Samstag, 16. Juli 2022
Ein Unglück kommt selten allein
Geschrieben um 2015


Orth verfluchte seinen Mantel, dessen kaputten Reißver-schluß, auch den Winter; dabei warf er den Mantel mit angewidertem Gesicht hinter sich aufs Sofa. Eigentlich hätte er auch noch seine Mutter verfluchen können, denn sie war an allem schuld. Er starrte durch sein großes Wohnzimmerfenster über die verschneiten Felder. Immerhin hatte sich der Sturm gelegt. Trotzdem mißfiel ihm der Anblick der unbewegten Bäume und Sträucher. Denn durch die Schneedecke wurde die Nacht fast zum Tag. Seiner Ansicht nach hatte es nachts dunkel zu sein, zumal am Stadtrand. Es war schon schlimm genug, daß er über einen knappen Kilometer hinweg rund ums Jahr die verdammten gelben Lampen der Straße, die zur Autobahn führte, vor der Nase hatte. Noch einmal drei Kilometer weiter hatte das vermeintliche Kleiderbündel am Kanalgitter gehangen. Damit hatte es mittags begonnen. Eine falsche belanglose Entscheidung – und der ganze Tag war im Eimer. Er hätte den Hinweg genauso gut über die Dörfer nehmen können. Im Ergebnis nahm er auch den Rückweg nicht über sie, hatten ihm die Bullen doch angeboten, ihn mitsamt seinem Fahrrad in ihrem Polizeibus mitzunehmen. Er hatte sich törichterweise darauf eingelassen. Um ein Haar hätten sie ihn wieder mit auf die Wache genommen! Jetzt sah er einem Strafbefehl wegen Irreführung der Polizei entgegen. Es war zum Kotzen.

Orth tastete hinter sich, fischte den Mantel wieder vom Sofa und versuchte sich noch einmal an der Reparatur des Reißverschlusses. Er nahm eine kleine Spitzzange zur Hilfe, die stets in seiner Schreibtischschublade lag. Nicht, daß er seiner Mutter vorgeworfen hätte, ihn geboren zu haben. Sie war geschlagen genug gewesen, denn ein betrunkener Besatzungssoldat hatte sie vergewaltigt. Die Frucht davon war Orth. Hätte sie ihn aber unbedingt in diese verdammten Leibchen stecken müssen? Wie sich versteht, besaßen diese Leibchen keine Reißverschlüsse. Sie wurden vielmehr zugeknöpft. Er hatte als Säugling an einem üblen Ausschlag gelitten, der furchtbar juckte. So lag er stets eingesalbt und verbunden und eben in diese zugeknöpften Leibchen gesteckt in seinem Bett. Und da er noch nicht imstande war, die Leibchen aufzuknöpfen, puhlte oder riß er die Knöpfe ab, um sich kratzen zu können. Davon war seine Mutter natürlich wenig erbaut. In den zähen Kämpfen, die sie und ihr Sprößling austrugen, wurde dessen Abneigung gegen Knöpfe dummerweise so unüberwindlich, daß er noch von seinem tadellos gebügelten Konfirmandenhemd und von seinem Oberprimaner-Fischgrätenjackett die Knöpfe abzwirbelte. Jeder Schwur, diese Unsitte abzulegen, griff ins Leere. Orth machte es unwillkürlich, wie etwa andere stundenlang die Mine ihres Kugelschreibers ein- und ausknipsen oder ihre Unterlippe im rechten Mundwinkel kauen. Schließlich nutzte er die zunehmende Freizügigkeit in den mitteleuropäischen Sitten dazu aus, sich aller Knöpfe ein für allemal zu entledigen, indem er nur noch Kleider kaufte, die apriorie knopflos waren. Das trug ihm dann natürlich den Ärger mit klemmenden oder entgleisten Reißverschlüssen ein, ließ es doch sein Geschmacksempfinden nicht zu, ausschließlich in Hemden und Pullovern herumzulaufen, die man sich wie Säcke einfach über den Kopf stülpte. Eine Zeitlang war er bei jeder neuen Geliebten gespannt gewesen, wann oder ob ihr überhaupt Orths Knopflosigkeit auffallen würde. Er hatte eine Statistik geführt. Mit der Zeit erübrigte sich diese Statistik, weil die Geliebten ausblieben. Jetzt war er schon so tief gesunken, eine Nähmaschine zu besitzen und die Reißverschlüsse notfalls eigenhändig auszutauschen. Er feuerte die Spitzzange wieder in die Schublade – es hatte keinen Zweck. Sollte der Mantel auf einen besseren Tag warten!

