Montag, 18. Juli 2022
Klemperers Frauen
2014


Victor Klemperers Tagebücher aus der Zeit des Faschismus sind ohne Zweifel ein bedeutendes Dokument, das den ganzen grausamen Irrsinn des deutschen Faschismus, des »totalen Krieges« und insbesondere der Judenverfolgung belegt. Dagegen werden sie in stilistischer Hinsicht oft überschätzt, wie ich nach einer Wiederlektüre finde. Es handelt sich grundsätzlich um eine flüchtige, unbear-beitete Prosa – eine ausufernde Dürre, die Klemperer, wie so viele andere SchriftstellerInnen, mit der Konjunktion daß und mit Fremdworten spickt. Sie wirkt umso dürftiger, als der Professor der Romanistik weder ein begabter »Erzähler« noch »Philosoph oder Mystiker« ist, wie er immerhin selber mehrmals einräumt. Wahrscheinlich ist er noch nicht einmal ein ernst zu nehmender Gesell-schaftskritiker. Vom Wesen des Kapitalismus, des Staates, der Parteien usw. hat er zumindest nach Auskunft dieser Aufzeichnungen keine Ahnung. Seine völlig unkritische Begeisterung für etliche »fortschrittliche« Errungen-schaften ist mitunter peinlich, so vor allem das Auto betreffend. Soweit ihm die Dinge oder Verhältnisse jedoch mißfallen, moralisiert er – vermutlich in den Fußstapfen seines Vaters, des Rabbis. Man vermißt eine durchge-bildete Weltanschauung bei ihm, die ihm Kontur gäbe.

Eine andere Frage ist, ob sich die Anfertigung jenes »bedeutenden Dokuments« moralisch betrachtet recht-fertigen ließe … Schließlich setzt Klemperer zahlreiche namentlich erwähnte MitbürgerInnen, voran seine Frau Eva und die Ärztin Annemarie Köhler in Pirna, der Gefahr aus, bei Entdeckung der Tagebücher schwer mißhandelt oder ermordet zu werden. Klemperer sieht und empfindet diese Klemme selbstverständlich und wiederholt sich entsprechend ermüdend auch in dem Hinweis auf sie. Aber seine Rechtfertigung bleibt ähnlich dürr wie seine Prosa. Sie beläuft sich auf die Versicherung, er habe das herrschende Unrecht und Elend zu bezeugen, also auf den Rang einer persönlichen Pflicht oder Mission, die keiner Begründung bedarf. Weltanschauungen, Parteibücher oder sonstige Befehlsnotstände hat er ja nicht in die Waage zu werfen. In der Tat fürchte freilich auch ich, gegen die genannte Klemme gibt es kein Rezept, sondern nur eine Entscheidung je nach Naturell. Klemperer wählt die gefährliche Lösung, weil sie seiner Selbstüberschätzung entspricht. »Ich muß Zeugnis ablegen bis zum letzten …« Er tat es, überlebte den Faschismus, blühte dann noch einmal als Greis in der SBZ/DDR auf und starb 1960 hochbetagt wie -geehrt, womit er auch seine Hypochondrie überlebt hatte. Klemperer erlag dem Herzinfarkt, den er über Jahrzehnte hinweg x-mal beschworen hatte, erst
mit 78.

Allerdings möchte ich mich in dieser Betrachtung weniger Klemperer und seinen Aufzeichnungen, vielmehr seinen Frauen widmen. Nebenbei knüpfe ich damit an meiner Verspottung Erich Kubys an, nahm sich Klemperer doch nach dem Tod seiner Gattin Eva – sie starb 1951 mit 68 – mit der Germanistin Hadwig Kirchner (1926–2010) ein Jahr darauf eine 45 Jahre jüngere zweite Ehefrau. Kirchner war an der Edition der Tagebücher beteiligt. Angeblich begann dieses, vom Aufbau-Verlag geförderte Unternehmen bereits (oder erst) um 1985. Rochen sie »die Wende«? Klemperers Hiebe auf die Kommunisten hätte die SED wohl kaum durchgehen lassen. Die Tagebücher erschienen ja auch erst 1995. Kirchner wurde noch älter als ihr Gatte, 84. Allerdings soll sie »nach langer Krankheit« gestorben sein. Peter Jacobs schrieb 2005 einen interes-santen Artikel über sie, gleichwohl habe ich den Eindruck, die Rolle dieser Dame ist sehr undurchsichtig. Womöglich wird sie in den mindestens drei Sammelbänden mit Aufsätzen über Victor Klemperer erhellt, die inzwischen vorliegen. Ich halte es freilich für unwahrscheinlich.

