Steve kam diese Auslegung eigentlich ähnlich grotesk vor wie der Traum. Trotzdem sah er den Freund verblüfft an, denn dessen abschließende Frage war keineswegs aus der Luft gegriffen. Niemand von den drei Männern hatte Mary damals »bekommen«, wie es ja immer heißt. Vielmehr setzte sie sich nach einem Konzert in Sidney, dem wir uns aus anderen Gründen gleich widmen werden, wieder von ihnen ab, nachdem sie dabei eine dralle, braungelockte Schullehrerin kennengelernt hatte, die in ihrem Alter war. Als die Männer am nächsten Vormittag abzogen, konnten sie Marys Kutsche neben dem Schulhaus parken sehen, in dem die Dralle auch wohnte. Zwar war das Klappverdeck geschlossen, weil es am Vortag geregnet hatte, doch das Pferd war ausgespannt und mümmelte hinter dem Gartenzaun von der Petersilie. Es fehlte bestimmt nicht viel, und Sandy hätte das Kutschenverdeck, vom Sattel des Schecken aus, mit seinem Karabiner durchlöchert. Gleichwohl verzog er keine Miene.<<
* Den Träumen auf der Spur. Zugang zur modernen Traumfor-schung, 2. verbesserte Auflage Bern 2004
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