Orth warf den Mantel im Vorübergehen durch die Schlafzimmertür auf die abgedeckte Nähmaschine und verschwand in seiner Küche, um Tee aufzubrühen. Leider war ihm nicht entgangen, daß die Nähmaschine, von ihrer Plastikhülle einmal abgesehen, bereits von reparatur-bedürftigen Kleidungsstücken überhäuft war. Der Anblick war ähnlich gräßlich wie der Anblick jenes vermeintlichen Kleiderbündels am Kanalgitter. Zur Kreisstadt lief ein schmaler Kanal, der sie früher mit Trinkwasser aus dem nahen Gebirge versorgt hatte. Da er dabei eine Schlucht zu überwinden hatte, durch die später die Eisenbahnstrecke führte, hatte man an dieser Stelle einen Aquädukt gebaut. Für Fußgänger und Radfahrer diente dieses durchaus hübsche Bauwerk aus Kalk- und Backsteinen auch als Brücke. An seinem Ende, wo das Wasser über eine Stufe in den etwas tiefer gelegenen Kanal fiel, war ein Gitter gegen Treibgut angebracht worden. Orth hatte das Bündel zunächst für eine Altkleiderspende an Mutter Natur gehalten. Für ihn war es die naheliegendste Erklärung, weil die Gräben der schmalen Zufahrtstraße zu seinem Haus ebenfalls regelmäßig mit Müllsäcken, ausgedienten Fernsehgeräten oder verschimmelten Matratzen gespickt waren. Doch bei näherem Hinsehen wäre er vor Schreck beinahe von der Kanalkante ins ungefähr 70 Zentimeter tiefe und vermutlich ziemlich kalte Wasser gekippt. Blonde Haare, die teilweise unter einer Mütze hervorquollen, und ein Stiefel mit hohen Absätzen deuteten darauf hin, am Gitter habe sich ein menschlicher Körper verfangen. Das Gesicht war kaum zu sehen, doch er nahm an, es sei ein weiblicher Körper. Da er keine Stange entdeckte, mit der er die Frau hätte antippen können, rief er sie vorsichtshalber an. Aus ihrem Schweigen schloß er auf eine Leiche. Er verließ den Aquädukt aus dem doppelten Grund wahrlich fluchtartig, weil ihn grauste und er die Polizei zu alarmieren gedachte. Ein Handy besaß er nicht. Eigentlich hatte er seinen Radausflug mit einem Besuch in der Bücherei der Kreisstadt verbinden wollen, doch durch diesen Zufallsfund war ihm die Lust zum Stöbern in Büchern vergangen. So nahm er den Vorschlag der Bullen an, sie kurzerhand zu begleiten. Am Äquadukt stiegen sie aus. Er ging voran und deutete zum Gitter. Doch dann hielt er jäh inne – die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf: das dunkle Bündel, das er den beiden Polizisten zeigen wollte, war verschwunden. Mehr als ein paar Äste und Plastikfetzen hatte das Gitter nicht zu bieten.

