Montag, 18. Juli 2022
Das Mädchen, das nicht mehr Mareike heißen muß
ziegen, 12:41h
2016
Ein Unfall in Kentucky, auf den ich kürzlich als Lexikograf stieß, hat mir die Flause eines Romanprojekts ins Ohr gesetzt, das wahrscheinlich an mehreren unüberwind-lichen Hindernissen scheitern würde, wäre ich nicht sowieso zu faul. Allerdings dürfte »Faulheit« die Sache nicht ganz treffen. Man überschlage beispielsweise einmal, welcher Arbeitsaufwand und welche Disziplin in einem wenn auch nur einbändigen Lexikon der Unfallopfer stecken. Im Fall von Romanen dagegen habe ich eigentlich noch nie so richtig begreifen können, wie sich jemand aus freien Stücken der Marter unterziehen kann, auf 300 oder 500 Seiten einen Stoff auszubreiten, der sich genauso gut, wenn nicht besser, auf drei oder fünf Seiten darstellen läßt.
Bei dem Unfall wurde durch den Absturz eines Privatflug-zeuges in einem Waldgebiet fast eine ganze Familie ausgelöscht. Einzige Überlebende war eine Siebenjährige, die sich, nur gering verletzt, bei Schnee und Dunkelheit zu einem Haus am Rande des nächsten Dorfes durchschlägt. Der alte Mann, der ihr auf ihr Klingeln hin öffnet, macht verständlicherweise große Augen, als sie ihre Geschichte vorträgt und um Beistand bittet. Dann greift er, wie denn auch anders, zum Telefon, um den Notruf zu betätigen.
Nennen wir den Alten Dietmar und sagen wir, er ist erst 67. Ehemals Bibliothekar in der nahen Kleinstadt, genoß er zwar durchaus Anerkennung, gleichwohl galt er als Sonderling, der nicht umsonst allein in diesem Häuschen am Dorfrand lebte. Besuch bekam er selten. Meine Idee war es nun, Dietmar wäre schon bald nach den ersten gestammelten Worten des bibbernden und zerkratzten Mädchens von dem Gedanken beschlichen worden: vielleicht wäre es besser, den Unfall nicht zu melden. Weil es schöner wäre, dieses Mädchen im Haus zu behalten.
Man sieht schon, die Sache ist heikel. Schließlich könnten wachsame Roman-LeserInnen ihrerseits von dem Gedanken beschlichen werden, dieser Alte habe sich glatt in das arme Mädchen verliebt – ja mehr noch, er sei ein Unhold, der plötzlich seine große Chance gewittert habe. In der Tat wird ihm das später eine jüngere Verwandte so ähnlich an den Kopf werfen. Sie könne sich schon denken, warum er sich so aufopferungsvoll um das Mädchen kümmere. »Du fütterst sie fett und machst sie schön hörig, und spätestens in fünf Jahren liegt sie jeden Abend in deinem Bett, so stellst du dir das doch vor, habe ich recht!?«
Die Wahrheit ist, Dietmar wird beim Anblick des hilfsbedürftigen kleinen Geschöpfes schmerzlich an das Bedauern erinnert, das er schon seit einigen Jahren immer stärker empfindet. Er hatte nie eine Familie gegründet. Von Geselligkeiten hielt er sich fern, soweit sie ihm der Dienst nicht aufzwang. Als Ruheständler kümmerte er sich ausschließlich um sein Brennholz, seinen Garten und seine Tiere, zu denen ein paar Ziegen zählten. Aber wirklich zufrieden war er in seiner Idylle nicht. Jenes Bedauern galt seiner Einsamkeit. Es galt dem Umstand, von keinem Menschen wirklich benötigt zu werden. Er hatte seine MitbürgerInnen mit guten Büchern versorgt, das schon, doch im Grunde hatte er an der Gesellschaft vorbeigelebt. Sie würde ihm keine Träne nachweinen, nicht eine.
