Sonntag, 17. Juli 2022
London / Neunkirchen (Saar)
Um 2005


Mein einziger Besuch auf der britischen Insel fand in einem Winter der frühen 70er Jahre statt. Damals streikten dort ein paar tausend Bergarbeiter. Da ich mit der Tochter eines echten Ruhrpottkumpels zusammen-lebte, lag es nahe, mich zu schicken. Außerdem war ich nicht irgendwer. Ich kam als hoher Gesandter der KPD/ML (Rote Fahne), an die sich heute vermutlich noch nicht einmal der Verfassungsschutz erinnern kann. Ich sollte den streikenden miners eine Grußadresse des westdeutschen Proletariats überbringen und unmittelbare Eindrücke von ihrem großartigen Kampf sammeln, die dann meine Genossen Gerd G. und Richard C. für die Parteipresse aufbereiten würden. Sie waren die Polit- und Agitprop-Leiter des Vereins, während ich, kaum über 20, das Amt des Org-Leiters bekleidete.

Auf der besagten Reise begleitete mich eine Studentin von der Ruhr-Uni, die ich einmal Irene nennen will. Sie reiste als Dolmetscherin mit, da ich nur mangelhaft Englisch sprach. Irene baute damals das Archiv unseres »Zentralbüros« auf. Damit stand sie natürlich weit unter mir. Ob ich ihr aber deshalb in einem fort mit mürrischer Rechthaberei zusetzte? Einer, der sich im Einklang mit seiner hohen Position befunden hätte, hätte das wohl kaum nötig gehabt. Vielleicht spürte ich bereits meine Überforderung, die ich mir erst Monate später eingestand. Meister im Phrasendreschen und Bleistiftanspitzen zu sein, prädestiniert einen Jüngling noch nicht unbedingt zum Org-Leiter. Vielleicht setzte mir Irene durch ihre doppelte Eigenschaft zu, Intelektuelle und Frau zu sein. Dabei war sie nur ehrenamtlich im ZB tätig! Mehr als drei Berufsrevolutionäre konnte sich unsere Partei nicht leisten.

Man glaube aber nicht, wir hätten auf Kosten des Fußvolks – das ja ohnehin nur schütter vorhanden war – in Saus und Braus gelebt wie später die meisten rotgrünen Galionsfiguren. Die Askese durchzieht mein Leben. In einem heruntergekommenen Geschäftshaus, das unweit des Bochumer Hauptbahnhofs in der Bongardstraße lag, hatten wir eine düstere Zimmerflucht im 1. Stock angemietet. Unser Mobiliar stammte vom Sperrmüll. Das einzige, was in diesen schäbigen Zimmern und dem tunnelartigen Flur leuchtete, waren die Stalin- und Maoplakate. An so etwas wie feste Gehälter oder auch nur Taschengelder war im ZB nicht zu denken. Herrschte in der Parteikasse absolute Ebbe, pflegte ich meine Mittagspause einzuleiten, indem ich mir zwei oder drei Exemplare der jüngsten Ausgabe unseres Theoretischen Organs Bolschewik unter den Arm klemmte. Hatte ich auf der Bongard- oder Kortumstraße glücklich eins davon an den Mann oder an eine barmherzige Rentnerin gebracht, war ich um stolze vier Mark reicher. Die setzte ich in der Imbißstube am Nordring in Bratwurst und Kartoffelsalat um.

In London wurden wir von Genossen unserer »Bruderpartei« verköstigt und beherbergt. Sie begleiteten mich und Irene auch beim Ausflug in den Raum Birmingham/Manchester, wo die miners ihre picketing-lines (Streikpostenketten) aufgezogen hatten. Natürlich handelte es sich um einen Kampf für mehr Möpse und sichere Arbeitsplätze – wenn schon Ausbeutung, dann bitte mit Garantie. Von Umsturz wollten die Jungs nichts wissen. Das focht freilich die Bruderpartei und den Genossen Vorsitzenden Reg Birch nicht an. Sie lasen das Umsturzbegehren der Massen kurzerhand aus den Kaffeetassen der fröstelnden Streikposten.

Wie sich versteht, nutzte ich meine Anwesenheit in London dazu, ein »herzliches« Gespräch mit dem Genossen Vorsitzenden zu führen. Irene übersetzte. Aber was? Daran kann ich mich so wenig erinnern wie an die Erscheinung und das Auftreten Reg Birchs, der damals zwischen 50 und 60 gewesen sein dürfte. Noch nicht einmal das Zimmer, in dem wir die üblichen Phrasen austauschten, bekomme ich in meinen Blick. Vielleicht ist das kein Wunder, denn wie mir erheblich später dämmerte, geht es unter Fanatikern nie um das Anwesende. Ob Birch noch lebt? Ob er möglicherweise darüber staunt, daß sich am 15. Februar 2003 rund anderthalb Millionen Menschen in London gegen den Krieg versammelten, ohne so etwas wie eine Parteilinie vorweisen zu können? Blairs blood – not oil!

Im Gegensatz zum Ort des herzlichen Meinungsaus-tausches zwischen den Genossen Reg Birch und Henner Stahl – so mein zärtlicher Deckname – steht mir das winzige Hinterhofzimmer, in dem Irene und ich nächtigen durften oder mußten, noch sehr genau vor Augen. Das einzige Fenster war quergeteilt. Um es zu öffnen, mußte man die obere Hälfte über die untere schieben. Es war ewig nicht geputzt worden. Das einzige Bett – immerhin 1,40 breit – war von gestapelten Kartons umzingelt, die Unmengen von Zeitungen, Flugblättern, Broschüren dergleichen enthielten. Von der Zimmerdecke baumelte eine 40-Watt-Glühbirne. Mühsam entkleidet, rollten wir uns jeweils in eine muffige Wolldecke ein und kehrten einander die Rücken zu. Von all den Strapazen unserer grotesken Mission erschöpft, fielen wir auch alsbald in Schlaf.

