Dienstag, 12. Juli 2022
Döhnerichs Durchbruch
ziegen, 20:31h
2002 erschienen in der Jungen Welt
Offenbar frönt mein neuer Zahnarzt dem Billardsport. Ich blättere in der jüngsten Ausgabe des Billardmagazins Anstoß, während ich im Wartezimmer sitze. Ich staune nicht schlecht, springt mir doch unversehens der Name Elmar Döhnerich aus der Überschrift einer kurzen Notiz ins Auge. Von diesem Mann habe ich seit knapp 20 Jahren nichts mehr gehört. Wie aus der Notiz zu schließen ist, betrieb Döhnerich in Valetta – der Hauptstadt der Mittel-meerinsel Malta – einen in Fachkreisen hochangesehenen Snookersalon. Asse wie Sean Lanigan, Mario Geudens, Stephen Hendry sollen sich dort ein Stelldichein gegeben haben. Jetzt sei der Inhaber des DD – so der Name des bekannten Salons – einem von ihm nicht verschuldeten Verkehrsunfall zum Opfer gefallen. »Elmar Döhnerich war erst 52, als er in einem Krankenhaus von Valetta seinen schweren Verletzungen erlag. Das Snookerspiel hat einen großen Fan und Förderer verloren.«
Es wäre womöglich reizvoll zu erfahren, wie ein völlig mittelloser Berliner Bildhauer zu einem renommierten Billardsalon auf Malta kommt. Leider kann ich Ihnen dazu nichts sagen. Dafür dürfte ich der einzige Augenzeuge von Döhnerichs Durchbruch gewesen sein, der Ende August 1983 erfolgte – und ich fühle mich jetzt verpflichtet, daran zu erinnern.
Der Durchbruch brachte dem 33jährigen nur vorübergehend das Schmunzeln so mancher Westberliner ZeitungsleserInnen ein. Es hätte auch anders kommen können. Was fehlte, waren ein alarmierter Jochen Gerz, ein einflußreicher Kunstwissenschaftler, ein beherzter Leiter des Landesamtes für Denkmalschutz. Schon wäre die bräunliche »Kanzel«, die der flüchtige Bildhauer auf einem Hinterhof an der Kreuzberger Heimstraße hinterlassen hatte, zu einem großartigen Kunstwerk erklärt und damit zum Ziel unzähliger Wallfahrten gemacht worden. So aber wurde sie nach wenigen Tagen spurlos beseitigt.
Döhnerich hauste in einem heruntergekommenen Back-steinhäuschen, das einmal als Schusterwerkstatt gedient hatte. Es klebte an der rückwärtigen Hinterhofmauer, die zugleich die Mauer des benachbarten Friedhofs war. Es überragte die Mauer mit einem niedrigen Oberstock, dessen Dach in den Hinterhof abfiel. Im Erdgeschoß hatte Döhnerich seine Werkstatt eingerichtet. Überall standen die kleinen Stahlplastiken herum, die er aus Schrotteilen zusammenschweißte. Als Musiker konnte ich ihre Qualität kaum beurteilen. Ich kann nur sagen, offenbar wollte sie niemand haben. Döhnerich war ein hagerer Kerl mit der hellen, sommersprossigen Haut der Rothaarigen. Und obwohl er Abend für Abend einige Krüge Bier in sich hinein zu schütten schien, setzte er nicht an. Ich glaube, er war ziemlich verzweifelt.
Ich wohnte damals im Vorderhaus des betreffenden Grundstücks. Als Querflötist in einem Kammerorchester erteilte ich auch Privatunterricht auf diesem Instrument, sodaß ich mich tagsüber öfter in meiner Wohnung aufhielt. Abends liebte ich es, über die Friedhöfe zu spazieren, die sich längs der Bergmannstraße bis zum Südstern ziehen. Dabei nickte ich so manches Mal Döhnerich zu, der hinter seinem Friedhofsfensterchen hockte und zuweilen mit dem Bierkrug in der Hand zurückgrüßte. Er hatte das kleine Fenster eigenhändig in der Rückwand seines Oberstocks eingesetzt. Dort hatte er sich eingenistet, um die Miete für eine Wohnung zu sparen. Nebenbei konnte er von seinem Friedhofsfensterchen aus beinahe Friedrich Schleier-macher und Ludwig Tieck auf die Köpfe spucken. Tieck war durch einen hochglanzpolierten Klotz aus rötlichem Marmor präsent.