Orth ließ sich zum Teetrinken in einem Sessel nieder und starrte erneut in die helle Nacht. Ob er morgen noch einmal hinausfahren sollte? Vielleicht hätte er doch das Wäldchen durchsuchen sollen, das an die Bahnschlucht grenzte. Auf die Gleise und in die Büsche hatte er natürlich geguckt, nachdem die Bullen wieder abgezogen waren: wohlversehen mit seinen Aussagen und seinen Personalien und vermutlich mit dem starken Verdacht, einen Vollidioten befördert zu haben. Aber es war ja auch wirklich Unfug. Wie sollte eine Wasserleiche von der Brücke hüpfen oder ins Wäldchen schlüpfen können? Hatte sie aber einer rausgefischt, wäre es bequemer und klüger gewesen, sie statt sie ins Wäldchen zu zerren kurzerhand auf den nächsten Güterzug zu werfen, damit sie ihm möglichst weit aus dem Gesichtskreis gerate. Es war verrückt.

Für Augenblicke hatte er sogar selber an seinem Wahr-nehmungsvermögen gezweifelt. Er hatte nach Gründen gesucht, die womöglich seine Gehirnregion L veranlaßt hatten, die Gehirnregionen A bis K und M bis Z zu narren. Sich wichtig machen? Das nahmen selbstverständlich die Bullen an. Aber Orth hatte es im Gegenteil stets verpönt, irgendwelches Aufsehen zu erregen. Sonst wäre er auch Schriftsteller geworden, nicht Übersetzer. In drei Tagen hatte er einen Schmarren abzuliefern, der Suvi hieß – im Finnischen der Sommer, dazu ein weiblicher Vorname. Um das zerschlagene Stallfenster mußte er sich allerdings ebenfalls kümmern, sonst froren seinen Hühnern die Eier am Arsch fest. Also ließ er die Durchsuchung des Wäldchens tunlichst ins Wasser fallen – in das vom Kanal.

Orth wechselte an seinen Schreibtisch und stellte den Computer an. Für zwei Seiten Suvi war er wohl noch wach genug.

&

Orth stand in der früheren Waschküche, die ihm teils als Brennstofflager diente, an der Werkbank und klopfte mit einem ausgedienten Stecheisen und dem Holzhammer den alten Kitt aus dem Falz des Hühnerstallfensters. Er hatte es ausgehängt. Durchs Fenster der Waschküche waren sowohl der Hühnerstall wie der hohe Pflaumenbaum zu sehen, der dem Sturm die Waffe zum Zertrümmern des Stallfensters geliefert hatte. Der Stamm des Baumes war deutlich dicker als Orths Oberschenkel, doch beim Sturm hatte er in Kopfhöhe mindestens eine Schwankungsbreite von anderthalb Metern gehabt. Orth hatte es mit eigenen Augen gesehen und wunderte sich noch immer, daß sein einziger Pflaumenbaum nicht entwurzelt worden war. Die Natur konnte ungeheuerliche Kräfte entfesseln. Er entsann sich eines Zeitungsberichts aus asiatischen Landstrichen, die neulich von einer gewaltigen Sturmflut verheert worden waren. Danach hatte der Tsunami eine 80 Tonnen schwere Diesellok von ihrem Gleis gerissen und 30 Meter weiter im Bambus wieder abgesetzt. Der heimische Sturm begnügte sich damit, einen Ast vom Pflaumenbaum zu reißen.