Dietmar hat hohe moralische Grundsätze. Der Gedanke, das Mädchen gleichsam gefangenzunehmen und dann zu quälen, liegt ihm somit völlig fern. Vielmehr steigen binnen weniger Minuten die Bilder eines glücklichen und fröhlichen Kleinfamilienlebens wie jene bunten Wasserspiele vor ihm auf, die es in seiner Jugend im Kino Kaskade jedesmal vor dem noch geschlossenen Vorhang gab. Schon fragt er sich – und fragt auch Mareike, die in einer dicken Strickjacke von ihm am Ofen sitzt und einen von seinen selbstgepflückten Äpfeln verputzt: »Hat dich jemand gesehen?« Und schon vergewissert er sich, indem er zum Wald nickt: »Alle sind sie tot, sagst du? Bist du wirklich sicher?«
Bald wirbeln auch die Erwägungen durch seinen Kopf, ob und wie sich die Sache am Ende wirklich deichseln ließe. Vielleicht kann er Mareike als Enkelin ausgeben, die plötzlich Waise geworden ist. Wobei sie natürlich gar nicht mehr Mareike heißen dürfte. Mareike ist tödlich verunglückt; sie liegt verkohlt im Wald, die Ärmste, wie die anderen. Um die Eltern ist es vielleicht nicht unbedingt schade. Ihr Erzeuger war Autohändler, und Flieger, natürlich. Die Mutter war ein Regenfaß; sie »laberte« und »nörgelte« in einem fort. Während das jüngste Töchter-chen merkwürdigerweise eher einem Molch gleicht. Was sie da andeutet, klingt jedenfalls stark danach, sie hat sich zu Hause gar nicht wohl gefühlt. Und so purzeln und trudeln die Erwägungen und Gespräche dahin, bis Mareike, die gar nicht mehr so heißen darf, unversehens am Ofen eingeschlafen ist, und in der Ferne sind noch immer keine Sirenen zu hören – was Wunder, Dietmar hat keine Sirenen bestellt.
Schon hier dröhnt ein Pferdefuß: woher will Dietmar, der kein Arzt ist, wissen, daß sich Mareike bei dem Absturz keine bedrohlichen inneren Verletzungen zugezogen hat? Oder kein »Trauma«? Müßte er sie nicht ins Krankenhaus bringen, zur Untersuchung? Wenn sie ihm wirklich so sehr am Herzen läge, wie er sich einbildet?
Gewiß, ein Romanautor ist nicht unbedingt auf den Kopf gefallen, er versteht es zu improvisieren. So könnte Dietmar, der Bibliothekar, früher Arzt oder wenigstens Sanitäter gewesen sein. Oder er könnte mit einer Ärztin befreundet sein, die er einweiht und um Hilfe bittet. Durch die Einweihungen erhöhen sich die Fehlerquellen, was wiederum der Erhöhung der Spannung dient. Vielleicht muß Dietmar auch den Leiter der Grundschule oder die Leiterin der Meldebehörde einweihen, die womöglich ebenfalls mit ihm befreundet sind. Denn woher soll er eine Geburtsurkunde des Mädchens nehmen, das nicht mehr Mareike heißen darf? Vielleicht fälschen, durch Bestechung. Jedenfalls muß die ganze Geschichte: Dietmar Koop lebt neuerdings nicht mehr allein in seinem Ziegenbau – dies alles muß ganz legal, ganz offen und zu allseitigem Wohlgefallen verlaufen. Spätestens nach einem Jahr darf man sich im Dorf und in der Kleinstadt schon gar nicht mehr vorstellen können, Dietmar sei jemals ohne Enkelin gewesen, die bei ihm lebt.
Diese Enkelin, die umgetaufte, ist wahrscheinlich – bevor man sich noch mit dem ganzen Behördenkram befaßt – der größte Pferdefuß. Gut, sie erwählt sich vielleicht den Namen Zora (nach einer Schnapsidee von Dietmar), doch steht nicht zu befürchten, sie verplappert sich bereits am nächsten Tag gegen 11, wenn die Postbotin kommt und die neue Bewohnerin nach ihrem Namen fragt? Kann sich eine Siebenjährige, die gerade ihr Elternhaus verloren hat, so radikal umstellen und verstellen? Und das dann dauerhaft? Ja, mehr noch: will sie das überhaupt? Auf Dauer jedenfalls? Im ersten Moment ist es vielleicht eine glänzende Idee für sie, eine verlockende Aussicht, ein tolles Spiel. Aber im Alltag? Wenn sie ihre Vergangenheit konsequent zu verleugnen hat, damit die Geschichte nicht auffliegt?