Da Döhnerich verschwand, ohne ein Interview zu geben, kann ich nur mutmaßen, wie er seine Abende verbrachte. Besuch bekam er nach meinen Beobachtungen nie. Vielleicht lauschte der Klausner nicht ohne Neid dem keineswegs entsagungsvollen Gassenhauer der Mönchsgrasmücken, während er sein Flaschenbier trank. Für sein verrostetes Fahrrad hatte er einen kleinen Anhänger, worin regelmäßig ein Kasten Bier durch die bucklig gepflasterte Heimstraße schepperte. Er benutzte den Anhänger auch, um Brennholz von Abbruchhäusern herbeizuschaffen – und zuletzt wohl auch für den Transport einiger Säcke Zement.
Als seine Werkstattfenster es noch zuließen, hatte ich einmal die Leiter gesehen, die in einer Falluke des Oberstocks lehnte. Mit der Zeit ließ Döhnerich seine Werkstattfenster erblinden. Er benötigte kein Tageslicht zum arbeiten mehr; schließlich drohten ihn seine Stahlplastiken bereits zu erschlagen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er des Abends öfter von seinem Tisch am Fenster zur Luke wankte, um sich dann in der Werkstatt unten einen Weg durch die Schrottberge zum Abort zu bahnen. Auf dem Rückweg griff er vermutlich in den Kasten Bier, den er auf dem Estrich der Werkstatt kühlhielt. Wieder an seinem Friedhofsfensterchen, grübelte er womöglich über irgendeine grandiose Verwandlung seiner selbst oder doch wenigstens der unter ihm gelegenen Schrotthalde nach.
Bekanntlich verdanken sich geniale Lösungen nicht selten den schnödesten Anstößen. In Döhnerichs Fall war es die Kündigung. Wie später in den Zeitungen zu lesen war, hatte sich ein größerer Mietrückstand angestaut. Im Verein mit der »Zweckentfremdung von Gewerberäumen« und einem illegalen Fensterdurchbruch genügte dies für die unnachsichtige Aufforderung, zum 1. September das Feld zu räumen. Ich könnte mir denken, insbesondere der Vorwurf hinsichtlich des Fensterchens wurmte Döhnerich. So mochte er sich plötzlich der Tatsache entsonnen haben, daß Deutschlands Hauptstadt überwiegend auf märkischem Sand gebaut ist. Da war der Gedankensprung zu den erwähnten Zementsäcken nicht mehr weit.
Der skandalöse Abriß seines Werkes hatte den einen Vorteil, Döhnerichs Vorgehensweise nachvollziehbar zu machen. Zum Auftakt brach er im Estrich der Werkstatt ein etwa brunnengroßes Loch auf. Das sah ich sogar mit eigenen Augen, wenn auch nur schemenhaft. Döhnerich hatte seit vielen Monaten nicht mehr zum Schweißbrenner oder nach Hammer und Meißel gegriffen; das ließ mich stutzen. Als Freizeitornithologe besitze ich ein ziemlich gutes Fernglas. Meine Küche und mein Arbeitszimmer gingen auf unseren Hinterhof. Ich richtete mein Fernglas auf die arg verschmutzten Fensterscheiben von Döhnerichs Werkstatt und verfolgte, wie er offensichtlich auf den Boden einhieb – vermutlich mit einer Spitzhacke. Später schien er für immer längere Zeit in dem Loch zu verschwinden. Da dämmerte mir, was sich der ziemlich niedergeschlagene und völlig abgebrannte Bildhauer vorgenommen hatte.