Orth maß den gesäuberten Falz aus und schnitt die Scheibe zurecht. Er hatte stets ein paar gebrauchte Fensterscheiben auf Vorrat im Haus. Anfangs hatten ihm »ein paar« nicht gereicht, verschlang doch sein erster Versuch, Glas zu schneiden, bald ein Dutzend gebrauchter Fensterscheiben. Er hatte dann etwas verspätet im Internet nachgelesen, was man dabei alles falsch machen konnte. Es fing bereits mit der Arbeitsfläche an. Lagen Körnchen auf dem Tisch, sprang die Scheibe selbstverständlich, sobald man die Führungsschiene für den Glasschneider andrückte. Zockelte man mit diesem wie mit einem Kindertretroller über den gezogenen Strich auf dem Glas, sprang die Scheibe erst beim Versuch, sie an der Schnittlinie zu brechen. Der Schnitt hatte kräftig, gleichmäßig und zügig zu erfolgen. Versäumte man es, die Schnittlinie vor dem Brechen von unten her mit dem Kopf des Glasschneiders anzuklopfen, sprang die Scheibe ebenfalls auf uner-wünschte Weise. Durch dieses Beklopfen wurde die »Spannung« aus der Schnittlinie genommen. Es ging dann plötzlich sicht- und spürbar wie ein Ruck durch den angeritzten schwarzen Filzstiftstrich – oder auch, als eile der Schieber eines Reißverschlusses hindurch. Dieser Ruck setzte die Trennlinie frei. Zuweilen war es sogar überflüssig, den schmäleren Teil der angeschnittenen Scheibe noch sanft nach unten zu drücken – dann fiel er von allein.

Orth öffnete die Kittdose und grub einen Klumpen heraus, den es zu fingerdicken Würsten zu verarbeiten galt. Mit ihnen wurde der eingeölte Fensterfalz ringsum durch ein Bett aus Kitt ausgekleidet. Während er die Würste mit der flachen Hand auf der Werkbank rollte, fiel ein Schatten auf diese, sodaß Orth aufblickte. Draußen standen zwei fremde Männer. Da auch sie ihn wahrgenommen hatten, nickten sie ihm zu. Der Anführer bedeutete ihm gleichzeitig den Wunsch, mit Orth zu sprechen. Orth zuckte die Achseln, machte das Fenster auf und erkundigte sich nicht eben mit Begeisterung, was es denn gebe.

Der Anführer war ein Rothaariger, wie trotz seiner Pudel-mütze zu erkennen war. Er trug auch den entsprechenden Kinnbart. Er hielt Orth einen grünen Ausweis vor die Nase und sagte:

»Kriminalpolizei … Ich nehme an, Sie sind Herr Orth? Der Name steht zwar an Ihrem Briefkasten, aber wir haben eine Klingel vermißt. Dürfen wir einen Augenblick hereinkommen? Nur ein paar Routinefragen, Herr Orth.«

Da Orth heute besser aufgelegt war, schloß er das Fenster mit dem gleichen Achselzucken wieder und machte den beiden Kriminalen die Waschküchentür auf. Der Jüngere trug sogar Hut. Er zog ihn aber nicht. Sie behielten wohlweislich auch ihre Mäntel an, denn die Waschküche wurde nur über den Wohnungsflur ein wenig mitgeheizt. Orth selber hatte sich in einen alten Bademantel gehüllt. Er ging wieder zur Werkbank und begann damit, die Kittwürste in den Falz des Fensterflügels zu drücken.

Die beiden Besucher traten interessiert hinzu – von zwei Seiten aus. Plötzlich sagte der Wortführer mit der Pudel-mütze etwas unvermittelt:

»Vielleicht wäre es für alle Beteiligten bequemer und auch wärmer, wenn Sie gleich zugäben, die junge Frau getötet zu haben, Herr Orth ..?«

Orth richtete sich auf, ließ das Kittmesser sinken und sah entgeistert von einem zum anderen. »Sind Sie verrückt ..?«

Dann ging ihm auf, daß beide Männer ihre Hände in den Manteltaschen hatten. Vielleicht war das nicht nur der Kühle im Raum geschuldet. Er schnippte das allerdings ziemlich stumpfe Kittmesser vorsichtshalber mit den Fingern beiseite.