Hier winkt der nächste Pferdfuß: in Mareike-Zoras Vergangenheit. Sind ihre Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten so »blöd« und »ätzend« (gewesen), wie das Mädchen sie Dietmar gegenüber in den ersten Gesprächen hinstellt – wer garantiert Dietmar dann, der Apfel sei ausnahmsweise weit weg vom Stamm gefallen? Da dürfte er ein langes Gesicht machen, wenn sie sich als nicht minder blöd und ätzend herausstellt, die kleine, blonde Ziege. Und wenn schon von der Schule die Rede war, bei der ja Dietmar sie anzumelden hat: Selbst wenn es ihm gelingen sollte, einen wohltuend unbürgerlichen und unzeitgemäßen Einfluß auf sie auszuüben – in ihrer Schule steht sie damit Eins gegen Hundert. Die lieben MitschülerInnen werden sie verlachen und hänseln, weil sie zu Hause Treppen putzen muß, aber keinen blassen Schimmer davon hat, wie man in akrobatischer Manier über das touchpad eines smartphones wischt. Sie werden ihr das Ziegenmelken austreiben, bis sie keine größere Begierde mehr kennt, als täglich sieben Stunden am Internet zu hängen. In Dietmars beschaulichem Häuschen wird der Konsumterror ausbrechen. Dietmar wird Faust zitieren (»die Geister, die ich rief …«) und sich aufhängen.
Der Romanautor müßte stark genug sein, um sich von diesen und tausend anderen Bedenken, Widrigkeiten und Gefahren nicht abschrecken zu lassen. Anders gesagt, Dietmar und Mareike-Zora hätten das drohende strapazierenden Wechselbad und die Attacken des Feindes eben durchzustehen. So lange es geht. Weil sie sich lieben. Aber sehr lange wird es vermutlich nicht gehen können. Ich erwähnte bereits die zeternde Verwandte Dietmars, die in ihm einen Sittenstrolch argwöhnt. Die ganze Nachbarschaft der beiden DorfrändlerInnen stellt vermutlich auch keinen makellos geschlossenen Zuckerguß dar. Ich erwähnte die Behörden, wobei ich von der Polizei (die selbstverständlich auch in der Asche der Absturzstelle herumstocherte) noch gar nicht gesprochen habe.
Kurz und schlecht, eines nicht fernen Tages werden sich Dietmar und sein widerrechtlich beschaffter Liebling voneinander trennen müssen. Mareike-Zoras Leben wird dadurch vermutlich auf immer verpfuscht sein. Und wer ist schuld daran? Dietmar. Als die Polizisten oder SozialarbeiterInnen Mareike-Zora abholen, ist er vielleicht 69. Was er nun tun wird, dürfte nach meinem »Faust«-
Satz ziemlich klar sein. Es wird heftig werden. Er kann es zum Beispiel besser machen als Bergbauer Rocco, der den Fabrikanten Korten oder die Gemeindearbeiter, die auf Kortens Betreiben hin Roccos altem Walnußbaum mit der Motorsäge zu Leibe rücken, nicht erschießt.* Er kann sich natürlich auch selber umbringen. Am besten, wir entscheiden uns für beides zusammen. So könnte Dietmar, falls Polizei auftaucht, den ersten Beamten erschießen, und gleich darauf erschießt ihn seinerseits der zweite Beamte, am besten eine Frau.
* Walther Kauer: Spätholz, Zürich 1976
Nachtrag. Ich kenne bis zur Stunde keinen Kommentar zu dieser, wie ich nach wie vor finde, reizvollen Geschichte. Aber das bin ich gewohnt; es betrifft möglicherweise über 90 Prozent meines Gesamtwerkes, Lieder eingeschlossen.