Mit dieser Undurchsichtigkeit wäre Kirchner eine durch-aus würdige Nachfolgerin Eva Klemperers gewesen. Die geborene Schlemmer, Tochter eines ostpreußischen Landwirts, war nur ein Jahr jünger als ihr Lebensgefährte, den sie (1904) in dessen Berliner und Münchener »Bohemian«-Zeiten getroffen und (1906) geheiratet hatte. Sie hatte sich wenig erfolgreich als Pianistin, Klavier-lehrerin und Malerin versucht. Klemperers gediegene Familie mißbilligte die Heirat, doch die größeren Schwierigkeiten machten sich die beiden bald selbst. Die Ehe war ausgesprochen heikel und innig zugleich. Daß die »arische« Eva Victor durch ihre Treue letztlich im Faschismus das Leben rettete, trug sicherlich auch zum Zündstoff dieser Beziehung bei, da sich Erpressung und Schuldgefühl bei solcher Lage geradezu anbieten. Eva hatte ihr Unterrichten und Streben nach künstlerischen Weihen ihrem frischen Gatten zuliebe eingestellt und half ihm bei seinen journalistischen Arbeiten als Sekretärin und Lektorin und dann bei der Doktorarbeit. Als betont »deutsch« gestimmter Jude nahm Klemperer bereitwillig am Ersten Weltkrieg teil. In dieser Zeit wandte sich Eva wieder der Musik, insbesondere der Orgel, und Kompo-sition zu, was ihr Victor übel genommen haben soll. Durch verschiedene Krankheiten, darunter öfter Gallenkoliken, möglicherweise auch einen Unfall, war sie dann aber sowieso an der Musikausübung gehindert.

Seit 1920, nach Victors Berufung auf einen Lehrstuhl der Romanistik an der dortigen TH, lebte das Ehepaar in Dresden. Rund ein Jahr nach dem Machtantritt der Faschisten setzte Eva ihren Kopf durch, auf einem Hang-grundstück am Stadtrand von Dresden ein Häuschen zu bauen. Nachdem Victor 1935 seines Lehrstuhls beraubt worden war, wurde das Ehepaar 1940 auch aus dem neuen Haus vertrieben. Sie wurden in immer beengtere Mietwoh-nungen gezwungen. Ein Exil hatte Eva stets abgelehnt. Das Haus mit Garten war ihre Höhle, in der sie sich nach bekanntem neurotischem Muster vergraben und verstecken und für allerlei Entbehrungen schadlos halten zu können glaubte. Zwischen ihr und Victor war es über viele Jahre hinweg ein nie erkaltender Konfliktherd. Zum Drama der Kränklichkeit beider Eheleute, immer schön um die Musik, den Hausbau und das ach so wichtige »Opus« des Gatten gerankt, gesellte sich dann noch eine schon früher geschilderte Katzenposse und »natürlich« nicht zuletzt der nervtötende Reißer der Judenverfolgung und des Faschismus überhaupt, Krieg und Bombardierung eingeschlossen. Die Tagebücher ihres Mannes überstanden Verfolgung und Bombardierung, weil sie von Eva in Abständen zu der erwähnten Freundin Köhler nach Pirna (bei Dresden) geschafft worden waren, auch dies eine mutige Tat. Dagegen ging Evas eigenes Werk (als Musikerin) durch den Krieg verloren. Nach 1945 war sie wiederholt als Übersetzerin aus dem Spanischen und Französchen für DDR-Verlage tätig. 1951 starb sie angeb-lich an einem »Herzschlag«, wie es bei Wikipedia heißt.