Doch man hat es womöglich schon geahnt: mitten in der Nacht erwachten wir – gleichsam wie auf ein Kommando. Vermutlich war das Kommando aus unseren zuckenden Fortpflanzungsmuskeln gekommen. Wir fielen übereinander her. Es war ein durchaus eindrucksvolles Erlebnis – zumal wir am nächsten Morgen und auch später noch so taten, als habe es nie stattgefunden. Man kennt ja Leute, die verfahren mit ihrer gesamten linksradikalen Vergangenheit so.



Neunkirchen/Saar

Nach tagelangen inquisitorischen »Gesprächen« ließ sich Genosse Gustav endlich erweichen: ich durfte absteigen. Als Nachfolger auf meinem Org-Leiter-Posten in der Bochumer Zentrale hatte ich ihn selber vorgeschlagen. Bis zur Erlaubnis, mich in einer Ortsgruppe zu verkriechen, ging sein Verständnis allerdings nicht. Es ging nur bis zu einem Landesverband – den es noch gar nicht gab. Ich sollte ihn im Saargebiet gemeinsam mit meiner Gefährtin C. erst aufbauen.

Völklingen klang von der Karte her vielversprechend, doch unser einziger »Sympathisant« wohnte in Neunkirchen. So erhoben wir Erich Honeckers Geburtsort – der immerhin ein Hüttenwerk mit einigen tausend Beschäftigten aufwies – zähneknirschend zum Sitz unseres »Landesverband« genannten Phantoms. Es war 1972. Es war irrwitzig. Während die anderen »Landesverbände« längst von der Krise des deutschen Maoismus geschüttelt wurden, stand ich in der Senke vorm Hüttenwerkstor, um den lieben Kollegen unsere Phrasen aufzunötigen. Ich hätte genauso gut meinen schweren, abgewetzten, marineblauen Wollmantel dort hinstellen können. Der Kragen war wegen des Aprilwetters ohnehin hochgeschlagen, und durch den Schweiß meiner klassenkämpferischen Jahre stand dieser bolschewistisch wirkende Mantel von selbst.

Die Kreisstadt zog sich einen Hang hinauf, wo der Sympathisant eine Wohnung aufgetrieben hatte, die er unterdessen gemeinsam mit C. renovierte. Sie wußten noch nicht, daß sie nur für eine Mietdauer von zwei Monaten schufteten. Dagegen dämmerte mir am Hüttenwerkstor, zukünftig hätte ich wenig Grund, einem Zeugen Jehovas hochnäsig zu begegnen. Ich verspürte das Vorbeireden an den Leuten zunehmend als Folter, während ich mir vor Krupp oder Hoesch im Ruhrgebiet eher heldenhaft vorgekommen war. Ich besaß keine Neigung zum Masochismus. Gewiß wurde die Qual durch unsere Fremdheit in Neunkirchen verstärkt. Zu den wenigen Attraktionen der 44.000-EinwohnerInnen-Stadt zählte eine der steilsten Straßenbahnstrecken der Welt – wir hatten weder Augen noch Geld noch Verwendung für sie. Wen sollten wir besuchen? Wir hockten in unserer spärlich möbilierten Wohnung wie zusammengepappte Fünf- und Zweimarkstücke, die nirgends als Zahlungs-mittel anerkannt wurden. Eigentlich ließ die gepflasterte enge Seitenstraße oberhalb des winzigen Stadtparks an proletarischer Romantik nichts zu wünschen übrig. Wir wohnten in einem traditionellen Arbeiterviertel. Aber was sollten wir da?

C.s Aufbegehren galt noch nicht der männlichen Bevormundung und meines noch nicht der Erweckungs- und Heilsidee. Doch kursierten in der »Partei« schon die Ketzerbriefe, die mir unter anderem mein alter Mentor Richard zukommen ließ. Ich meine schon, sie gemeinsam mit C. erörtert zu haben, denn sie war ein geschulter Kader. Doch mein eigentliches Problem behielt ich für mich. Ich war eben ein geschulter Mann. Mein Problem war nicht zu wissen, was ich eigentlich wollte. Mochte ich in dem erwähnten Stadtpark auch 7.000 Kreise ziehen, die Unschlüssigkeit blieb. Ich bin geborener Grübler. Die Gedankengängerei zieht sich durch mein Leben. Das Grübeln hat so wenig Ufer wie die Natur Grenzen hat. Das einzig wirksame Mittel gegen Unschlüssigkeit wurde mir erst spät von Alain nahegebracht: Beschränkung. Man muß sich für irgendetwas entscheiden, ohne den zahlreichen anderen Etwasen, die dadurch geopfert werden, mit zäher Reue verhaftet zu bleiben.

Beneidet mich Zander zuweilen um mein buntes Leben, zeigt er Sinn für die Dimension dieses von ihm geleisteten Opfers. Für die Kehrseite auch? Wer ohne bestimmte Sache, Laufbahn, Stellung auszukommen sucht, hat wenig Halt. Er kann sich keine Geltung verschaffen, denn nur Eintagsfliegen erwerben sie über Nacht. Andererseits sind etwa Forschungsleiter oder Hochschulprofessoren Gefangene ihrer Stellung. Wer da was wählt, liegt am Naturell. Glücklich ist keiner. Rosa Vandeek, in der Kreisstadt Pflegemutter der vom Dorf stammenden schulpflichtigen Gebrüder March (F. G. Jünger): »Ein sorgloses Leben wünschen wir uns alle. Aber wenn es da ist, reicht es nicht hin.«
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