Die Klippe mit dem Elternhaus könnte man umschiffen, indem man das überlebende Mädchen zu einer fernen Verwandten oder einem erst unlängst adoptierten Waisenkind macht. Dann müßte »Zora« nicht unbedingt ähnlich verdorben wie die abgestürzten Eltern sein. In der Tat war bei dem Original-Fall (2015, in meinem LdF unter >Gutzler, Piper) eine Kusine unter den fünf Toten. Gleichwohl bedürfte es natürlich einer Vorgeschichte Zoras, die ihr Verhalten und ihre Erinnerungen beeinflußt.
Die Schwierigkeiten mit den Papieren, Schulpflicht eingeschlossen, könnte man sicherlich recht leicht durch eine Rückverlegung der Handlungszeit ausräumen, etwa in einen US-Landstrich um 1870. Nur hätte man in diesem Fall keinen Flugzeugabsturz mehr. Andere Unglücke in einer abgelegenen Gegend mit nur einer überlebenden Person sind zwar durchaus denkbar (Eisenbahn, Post-kutsche, Prärieschoner), doch nur das Privatflugzeug stellt den Familienvater und Autohändler als Vollidioten hin, dem das Mädchen nun gottseidank entronnen ist. Ähn-liches gilt für die Hänseleien der Touchpadler. Anderer-seits käme der Landstrich um 1870 einer Lynchjustiz gegen den als Kinderdieb aufgeflogenen Alten entgegen.
Die Aufgabe, ein poesievolles Bild des ungleichen Paares zu malen, ist ohne Zweifel verlockend. Sie ist aber auch schwierig und vermutlich schon wiederholt bewältigt worden. Auf solche Arbeiten fehlen mir noch Hinweise. Warum schreibt mir so gut wie kein Mensch? Im ganzen hatte ich in 10 Blog-Jahren rund ein Dutzend Leserbriefe. Das ist ja wohl kläglich. Dabei kamen in den jüngsten zwei Jahren gar keine mehr. Sollte das Virus vor allem die Mutdrüsen in der Herzgegend befallen haben? Vor 2020 hatte ich rund acht enge Freunde. Jetzt sind es noch vier. Ein Verlust um 50 Prozent, der gerade nur die Arschlöcher entfernt – den müßte man Deutschland einmal wünschen.
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Ein Unfall in Kentucky, auf den ich kürzlich als Lexikograf stieß, hat mir die Flause eines Romanprojekts ins Ohr gesetzt, das wahrscheinlich an mehreren unüberwind-lichen Hindernissen scheitern würde, wäre ich nicht sowieso zu faul. Allerdings dürfte »Faulheit« die Sache nicht ganz treffen. Man überschlage beispielsweise einmal, welcher Arbeitsaufwand und welche Disziplin in einem wenn auch nur einbändigen Lexikon der Unfallopfer stecken. Im Fall von Romanen dagegen habe ich eigentlich noch nie so richtig begreifen können, wie sich jemand aus freien Stücken der Marter unterziehen kann, auf 300 oder 500 Seiten einen Stoff auszubreiten, der sich genauso gut, wenn nicht besser, auf drei oder fünf Seiten darstellen läßt.
Bei dem Unfall wurde durch den Absturz eines Privatflug-zeuges in einem Waldgebiet fast eine ganze Familie ausgelöscht. Einzige Überlebende war eine Siebenjährige, die sich, nur gering verletzt, bei Schnee und Dunkelheit zu einem Haus am Rande des nächsten Dorfes durchschlägt. Der alte Mann, der ihr auf ihr Klingeln hin öffnet, macht verständlicherweise große Augen, als sie ihre Geschichte vorträgt und um Beistand bittet. Dann greift er, wie denn auch anders, zum Telefon, um den Notruf zu betätigen.
Nennen wir den Alten Dietmar und sagen wir, er ist erst 67. Ehemals Bibliothekar in der nahen Kleinstadt, genoß er zwar durchaus Anerkennung, gleichwohl galt er als Sonderling, der nicht umsonst allein in diesem Häuschen am Dorfrand lebte. Besuch bekam er selten. Meine Idee war es nun, Dietmar wäre schon bald nach den ersten gestammelten Worten des bibbernden und zerkratzten Mädchens von dem Gedanken beschlichen worden: vielleicht wäre es besser, den Unfall nicht zu melden. Weil es schöner wäre, dieses Mädchen im Haus zu behalten.