Das brunnengroße Loch lag genau auf der verlängerten Linie einer Ligusterhecke, die unterhalb von Döhnerichs Oberstockfensterchen im rechten Winkel von der Mauer in den Friedhof abging. Nach rund 15 Metern endete die Hecke an einem der vielen Grabhäuschen oder Mausoleen, die für die alten Friedhöfe der Hauptstadt kennzeichnend sind. Wer in der Kaiserzeit betucht genug dazu war, ließ sich aus Sandstein, Granit oder gar Marmor ein solches Mausoleum errichten. Nicht selten war es mit allerlei Säulen und Erzengeln bewehrt. Die Grabstätte als Festung, dieser Gesichtspunkt dürfte Döhnerich kaum entgangen sein. Nachdem er den senkrechten Förderschacht ausgehoben hatte, trieb er einen Querstollen in den Friedhof. Er unterwand die Hinterhofmauer und orientierte sich beim weiteren Vortrieb am Wurzelwerk der Ligusterhecke. Der Bildhauer verwandelte sich in einen Bergmann. Döhnerich baute seinen Querstollen fachmännisch mit den vielen Balken und Bohlen aus, die er als Brennholz für den kommenden Winter gehortet hatte. Schubkarre, eine kleine Tonne, ein Zugseil plus Rolle waren seine Gerätschaften zum Fördern. Den Aushub – ein sand- und geröllhaltiges Erdreich – rührte er mittels Zement und Wasser zu einer Art Beton an, den er – wie sich versteht, von außen nach innen, nämlich von den Wänden weg – in seinem Häuschen aufschichtete. Die Sommerhitze sorgte für eine rasche Abbindung der Mixtur.
So wuchsen in seinem Häuschen die Wälle: im Oberstock auf die Luke, in der Werkstatt aufs Förderloch zu. Natürlich war es ihm nach einigen Wochen nicht mehr möglich, die Werkstattür freizuhalten; vermutlich hatte er sich rechtzeitig mit Vorräten eingedeckt. Da er um das Förderloch herum bis zuletzt Platz zum Anmischen brauchte, füllte er vorher schon den Oberstock aus, womit ihm nichts anderes übrigblieb, als in seinen Querstollen umzuziehen. Dort schlief und aß Döhnerich. An der Stollendecke brachte er in gewissen Abständen Kellerlampen an. Mit dem Wasserhahn in der Werkstatt verband ihn bis zuletzt ein Schlauch, den er ersatzweise mit einem Drehverschluß versehen hatte. Wie sich versteht, hatte er – neben seinem Mobiliar, dem Abort und vor allem seinen unseligen Stahlplastiken – auch ein Belüftungsrohr mit einbetoniert, sodaß er nicht zu ersticken drohte.
Wie mag ihm als Maulwurf, der sich den Rückweg verbaut hatte, zumute gewesen sein? Wir können es nicht wissen. Ich selbst hätte ohne Zweifel höllische Ängste ausgestanden, drohe ich doch bereits bei klemmenden Toilettentüren in Panik zu geraten, von hin und wieder unumgänglichen Fahrstuhlfahrten ganz zu schweigen. Möglicherweise hatte sich Döhnerich diese Roßkur verordnet, um neben dem Ehrgeiz auch gleich die Todesangst hinter sich zu lassen. Denn was sonst treibt den ehrgeizigen Künstler an? Im übrigen wurde Döhnerichs Querstollen in überraschend säuberlichem Zustand vorgefunden. Ich schließe daraus, daß er seine Notdurft über dem Bottich verrichtete, in dem er die Mixtur für seine »Kanzel« anmischte.