Erfreulicherweise findet sich im Internet ein vollständiger Aufsatz der Hamburger Sozialforscherin Gaby Zipfel über Eva Klemperer, veröffentlicht 2000. Zipfel stützt sich auch auf die frühen Tagebücher oder biografischen Aufzeich-nungen Victor Klemperers, die ich nicht kenne. Habe ich ihre Darstellung richtig verstanden, litt Victor von Hause aus (Vater, Brüder) an Minderwertigkeitsgefühlen. Zudem bedrängt ihn von Jugend an der Todesgedanke. Hier hat ihm Eva weitaus mehr Unbeschwertheit voraus. Zwar ist V. Anhänger der Frauenemanzipation, spürt jedoch bei E., sie ist selbstständiger als er, nicht unbedingt auf ihn angewiesen. Sie benötigt auch keine Kinder – allerdings später Katzen, die verwöhnt werden bis zur Groteske. Eine selbstständige Musikerin Klemperer, die ihre eigenen Wege geht (statt die Stütze des Gatten und Romanisten zu sein), möchte nun Victor offenbar unbedingt verhindern. Er hat sowieso wenig Beziehung zur Musik, ja mehr noch, als sich E. während des Ersten Weltkriegs aufs Orgel-studium wirft, haßt er Musik. Die Orgel selbst wird zum »unweiblichen«, bedrohlichen Nebenbuhler. Aber wie gelingt es V., E. die Musik zu vergällen? Immer unterstellt, das sei sein Begehr gewesen.

Wenn ich mich nicht täusche, wird dieser Schwenk selbst in Zipfels Aufsatz nicht genügend deutlich. Fakt ist nur: E., die auch den ganzen Haushalt versorgt, wird im Lauf der 20er Jahre immer kränker. Nervenentzündungen in Hand und Armen, wiederkehrende Zahnprobleme, eine Verwachsung im Bein, Beschwerden im Knie, häufige »Depressionen«. Dadurch erledigt sich das Problem mit der Musik sozusagen von allein, weil sie sie ohnehin nicht mehr ausüben kann. Ist diese Kränklichkeit nun eher Victors Waffe gewesen, oder aber eher Evas »strafende« Reaktion auf seine ihr feindlichen Wünsche? Später, um Hitlers Staatsstreich herum, wiederholt sich die Sache noch einmal: die Stelle der Musik nimmt nun der Haus- und Gartenbau ein. Victor sträubt sich auch gegen diesen zunächst hartnäckig, doch dann sieht er ein, das Vorhaben könnte Evas Rettung sein, was sich ja auch bestätigt, nachdem sie ihren Kopf trotz der finanziell beschränkten und immer bedrohlicheren Lage des Ehepaars durch-gesetzt hat: sie blüht mit dem Planen und Werkeln auf. Allerdings bleibt auch dies Episode. Schon 1937 liegt sie wieder häufiger krank im Bett als sich auf zwei Beinen irgendwie nützlich zu machen. Victor schmeißt wieder »die Wirtschaft«.

Ich gestehe, im Gegensatz zu ihrem Gatten bekomme ich von Eva Klemperer bislang nur ein verschwommenes Bild vor Augen. (Nebenbei kenne ich auch keine Fotos.) Vielleicht war sie ja ungleich komplizierter »gestrickt« als der neurasthenisch gestimmte Victor, bei dem man nie den Eindruck hat, seine witzigen und skeptischen Züge bissen sich ernsthaft mit seinen ängstlichen. Er hatte das Runde, das sich offenbar mit zunehmendem Alter auch in leiblicher Hinsicht bei ihm durchsetzte. Er war die Welt – und diese durfte auf keinen Fall untergehen. Eva ist schwer faßbar. Wenn Victor im Tagebuch einmal erwähnt, zu den wichtigsten Stützen der Nazis habe Eva »hysterische Frauen« gezählt, kann ich mich freilich eines Schmunzelns nicht erwehren, weil Frau Klemperer, ihrem Gatten zufolge schon immer ein »hundsmageres« Geschöpf mit kurzen, braunen Haaren, braunen Augen, Kneifer oder Brille und Fähigkeiten im Messerwerfen, selber öfter als Hysterikerin erscheint. So ist aus einer Anmerkung der Tagebuch-Ausgabe zu erfahren, wegen zunehmender Depressionen Evas hätten die Klemperers früher, im März 1931, eine Reise nach Lugano unternommen. Diese Reise habe jedoch eher eine Verschlechterung von Evas Zustand erbracht. »Eva Klemperer erlitt häufig Ohnmachtsanfälle und glaubte sich für dauernd gelähmt.« Seit den oben erwähnten Krankheiten, mochten sie vielleicht auch nur »eingebildet« sein, und ihrer damit einhergehenden Zurücksetzung als Künstlerin muß sie Victor vorwiegend als Leidende gegenüber getreten sein. Sie klagt ständig über die einen oder anderen Schmerzen, beschimpft und bemitleidet sich als »Krüppel«, fühlt sich todkrank, liegt mit Migräne im Bett und so weiter.