Man sieht schon, die Sache ist heikel. Schließlich könnten wachsame Roman-LeserInnen ihrerseits von dem Gedanken beschlichen werden, dieser Alte habe sich glatt in das arme Mädchen verliebt – ja mehr noch, er sei ein Unhold, der plötzlich seine große Chance gewittert habe. In der Tat wird ihm das später eine jüngere Verwandte so ähnlich an den Kopf werfen. Sie könne sich schon denken, warum er sich so aufopferungsvoll um das Mädchen kümmere. »Du fütterst sie fett und machst sie schön hörig, und spätestens in fünf Jahren liegt sie jeden Abend in deinem Bett, so stellst du dir das doch vor, habe ich recht!?«
Die Wahrheit ist, Dietmar wird beim Anblick des hilfsbedürftigen kleinen Geschöpfes schmerzlich an das Bedauern erinnert, das er schon seit einigen Jahren immer stärker empfindet. Er hatte nie eine Familie gegründet. Von Geselligkeiten hielt er sich fern, soweit sie ihm der Dienst nicht aufzwang. Als Ruheständler kümmerte er sich ausschließlich um sein Brennholz, seinen Garten und seine Tiere, zu denen ein paar Ziegen zählten. Aber wirklich zufrieden war er in seiner Idylle nicht. Jenes Bedauern galt seiner Einsamkeit. Es galt dem Umstand, von keinem Menschen wirklich benötigt zu werden. Er hatte seine MitbürgerInnen mit guten Büchern versorgt, das schon, doch im Grunde hatte er an der Gesellschaft vorbeigelebt. Sie würde ihm keine Träne nachweinen, nicht eine.
Dietmar hat hohe moralische Grundsätze. Der Gedanke, das Mädchen gleichsam gefangenzunehmen und dann zu quälen, liegt ihm somit völlig fern. Vielmehr steigen binnen weniger Minuten die Bilder eines glücklichen und fröhlichen Kleinfamilienlebens wie jene bunten Wasserspiele vor ihm auf, die es in seiner Jugend im Kino Kaskade jedesmal vor dem noch geschlossenen Vorhang gab. Schon fragt er sich – und fragt auch Mareike, die in einer dicken Strickjacke von ihm am Ofen sitzt und einen von seinen selbstgepflückten Äpfeln verputzt: »Hat dich jemand gesehen?« Und schon vergewissert er sich, indem er zum Wald nickt: »Alle sind sie tot, sagst du? Bist du wirklich sicher?«
Bald wirbeln auch die Erwägungen durch seinen Kopf, ob und wie sich die Sache am Ende wirklich deichseln ließe. Vielleicht kann er Mareike als Enkelin ausgeben, die plötzlich Waise geworden ist. Wobei sie natürlich gar nicht mehr Mareike heißen dürfte. Mareike ist tödlich verunglückt; sie liegt verkohlt im Wald, die Ärmste, wie die anderen. Um die Eltern ist es vielleicht nicht unbedingt schade. Ihr Erzeuger war Autohändler, und Flieger, natürlich. Die Mutter war ein Regenfaß; sie »laberte« und »nörgelte« in einem fort. Während das jüngste Töchter-chen merkwürdigerweise eher einem Molch gleicht. Was sie da andeutet, klingt jedenfalls stark danach, sie hat sich zu Hause gar nicht wohl gefühlt. Und so purzeln und trudeln die Erwägungen und Gespräche dahin, bis Mareike, die gar nicht mehr so heißen darf, unversehens am Ofen eingeschlafen ist, und in der Ferne sind noch immer keine Sirenen zu hören – was Wunder, Dietmar hat keine Sirenen bestellt.
Schon hier dröhnt ein Pferdefuß: woher will Dietmar, der kein Arzt ist, wissen, daß sich Mareike bei dem Absturz keine bedrohlichen inneren Verletzungen zugezogen hat? Oder kein »Trauma«? Müßte er sie nicht ins Krankenhaus bringen, zur Untersuchung? Wenn sie ihm wirklich so sehr am Herzen läge, wie er sich einbildet?
