Sonntag, 17. Juli 2022
Roussturz
Um 2002


Bekanntlich hat sich Frau Nathalie Rous in den letzten Jahren sehr erfolgreich als Schriftstellerin versucht. Unter dem aufrüttelnden Titel Herzklopfen hat sie nun auch den ersten Band ihrer Memoiren veröffentlicht. Den Sprung vom »Flittchen zur Künstlerin« (es sind ihre eigenen Worte) habe sie ohne Zweifel ihrem so beherzten wie geistesgegenwärtigen Eingreifen auf offener Bühne des Gießener Stadttheaters zu verdanken, wodurch sie schlagartig bundesweit bekannt wurde. Damals gab man in Gießen unter anderem Semmbolds Komödie Amor, spielst du Dart?, an der Frau Rous zunächst noch eher als Künstlermodell beteiligt war. Durch jenes Eingreifen habe sie Semmbolds Stück überhaupt erst zu einem Renner gemacht. Nebenbei habe sie dadurch bewirkt, »daß der ziemlich talent- und farblose Dramaturg, der das Stück eingerichtet hatte, erst eine Spielzeit später in die Wüste geschickt wurde«. Zu jener Zeit war Heissler-Remy Intendant in Gießen. Der Dramaturg war ich.

Vielleicht baute Frau Rous beim Memoirenschreiben darauf, ich sei inzwischen völlig in der Versenkung ver-schwunden, was auch beinahe zutrifft. Ich lebe seit Jahren bei meiner Tochter auf der dänischen Insel Bornholm. In erster Linie betreibe ich Studien über den Schriftsteller Hans Henny Jahnn, die nur wenigen Spezialisten etwas bedeuten, daneben unterrichte ich die Kinder meiner Tochter. Die deutschsprachige Presse verfolge ich so gut wie nicht. Es ist mir allerdings bekannt, daß es in derselben an mehr oder weniger freizügigen Abbildungen, die Frau Rous zeigen, keinen Mangel hat. So dürfte die Bemerkung ausreichen, sie habe damals – während unserer gemeinsamen Zeit in Gießen – ausnahmslos jedem Mann den Kopf verdreht, der nicht völlig blind und hormonlos gewesen sei.

Was mich betrifft, konnte ich anfänglich durchaus als Glückspilz gelten, weil mir Frau Rous ihre Gunst gewährte. Daß sie vor allem auf eine recht ungewöhnliche Statisten-rolle in Semmbolds Komödie scharf war, entging meinen aufgewühlten Sinnen. Ich verschaffte ihr diese Rolle. Frau Rous, damals Mitte 20, hielt sich einerseits als Statistin, andererseits als Aktmodell für Künstler oder Fotografen über Wasser. Ihr Traum war es, in der Modebranche zum Top-Model aufzusteigen; da sie aber nur 1,67 maß, fand sie keinen Eingang in die Modebranche. So rechnete sie sich aus, durch Semmbolds Stück vielleicht ins Fernsehen zu kommen, was ja dann auch der Fall war.

Der ursprünglich zweite, später jedoch dritte Akt dieser Komödie, die heute so gut wie nicht mehr aufgeführt wird, spielt im Salon eines betuchten Kunsthändlers. Den Hintergrund geben, zwischen verschiedenen Palmen und Farnen, jede Menge Skulpturen oder Plastiken ab. Im Vordergrund eine flauschige Sitzgruppe aus Sesseln und Sofas. Der Zuschauer weiß, in den nächsten Sekunden wird die Salontür von dem wutentbrannten Kunsthändler aufgerissen. Doch seine wunderschöne, elfenhafte Gemahlin, auf dem Sofa sitzend, zieht seelenruhig an ihrer Zigarette. Der Kunsthändler stürmt herein. »Wo ist das Luder!?« Er blickt wild umher, kann die Geliebte seiner Gemahlin aber nicht entdecken. Das ist eigentlich unmöglich. Der Salon besitzt nur eine Tür, die Fenster-läden sind geschlossen, große Schränke gibt es nicht. Hat sich das Luder womöglich im Steinway-Flügel verkro-chen? Der Kunsthändler heult auf, weil ihm der Deckel des Flügels nach dem Hochreißen, nun herabfallend, die Hand quetscht. »Da, sieh nur, was du angerichtet hast!« wankt er wimmernd, sich die gequetschte Hand haltend, zum Sofa. Seine Frau ist untröstlich. Sie bedeckt seine leidende Hand mit Küssen, besitzt aber auch die Geistesgegenwart, ihn sogleich ins Badezimmer zu lotsen, wo sie die Hand zu verbinden gedenke. Der Salon ist leer.

Semmbolds durchaus hübscher und wirkungsvoller Einfall war es, »das Luder« – in Gießen von Frau Nathalie Rous gegeben – auf einem vorübergehend verwaisten Sockel zwischen all den anderen Figuren, die sich im dämmrigen Hintergrund des Salons um die Palmen und Farne scharen, zu postieren. Die bedrohte, dem Gatten nicht persönlich bekannte Geliebte ist kurzerhand zu einer der nackten Figuren erstarrt. Jetzt hüpft sie trotz ihrer Üppigkeit anmutig und behende vom Sockel, klaubt ihre Siebensachen unter dem Sofa hervor und entschwindet durch die Salontür. Jeder Zuschauer, der das Stück nicht kannte, war im ersten Moment verdutzt; dann stimmte er in das allgemeine Gelächter ein.