Da Eva nicht mehr Orgel spielen kann und gelegentlich ihre schmerzende Hand erwähnt wird, vermute ich jene »Verkrüppelung« eben dort, an der Hand. Victor spricht diesbezüglich mal von »Unfall«, den er freilich nie beschreibt, mal davon, eines Tages hätten Evas Hände »ihren Dienst versagt«. Vielleicht will er so den neuro-tischen Zug abdämpfen, den man bei der Angelegenheit (Evas Verhinderung am Musikmachen) vermuten muß, und der beispielsweise Rheuma ausgelöst haben könnte. Dann wieder spricht Victor wiederholt von einem »Fußleiden«, das Eva das Gehen zur Qual macht und enorme Taxigelder frißt. Nun ja, Orgel wird schließlich nicht unbeträchtlich auch mit den Füßen gespielt … Über weite Strecken hat Victor zur Krankenpflege, stunden-langes Vorlesen eingeschlossen, sämtliche Besorgungen und die Hausarbeit am Hals. Er verflucht aber Eva in seinem Tagebuch nie, vermerkt dankbar jeden ihrer Anfälle von Tatkraft und Fröhlichkeit und läßt keinen Zweifel daran, wie sehr sie ihm trotz der Last Stütze ist.

Hier scheint allerdings ein Problem auf, das der Betrachter hat. Er kann sich nur auf Victors Aussagen stützen ohne die Sicherheit zu haben, sie seien zutreffend oder auch nur ehrlich. Schon Victors Bemerkungen Eva betreffend könnten gefärbt sein, weil er ja wohl mit ihrem Mitlesen zu rechnen hatte. Weiter sind, wenn ich mich nicht irre, weder Kommentare Evas zum Tagebuch bekannt noch scheint Victor selber seine Aufzeichnungen noch einmal aus dem Abstand heraus durchgesehen und gegebenenfalls berichtigt zu haben. Andernfalls hätte er übrigens jede Wette zahlreiche Wiederholungen gestrichen, zumindest die wortgetreuen. Behaupten die HerausgeberInnen, dies hätten doch sie bereits getan, müssen sie das Gehirn des durchschnittlichen Lesers für eine Walnuß halten. Aber selbstverständlich stellen auch die immergleichen Lamenti Klemperers Wiederholungen dar, die einen Leser wie mich geradezu wütend machen können. Sie werfen schon deshalb ein schlechtes Licht auf Klemperer, weil er doch eigentlich nicht vereinsamt war, also das Tagebuch nicht notwendig dazu brauchte, sich selber sein Herz auszuschütten und sich selber ein ums andere Mal Mut zuzusprechen. Jedenfalls steht der Betrachter vor der genannten Unüberprüfbarkeit. Weder kann er beurteilen, ob Victor seiner Gattin nicht hin und wieder unrecht tat, noch sind die Eingriffe der HerausgeberInnen durchsich-tig. Wer weiß, ob Frau Klemperer II nicht glaubte das Recht zu haben, mit Frau Klemperer I ein Hühnchen zu rupfen? Die HerausgeberInnen verweisen auf das ausgesprochen klein und dicht abgefaßte handschriftliche (teils auch getippte?) Original, das angeblich in der Dresdener Sächsischen Landesbibliothek liegt. Aber wer hätte schon die Befugnisse und die enormen zeitlichen und finanziellen Mittel, es zu untersuchen?

Was ich hier zu Victors mutmaßlicher Voreingenommen-heit oder jedenfalls Befangenheit sage, gälte selbstver-ständlich – falls es berechtigt ist – genauso für die früheren Tagebücher, die ich nur andeutungsweise aus Sekundär-Quellen kenne. Das hieße, womöglich besitzen wir von Eva lediglich ein mehr oder weniger verzerrtes Bild, eben das ihres Gatten. Falls ich es nicht überlesen habe, ist auch Zipfel auf diesen Gesichtspunkt nie eingegangen. Erstaunlicherweise berichtet sie, aufgrund der früheren Tagebücher, von einem reichen, strecken-weise sogar »exzessiven« Liebesleben des jungen Ehepaars. Es erstaunt mich nicht, weil ich etwas dagegen einzuwenden hätte, sondern weil sich zu diesem Thema in den Tagebüchern aus der Zeit des Faschismus so gut wie kein Komma findet. Berichtet Victor, seine Führerschein-prüfung (im Januar 1936) habe er mit Eva zu Hause bei einer Flasche Haute Sauternes gefeiert und fügt er hinzu: »Con amore«, ist es schon viel. Die Sache ist ihm immer noch so peinlich, daß er sie fremdländisch erwähnen muß.