Gewiß, ein Romanautor ist nicht unbedingt auf den Kopf gefallen, er versteht es zu improvisieren. So könnte Dietmar, der Bibliothekar, früher Arzt oder wenigstens Sanitäter gewesen sein. Oder er könnte mit einer Ärztin befreundet sein, die er einweiht und um Hilfe bittet. Durch die Einweihungen erhöhen sich die Fehlerquellen, was wiederum der Erhöhung der Spannung dient. Vielleicht muß Dietmar auch den Leiter der Grundschule oder die Leiterin der Meldebehörde einweihen, die womöglich ebenfalls mit ihm befreundet sind. Denn woher soll er eine Geburtsurkunde des Mädchens nehmen, das nicht mehr Mareike heißen darf? Vielleicht fälschen, durch Bestechung. Jedenfalls muß die ganze Geschichte: Dietmar Koop lebt neuerdings nicht mehr allein in seinem Ziegenbau – dies alles muß ganz legal, ganz offen und zu allseitigem Wohlgefallen verlaufen. Spätestens nach einem Jahr darf man sich im Dorf und in der Kleinstadt schon gar nicht mehr vorstellen können, Dietmar sei jemals ohne Enkelin gewesen, die bei ihm lebt.
Diese Enkelin, die umgetaufte, ist wahrscheinlich – bevor man sich noch mit dem ganzen Behördenkram befaßt – der größte Pferdefuß. Gut, sie erwählt sich vielleicht den Namen Zora (nach einer Schnapsidee von Dietmar), doch steht nicht zu befürchten, sie verplappert sich bereits am nächsten Tag gegen 11, wenn die Postbotin kommt und die neue Bewohnerin nach ihrem Namen fragt? Kann sich eine Siebenjährige, die gerade ihr Elternhaus verloren hat, so radikal umstellen und verstellen? Und das dann dauerhaft? Ja, mehr noch: will sie das überhaupt? Auf Dauer jedenfalls? Im ersten Moment ist es vielleicht eine glänzende Idee für sie, eine verlockende Aussicht, ein tolles Spiel. Aber im Alltag? Wenn sie ihre Vergangenheit konsequent zu verleugnen hat, damit die Geschichte nicht auffliegt?
Hier winkt der nächste Pferdfuß: in Mareike-Zoras Vergangenheit. Sind ihre Eltern, Geschwister, Onkel und Tanten so »blöd« und »ätzend« (gewesen), wie das Mädchen sie Dietmar gegenüber in den ersten Gesprächen hinstellt – wer garantiert Dietmar dann, der Apfel sei ausnahmsweise weit weg vom Stamm gefallen? Da dürfte er ein langes Gesicht machen, wenn sie sich als nicht minder blöd und ätzend herausstellt, die kleine, blonde Ziege. Und wenn schon von der Schule die Rede war, bei der ja Dietmar sie anzumelden hat: Selbst wenn es ihm gelingen sollte, einen wohltuend unbürgerlichen und unzeitgemäßen Einfluß auf sie auszuüben – in ihrer Schule steht sie damit Eins gegen Hundert. Die lieben MitschülerInnen werden sie verlachen und hänseln, weil sie zu Hause Treppen putzen muß, aber keinen blassen Schimmer davon hat, wie man in akrobatischer Manier über das touchpad eines smartphones wischt. Sie werden ihr das Ziegenmelken austreiben, bis sie keine größere Begierde mehr kennt, als täglich sieben Stunden am Internet zu hängen. In Dietmars beschaulichem Häuschen wird der Konsumterror ausbrechen. Dietmar wird Faust zitieren (»die Geister, die ich rief …«) und sich aufhängen.
Der Romanautor müßte stark genug sein, um sich von diesen und tausend anderen Bedenken, Widrigkeiten und Gefahren nicht abschrecken zu lassen. Anders gesagt, Dietmar und Mareike-Zora hätten das drohende strapazierenden Wechselbad und die Attacken des Feindes eben durchzustehen. So lange es geht. Weil sie sich lieben. Aber sehr lange wird es vermutlich nicht gehen können. Ich erwähnte bereits die zeternde Verwandte Dietmars, die in ihm einen Sittenstrolch argwöhnt. Die ganze Nachbarschaft der beiden DorfrändlerInnen stellt vermutlich auch keinen makellos geschlossenen Zuckerguß dar. Ich erwähnte die Behörden, wobei ich von der Polizei (die selbstverständlich auch in der Asche der Absturzstelle herumstocherte) noch gar nicht gesprochen habe.