Die Männer verständigten sich durch einen für Orth unmerklichen Blick über die Hinfälligkeit des Überrumpe-lungsmanövers. Nachdem der Rotbart in aller Seelenruhe Kittmesser, Stecheisen und Holzhammer eingesammelt und außer Orths Reichweite auf einem Wandbord hinter-legt hatte, zog er seine Hände aus den Manteltaschen, um mit verschränkten Armen und bequem an die Werkbank gelehnt festzustellen:

»Gut, Herr Orth. Wer hier verrückt ist, wird sich noch zeigen. Ich habe zunächst eine gute Nachricht für Sie. Die Frauenleiche, die Sie angeblich am Kanalgitter gesehen haben, gibt es tatsächlich. Sie hatte sich kanalabwärts in den Wurzeln einer Erle verfangen. Ihre Beschreibung traf auf sie zu. Jetzt liegt sie im rechtsmedizinischen Institut, wo sie bereits untersucht worden ist. Danach wurde die blonde Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit erst kurz vor Ihrem Besuch auf der Polizeiwache getötet, Herr Orth. Bestenfalls zwei Stunden vorher, früher nicht – behauptet der Gerichtsmediziner. Was sagen Sie dazu, Herr Orth?«

Orth empfand die Nachricht in der Tat als positiv und schöpfte wieder Oberwasser. »Was soll ich dazu sagen? Verraten Sie mir lieber, wie die Leiche über das Gitter geklettert ist!«

»Ja, das wüßten wir auch gern – falls sie je am Gitter lag. Vielleicht ist sie mit Ihrer Hilfe über das Gitter geklettert, Herr Orth?«

Zu dieser Frage zwinkerte der Rotbart verschmitzt. Durch sein rundes Gesicht und die Pudelmütze wirkte er, als könne er in seiner Eigenschaft als Kassierer des Kanin-chenzüchtervereins mit Müh und Not lesen und schreiben.

Orth winkte unwirsch ab. »Wie ist sie überhaupt zu Tode gekommen?«

»Erdrosselt«, erwiderte Rotbart. Er strich über die Kante der Werkbank und ergänzte: »Da muß der Täter schon handwerklich geübt gewesen sein. Oder ein leidenschaft-licher Brennholzmacher!«

Er nickte auf Orths Hackklotz und den Hügel aus Holzscheiten, der sich dahinter erhob. Da Rotbart recht beleibt war, lag Orth die spitze Bemerkung auf der Zunge, etwas mehr körperliche Ertüchtigung könne sicherlich auch bestimmten Kriminalbeamten nicht schaden. Er verkniff sie sich jedoch und lobte lediglich die messer-scharfen Schlüsse seiner beiden Besucher.

»Ja, sicher, Herr Orth!«

Orth wandte sich nach links, denn nun griff der Mann mit dem Hut ein. Im Gegensatz zu Rotbart hatte er ein spitzes, wieselartiges und blasses Gesicht. Er lächelte und fuhr fort:

»Sind Sie beispielsweise mit Ihrem Zahnarzt Doktor Wangenheim zufrieden?«

»Woher wissen Sie denn ..?«

»Na sehen Sie«, unterbrach ihn Wiesel mit einer scharfen Handbewegung, »wir sind darauf geeicht, Tatsachen festzustellen und sie auf eine zuweilen verblüffende Weise miteinander zu verknüpfen. Habe ich recht, Günter?«

Rotbart nickte und nahm den Ball auf: »Nach unseren Informationen, Herr Orth, gab es gewissen Ärger beim Doktor.«

»Gewissen Ärger beim Doktor?« äffte Orth ihn teils ungläubig, teils höhnisch nach. »Meinen Sie Zahnschmerzen?«

Er fuhr wieder herum, weil Wiesel antwortete. »Sie hatten neulich einen Streit mit der Zahnarzthelferin Jennifer Marbach!« sagte Wiesel scharf.