Ob dieser Mangel leidenschaftlicher Umtriebe nur am vorgerrückten Alter des Ehepaars liegt? Oder an Zensur? Das Dumme ist, er paart sich mit dem Fehlen jeder Reflexion über die Liebesbeziehung, also etwa über Wünsche, Ängste, Enttäuschungen – kurz, die Frage, was zweie noch voneinander wollen. Dabei merkt Victor durchaus öfter sowohl seine Kenntnisse wie sein Interesse in psychologischen Fragen an. Man könnte einwenden, Victor hätte wahrlich wichtigere Sorgen gehabt. Aber das Damoklesschwert des Faschismus, unter dem das Eheleben stattzufinden hat, ist kein Gegenargument. Remarque führt in seinem vorzüglichen Roman Die Nacht von Lissabon vor, wie eine zerrüttete Ehe gerade daran wieder erstarkt. Vielleicht war Victor schlicht zu ängstlich auf sich selbst (und seine Rettung) bezogen, um sich diesen Fragen widmen zu können. Merkt er an, für den Fall, man erschlage ihn, müßten wenigstens das Haus und sein inzwischen auf die Hälfte gestutztes Ruhegehalt für Eva gesichert sein, liest es sich nicht gerade als Vorschlag zu deren Rettung. Es ist Pflichtübung und Gewissens-beruhigung.

Die Webseite luise-berlin.de behauptet (1999), aus Victors Nachkriegstagebüchern gehe ein geradezu krankhafter Ehrgeiz hervor. Dieser Mann habe seine Selbstbestätigung offensichtlich nahezu ausschließlich im Streben nach Ämtern, öffentlicher Anerkennung, Ruhm gefunden und sei zu diesem Zwecke auch nicht vor Intrigen oder Drohungen mit seinem Einfluß zurückgeschreckt. Seine beiden Ehefrauen habe er beneidet, weil sie von dieser Geltungssucht frei waren. In diese Kerbe schlägt auch Zipfel. V. wünsche Eva als alter ego, Spiegelbild, Ergänzung, nicht als die andere. Er bewundere sie (in seinem CV) für die Seelenruhe, mit der sie ihre Bilder in ihrem Zimmer aufhänge, ihre Kompositionen im Notenschrank verstaue, ohne »den leisesten Wunsch nach Anerkennung und Publizität« zu kennen, der ihn selber umtreibt, möchte er doch »gar zu gern mit seinem Werk nach außen wirken und in ihm weiterleben«. Ich vermute, in vielen Fällen paart sich Geltungssucht nur zu gern mit Neurasthenie: der ständig um sich Bangende nimmt sich buchstäblich »krankhaft« wichtig.

Was Eva angeht, habe ich keine Andeutung darüber gefunden, ob sie sich in ihrer DDR-Zeit eher glücklich oder eher unglücklich gefühlt habe. Vielleicht geht das ja aus jenen Nachkriegs-Aufzeichnungen ihres Mannes hervor. Zipfel möchte sich erklärtermaßen gegen das unbehagliche Klischee vom aufopferungsbereiten und migränehaften Anhängsel Eva wenden, das so viele »Rezipienten« aufgrund der Darstellung durch ihren Gatten gewinnen mußten, aber zu einer Alternative findet sie kaum. Ihr »Gegenbild« beläuft sich, im letzten Absatz 47, auf diesen orakelhaften Satz: Wenn Klemperer 1932 wehmütig feststelle, »Eva ist so ganz anders als ich. Viel lebensmüder, viel gleichgültiger gegen den Tod – und mit viel mehr Zukunftsplan«, habe er vielleicht die Quelle ihrer Kraft beschrieben, mit der sie ihn »buchstäblich an der Hand durch tiefe Finsternis« (1945) führte, ohne sich bewußt zu sein, wie hoch der Preis war, den sie für das, was er »Heroismus über jeglichem Heldentum« nennt, zu zahlen hatte. Entsprechend stellt Zipfel auch nie die Frage, warum eigentlich E. ausgerechnet auf V. anbiß, was sie bei ihm hielt. Insofern geht Zipfel ebenfalls einseitig vor, weil sie für E. eine Lanze brechen will.