Kurz und schlecht, eines nicht fernen Tages werden sich Dietmar und sein widerrechtlich beschaffter Liebling voneinander trennen müssen. Mareike-Zoras Leben wird dadurch vermutlich auf immer verpfuscht sein. Und wer ist schuld daran? Dietmar. Als die Polizisten oder SozialarbeiterInnen Mareike-Zora abholen, ist er vielleicht 69. Was er nun tun wird, dürfte nach meinem »Faust«-
Satz ziemlich klar sein. Es wird heftig werden. Er kann es zum Beispiel besser machen als Bergbauer Rocco, der den Fabrikanten Korten oder die Gemeindearbeiter, die auf Kortens Betreiben hin Roccos altem Walnußbaum mit der Motorsäge zu Leibe rücken, nicht erschießt.* Er kann sich natürlich auch selber umbringen. Am besten, wir entscheiden uns für beides zusammen. So könnte Dietmar, falls Polizei auftaucht, den ersten Beamten erschießen, und gleich darauf erschießt ihn seinerseits der zweite Beamte, am besten eine Frau.
* Walther Kauer: Spätholz, Zürich 1976
Nachtrag. Ich kenne bis zur Stunde keinen Kommentar zu dieser, wie ich nach wie vor finde, reizvollen Geschichte. Aber das bin ich gewohnt; es betrifft möglicherweise über 90 Prozent meines Gesamtwerkes, Lieder eingeschlossen.
Die Klippe mit dem Elternhaus könnte man umschiffen, indem man das überlebende Mädchen zu einer fernen Verwandten oder einem erst unlängst adoptierten Waisenkind macht. Dann müßte »Zora« nicht unbedingt ähnlich verdorben wie die abgestürzten Eltern sein. In der Tat war bei dem Original-Fall (2015, in meinem LdF unter >Gutzler, Piper) eine Kusine unter den fünf Toten. Gleichwohl bedürfte es natürlich einer Vorgeschichte Zoras, die ihr Verhalten und ihre Erinnerungen beeinflußt.
Die Schwierigkeiten mit den Papieren, Schulpflicht eingeschlossen, könnte man sicherlich recht leicht durch eine Rückverlegung der Handlungszeit ausräumen, etwa in einen US-Landstrich um 1870. Nur hätte man in diesem Fall keinen Flugzeugabsturz mehr. Andere Unglücke in einer abgelegenen Gegend mit nur einer überlebenden Person sind zwar durchaus denkbar (Eisenbahn, Post-kutsche, Prärieschoner), doch nur das Privatflugzeug stellt den Familienvater und Autohändler als Vollidioten hin, dem das Mädchen nun gottseidank entronnen ist. Ähn-liches gilt für die Hänseleien der Touchpadler. Anderer-seits käme der Landstrich um 1870 einer Lynchjustiz gegen den als Kinderdieb aufgeflogenen Alten entgegen.
Die Aufgabe, ein poesievolles Bild des ungleichen Paares zu malen, ist ohne Zweifel verlockend. Sie ist aber auch schwierig und vermutlich schon wiederholt bewältigt worden. Auf solche Arbeiten fehlen mir noch Hinweise. Warum schreibt mir so gut wie kein Mensch? Im ganzen hatte ich in 10 Blog-Jahren rund ein Dutzend Leserbriefe. Das ist ja wohl kläglich. Dabei kamen in den jüngsten zwei Jahren gar keine mehr. Sollte das Virus vor allem die Mutdrüsen in der Herzgegend befallen haben? Vor 2020 hatte ich rund acht enge Freunde. Jetzt sind es noch vier. Ein Verlust um 50 Prozent, der gerade nur die Arschlöcher entfernt – den müßte man Deutschland einmal wünschen.
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