Leider krankte Semmbolds Komödie daran, diesen Höhepunkt nicht mehr überbieten zu können. Weder ich noch Heissler-Remy hatten ein Rezept gegen die abfallende Spannung gefunden. Im dritten Akt strandete das Stück auf der Veranda der Villa, wo der Kunsthändler, der auch literarische Ambitionen besaß, mit seinem Privatsekretär in der heraufziehenden Abenddämmerung eine ziemlich ausufernde Debatte veranstaltet, die schließlich stumm verebbt. Mit seiner letzten Geste streift sich der Kunsthändler seine goldene Armbanduhr vom Handgelenk, um sie müde und voller Überdruß in den Gartenteich zu werfen. Daraufhin verlöschen die Scheinwerfer; der Vorhang fällt. Diese etwas läppische Anspielung auf Anton Tschechow mußte natürlich am Publikum vorbeigehen. Das zweite Stück Semmbolds, den die Presse nach dem verblüffenden Erfolg von Fröber wohnt im Keller als »Naturtalent« oder »Genie« gefeiert hatte, drohte ein Schlag ins Wasser zu werden.

Frau Rous besitzt nun die Unverfrorenheit, die Sache in ihren Memoiren so hinzustellen, als habe sie um die Schwäche des Stückes gewußt und durch ihr Eingreifen nichts anderes im Sinn gehabt, als den drohenden Mißerfolg abzuwenden. Ich schildere den Tatbestand, den Frau Rous einer für sie sonst untypischen Raffung unterworfen hat. Bei der vierten oder fünften Aufführung des Stückes fiel im zweiten Akt ein nach hinten geflüsterter Satz, der nicht im Rollenbuch stand. Die auf dem Sofa knieende junge Gattin knutscht gerade die gequetschte Hand des wimmernden Kunsthändlers. In Gießen wurde er von Henning Anslow gegeben, damals um 50, Schwarm sämtlicher Volkshochschuldozentinnen zwischen Marburg und Limburg an der Lahn. Über seinen Handrücken und die Sofalehne hinweg zischt Anette Röchler, die die junge Gattin zu mimen hatte, in Richtung von Frau Rous, die immer noch unbeweglich in Vertretung irgendeiner Bronze auf ihrem Sockel steht: »Schade, daß es nicht der Pimmel war!«

Plötzlich geht ein Aufschrei durchs Theater. Anslow selber entgeht nur knapp einem Herzstillstand, wie er später beteuerte. Aus den Palmen und Farnen hat sich der dralle weibliche Akt mit einem mächtigen Satz auf die im Sofa knieende Schmäherin gestürzt! Dabei bricht das Sofa zusammen. Der Vorhang fällt, die Sanitäter rennen.

Keine anderthalb Wochen später war das Stück wieder angesetzt – freilich in erheblich veränderter Form. Wie durch ein Wunder waren die beiden jungen Schauspieler-innen bei dem »bedauerlichen Unglücksfall«, den wir der Presse aufbanden, nicht nennenswert verletzt worden. Nebenbei warb eine gewitzte Polstermöbelfabrik aus Wetzlar wenig später für ihre Sofas mit der Versicherung, im Gegensatz zu herkömmlichen Produkten seien sie durch »Sexbomben der Marke Semmbold« nicht zu verwüsten. Plötzlich hatte ich die Chance gesehen, Semmbolds Stück kurzerhand umzubauen. Wie sich versteht, war Frau Rous nur zu gern bereit, ihren Knalleffekt über Wochen und Monate hinweg zu wiederholen. Wir engagierten einen Stuntman, der ihr die Kunst des Fallens beibrachte. Semmbold eilte aus Zürich herbei. Es fiel ihm bereits bei unserem ersten Gespräch wie Schuppen von den Augen: mit nur geringfügigen Änderungen ließ sich der dritte Akt vor den zweiten ziehen!

Durch das düstere, unheilschwangere Terrassengespräch zwischen dem Kunsthändler und seinem Sekretär gewann das Stück vor seinem neuen, nun abschließenden Höhepunkt ungemein an Brisanz. Selbstverständlich strichen wir die goldene Uhr. Stattdessen brachten wir erst jetzt die Geliebte der Gattin ins Spiel, die im neuen Schlußakt des Stückes mit ihrer Überraschung aufwarten würde. Dadurch erhielt die Melancholie des Kunsthändlers einen angenehmen tragikkomischen Zug. Ein Zusammen-prall unterschiedlicher sexueller Orientierungen im Verein mit den üblichen Mißverständnissen – und die erhabensten Lebensentwürfe werden buchstäblich über den Haufen geworfen. Dabei war es nicht schwer, für den Sturz oder Sprung von Frau Rous ein begreifliches Motiv zu finden: die lesbische Freundin kann es nicht ertragen, daß ihre Geliebte die in Unterleibsnähe schlackernde Hand des Kunsthändlers leckt. So springt sie; das Sofa bricht; der Vorhang fällt. Und das Stück wird zum Hit der Saison.

Zudem traten durch unseren Umbau die persönlichen Affären der Beteiligten auf beinahe wundersame Weise in den Hintergrund. Alle waren von der Chance begeistert, das Stück zu retten. Wir arbeiteten Tag und Nacht. Ich selber hatte mich ohnehin schon damit abgefunden, die Gunst von Frau Rous an den von mir nach wie vor geschätzten Henning Anslow verloren zu haben. Darauf hatte sich der gezischte Satz von Anette Röchler bezogen. Sie verehrte Anslow abgöttisch, war aber wohl in ihrer gläsernen Zierlichkeit nicht das Richtige für ihn. Diese Zurückweisung, gepaart mit Anette Röchlers Eifersucht, führte schließlich zu jenem haßerfüllten, schlagfertigen Satz, der unsrer Souffleuse natürlich nicht entgangen war. Die Mitglieder des Ensembles wurden von Heissler-Remy einzeln darauf eingeschworen, dieser Satz sei nie gefallen. Es liegt auf der Hand, warum ich den Schwur mit dieser Veröffentlichung gebrochen habe.
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