Ich selbe neige aufgrund meiner Wiederlektüre zu der Befürchtung, beide Ehepartner seien unausstehliche Zeitgenossen gewesen. Trifft das zu, drängt sich allerdings die Frage auf, woher die beiden dann ihren hauptsächlich guten Ruf haben und warum sich überhaupt seit Jahr-zehnten wahre Legionen von Lesern und sogenannten Wissenschaftlern mit ihnen beschäftigen? Selbstverständ-lich, weil die Klemperers mehr oder weniger zufällig den Mut fanden, dieses antifaschistische Tagebuch zu verfassen beziehungsweise zu unterstützen und zu schützen, das vor allem wegen seiner Beobachtungen der täglichen »Hitlerei« aufschlußreich ist, nicht wegen Evas Migräne oder Victors Herabsinken auf das Rauchen billigster, stinkender Stumpen, was ihn freilich nie ernsthaft bei der Selbstbeweihräucherung behindert. Offensichtlich war das eine (die Soziologie) ohne das andere (die Grillen) nicht zu haben.

Ich werfe noch einen Blick auf eine dritte Frau, die ich bereits streifte. Nach freundlicher Auskunft der Stadt-verwaltung Pirna sind die biografischen Angaben über Annemarie Köhler (1893–1948), die Hüterin von Victor Klemperers Aufzeichnungen, »trotz umfangreicher Recherchen« leider dürftig. Auch von den Gründen ihres frühen Todes wisse man nichts. Ich fürchte allerdings, in Pirna hat man noch nicht einmal Klemperers Tagebuch (und dessen Anmerkungen) auf die vermißten Angaben hin abgeklopft. Danach richtete Köhler 1937 mit einem Dr. Friedrich Dreßel in Pirna eine eigene, private Klinik ein. Laut einer Anmerkung hatte sie mit diesem Kollegen schon in »wilder Ehe« zusammengelebt. Nun leitet Dreßel die neue Klinik, während Chirurgin Köhler mehr die Geldgeberin und Geschäftsführerin zu machen scheint. 1938 heiratet Dreßel – aber nicht etwa Köhler, wie sie nach Einschätzung der Klemperers angenommen hatte. Sie glauben, diese Enttäuschung habe Köhler nachhaltig zugesetzt. Wahrscheinlich sei sie ihm verfallen gewesen. Dafür zollt Romanist Klemperer eifrig Fremdwörtern Tribut. Dreßel etwa nennt er »einigermaßen ludovizisch gesinnt«. Andere Gipfel: Eva wird in einer Mietsache »zu inhibieren suchen«. Vor unserem Heim »interpellierte« uns eine junge Berlinerin, ob wir denn schon abreisten …

Auch das Verhältnis zwischen Köhler und den Klemperers ist nicht unproblematisch. Sie kennen die dralle, zumin-dest früher recht lebhafte Medizinerin aus ihrer gemein-samen Zeit in Leipzig 1916–18. Sie fühlen sich trotz Köhlers Hilfsbereitschaft öfter von ihr vernachlässigt, abgewimmelt oder versetzt. Allerdings scheint die Ärztin auch selber mit Krankheit zu kämpfen. Juli 1940: »Verquollenes Gesicht, beide Augen infiltriert wie eine Bulldogge, ständiger Husten. Sie ist offenbar schwer herzkrank. Schlimmer die innere Veränderung. Sonst redselig, aufgeregt. Jetzt fast apathisch.« Ähnlich Oktober 1942: leidend, hustend, abgestumpft. Den Husten erkläre sie als ein Symptom ihres Herzleidens. Sie sei 12 Jahre jünger als die Klemperers, habe jedoch schon öfter betont, ihr sei kein langes Leben beschieden, heißt es im Tagebuch.

Köhler war Antifaschistin, hin und wieder sogar schon angeeckt, weshalb die Manuskripte (und das Geld) Klemperers auch bei ihr nicht völlig sicher waren. Er wußte jedoch keine Alternative. Im Mai 1944 notierte er: »Annemarie bleibt uns ein psychologisches Rätsel. Treu und untreu, herzlich und kalt in einem, gleichgültig dem Leben und dem Krieg gegenüber.« Im Januar 1945: »Eva kam recht deprimiert von Annemarie zurück: 'ein toter Mensch'. Das war schon mein Eindruck, als ich in den ersten Kriegstagen nach Pirna herauskam. Sie steht allem stumpf gegenüber. Im übrigen gegen uns freundschaftlich, hilft mit Geld, mit Manuskript-Aufbewahrung. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß sie an der Affäre Dreßel entzweigegangen ist.« Leider ist mir nicht bekannt, ob und wie Klemperer sie auch noch in seinen Nachkriegstage-büchern erwähnt.
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