Orth hob die Brauen, überlegte und gluckste schließlich. »Sie haben recht! Sie war gekränkt, weil ich ihre verdammte Praxisgebühr verwünscht hatte! Sie wollte mir schon wieder 10 Euro abknöpfen. Sie verwahrte sich gegen die Unterstellung, es sei ihre Praxisgebühr. Darauf erwiderte ich, immerhin sei sie der Goldhamster, der sie mir aus der Tasche ziehe – diesen Akt könne sie ja durchaus verweigern. Irgendwo müsse der Protest gegen die Ausplünderung der Kassenpatienten schließlich mal anfangen. Naja, den Goldhamster nahm sie mir auch übel, obwohl sie erwiesenermaßen blond ist.«

Er blickte beinahe triumphierend zwischen seinen Widersachern hin und her – als bilde er sich ein, die beiden durch seine hübsche Geschichte belustigt zu haben. Doch Rotbart erwiderte bedrohlich leise:

»Sie war blond, Herr Orth; sie war es ..!«

»Was soll das heißen?«

Rotbart sah ihn lauernd an. »Es soll heißen, daß wir die Leiche, die aus dem Kanal gefischt worden ist, als Jennifer Marbach identifiziert haben, Herr Orth …«

&

Orth zog Handschuhe an, bevor er die auf Maß geschnittene Scheibe ergriff und in das Kittbett legte. Wie ein Ganove, dachte er grimmig. Er hatte die Handschuhe bereits beim Zuschneiden benutzt. Wurde die Scheibe mit flachen Händen sanft in ihr Bett »geschaukelt«, bestand immer noch Verletzungsgefahr – zumindest wenn der Glaser wie ein Ochse drückte, weil ihn gerade zwei Bullen belästigt hatten. Er hatte sie kurzerhand hinausgeworfen. Schicken Sie mir eine Vorladung oder kommen Sie mit einem Haftbefehl wieder, hatte er gesagt, während er die Waschküchentür aufstieß und hinausnickte. Sie waren wortlos abgezogen, wenn auch mit dem überlegenen Lächeln derer, die wissen, sie sitzen am längeren Hebel.

Da die Scheibe etwas knapper als der Falz geschnitten werden muß, quoll beim Einbetten Kitt durch die Fugen nach oben. Orth sah es mit Befriedigung, denn so sollte es sein. Schnitt man die Scheibe zu groß, hatte man für einen weiteren Grund gesorgt, daß sie früher oder später sprang, weil sie klemmte und zu viel Spannung besaß. Orth zog die Handschuhe wieder aus, um die winzigen, scharfen Stahldreiecke zu setzen, durch welche die Scheibe – anstelle von Nägeln oder Stiften – an mehreren Punkten festgehalten wurde. Das pflegte er mit einem ausgedienten, sehr flach gehaltenen Schlitzschraubenzieher und behutsamen Holzhammerschlägen zu bewerkstelligen. Auch dabei bekam ein Trottel die Scheibe natürlich noch zu Bruch. Wenn nicht, würden die flachen Geschosse gleich im Kitt verschwinden. Zu diesem Zweck rollte er jetzt weitere Kittwürste, mit denen es den Winkel zwischen Scheibe und senkrechter Falzkante auszufüllen galt. Es war sein Ehrgeiz, die dieses Mal nur bleistiftdünnen Würste möglichst lang geraten zu lassen. Wie lang auch immer, dachte er, jemanden erdrosseln kannst du mit diesen Schnüren nicht. Der Tod der jungen Zahnarzthelferin war ohne Zweifel furchtbar, obwohl sie ihm nicht sonderlich sympathisch gewesen war. Er fand sie zu spitz. Nicht im sexuellen Sinne, sondern zu zickig. Allerdings war er selber auch kein Kittmesser. Mit einem Kittmesser konnte sich niemand in den Finger schneiden. Es lief zwar lanzen-förmig zu, wirkte aber eher wie ein Falzbein. Schräg zum Falz mit gewissem Andruck über den eingelegten Kitt geführt, preßte es diesen in den Winkel und trennte auch gleich noch die Überstände des Kitts ab, die sich dann mit der Lanzenspitze bequem und ohne Rückstände von der Scheibe abnehmen ließen. Wer geübt war, brauchte dafür bei jeder Scheibenkante nur einen Zug hin und einen Zug zurück. Dann bildete der Kitt eine ebenmäßige Böschung.

Während er diese Züge ausführte, sagte er sich, Jennifer Marbach mochte vielleicht gerade deshalb von einem Geliebten oder einem Unhold erdrosselt worden sein, weil sie so zickig war. Damit setzte er freilich ein Sexualdelikt und eine männliche Täterschaft voraus. Von einem Mißbrauch war nicht die Rede gewesen. Aber darauf kam es natürlich nicht mehr an, wenn sie sowieso tot war. Furchtbar, furchtbar, murmelte er, während das Messer durch die olivgraue, fleischartige Kittmasse glitt. War sie in dem Wäldchen, im Auto oder schon in irgendeinem Haus erdrosselt worden? Er konnte es nicht wissen. Da ihr Orth keinen sehr bequem zu stellenden Täter geliefert hatte, würde die Kripo kaum umhin kommen, nach entspre-chenden Spuren zu suchen. Vielleicht hatte der Mörder die Leiche gerade erst in den Kanal geworfen, als sich Orth auf seinem Fahrrad näherte. Der Mörder verbarg sich im Wald, beobachtete Orth, bekam es mit der Angst zu tun, als dieser plötzlich davonjagte, und fischte die von Orth entdeckte Leiche wieder heraus, um sie dieses Mal jenseits des Gitters in den Kanal zu werfen. Das mochte er in der etwas törichten Hoffnung tun, sie werde auf diese Art weit von ihm und seinem Wohnort weggeschwemmt. Aber war es dann nicht noch törichter von ihm gewesen, die Leiche unweit des Gitters ins Wasser zu kippen? Nun, das konnte sich auch anders abgespielt haben. Vielleicht kannte er den Aquädukt gar nicht und warf die Leiche vor der Kanalbie-gung vom Wäldchen aus ins Wasser. Es gab dort durchaus Feldwege, die bei der gefrorenen, dünnen Schneedecke befahrbar waren. Eine andere Frage war, warum sie der Mörder überhaupt im Kanal und nicht ganz woanders verschwinden ließ. Da gab es sicherlich Alternativen, die ihm mehr Schutz vor Entdeckung boten. Somit sprach dieser Gesichtspunkt doch wieder für eine spontane Tat. Geparktes Liebesnest am Wäldchen – Streit – Totschlag – Panik des Täters. Orth warf das Kittmesser beiseite und zog die Handschuhe wieder an. Er zieht die Leiche in seiner Panik zum in Sichtweite gelegenen Kanal und wälzt sie hinein, sagte sich Orth. Kaum will er starten und flüchten, erblickt er mein Fahrrad. Also verhält er sich ruhig und beobachtet mich. Der Rest ist bekannt.

Orth nahm den fertigen Fensterflügel auf und ging im Bademantel hinaus, um ihn wieder einzuhängen. Die Handschuhe trug er jetzt nur als Kälteschutz. Zwar würde der Kitt bei diesem Wetter nicht gut anziehen, aber die Alternative wäre gewesen, den Fensterflügel bis zum Frühjahr mit einer Sperrholzplatte zu vernageln. Das hatte er den Hühnern zuliebe verworfen, die sich jetzt gackernd um seine Schuhe im Stroh drängten, weil sie sich irgendwelche Leckerbissen von ihm erhofften. Er hängte den Flügel ein.

Dann verriegelte er das Fenster und nickte befriedigt. Er wollte sich umdrehen, doch sein Blick blieb am Pflaumen-baum hängen. Er musterte ihn nachdenklich. Man könnte schon wieder schwermütig werden, dachte er. Für die Hühner und ihn selber stand der Sommer vor der Tür; der Baum würde sich in wenigen Wochen mit dichtgesäten kleinen, weißen Blüten schmücken. Doch für Jennifer Marbach würde es keinen Sommer mehr geben.
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