Verschiedene Faktoren zusammengenommen, war ich mir nahezu sicher, Döhnerich werde, wenn überhaupt, an einem der letzten Augusttage wieder auf Erden auftauchen – selbstverständlich in der Dunkelheit. So gewann meine Anteilnahme an Döhnerichs herkulischer Unternehmung ebenfalls einen märtyrerhaften Zug. Etliche Nächte durchwachte ich am Fenster meines Arbeitszimmers hockend, das Fernglas im Schoß und die Ohren gespitzt. Glücklicherweise hatte unser Kammerorchester Sommerferien, sonst wäre ich bei den Proben selbst über einer Partitur von Jean Francaix eingenickt. Immerhin lernte ich auf diese Weise die dämonischen Rufe einiger Friedhofseulen kennen, die ich mir im Kerzenschein notierte. Ich schreibe hin und wieder Filmmusik. Vielleicht hatte Döhnerich seinen Vortrieb zuletzt verzögert; vielleicht hatte er auch nur das Glück des Tüchtigen. Jedenfalls schreckte ich genau in der Nacht vom 31. August auf den 1. September von meiner Fensterbank auf. Eisen klang auf Stein!
Jetzt hat er die Grundmauer des Mausoleums erreicht, sagte ich mir alarmiert, während ich nach meinem Fernglas tastete. Vermutlich löst er einen der Sand-steinquader aus der Grundmauer heraus. Er zwängt sich durch das Loch – abgemagert genug war er ja – und rappelt sich in der Gruft des Mausoleums wieder auf. Er wirft seinen Rucksack über und tastet sich auf der Grufttreppe nach oben. In der Tat quietschten bald darauf die verrosteten Angeln der Mausoleumstür. Da stand er! Die Arme gereckt, bekundete er dem Mond, die Erde habe Döhnerichs Feuerschopf und Döhnerichs Sommersprossen wieder. Schon rief er sich zur Besinnung. Er duckte sich unter der Hängeesche durch und schlich zwischen stum-men Grabmalen Richtung U-Bahnhof Südstern davon …
Kaum hatte ich drei oder vier Stunden geschlafen, scheuchten mich schon wieder Geräusche auf, die nach Schwerarbeit klangen. Ein Herr von der Wohnungsbau-gesellschaft machte sich mit einer Brechstange am Schloß von Döhnerichs Werkstattür zu schaffen. Ich kannte den Bürokraten flüchtig. Ich nehme an, sein Zweitschlüssel hatte nicht gegriffen, wodurch es ihm zunächst unmöglich war zu überprüfen, ob Döhnerich ordnungsgemäß ausgefegt hatte. Dann krachte und splitterte es, und das Schloß – einen Teil der Türbretter mit sich reißend – fiel in den Hof.
Der Mann starrte entgeistert auf die bräunliche, körnige Masse, die hinter den abgesprengten Brettern zum Vorschein kam. Er gab sich einen Ruck, um mit Hilfe der Brechstange auf die Masse einzustechen – nur ein paar Krumen sprangen ab. Er fluchte und zertrümmerte zunächst das linke, gleich darauf das rechte Werkstatt-fenster. In beiden ergab sich derselbe Befund: Sie waren wie zubetoniert.
»Eine Leiter!« schrie der Mann und fuchtelte zum Dach. »So schafft mir doch eine Leiter her!« Die Gören, die ihn längst umringt hatten, flitzten davon und erschienen mit der Stehleiter der Aufwartefrau wieder. Der Mann erklomm sie und hebelte mit seiner Brechstange an den vordersten Dachziegeln herum, als gelte es, einen größeren Schmiergeldbetrag auszugraben. Die Ziegel flogen zum Teil in den Hof. Während sich die Fenster der Seitenflügel mit grinsenden Zuschauern füllten, stach er auch von oben mit der Brechstange auf die bräunliche Masse ein – es war kein Durchkommen. Darauf sah er wild um sich. Schließ-lich winkte er unwirsch ab, stieg halbwegs gemessen wieder in den Hof und schnauzte die Gören an: »Pfoten weg von dem Scheißding! Das ist ein Fall für die Polizei!«
An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken. Während ich mein Frühstück bereitete, sagte ich mir: Wenn sie ihn schnappen, kommt auch noch schwere Sachbeschädigung, Diebstahl städtischen Erdreichs, Störung der Totenruhe hinzu … Beim Essen fiel mir der Schriftsteller Erhart Kästner ein, der so gerne über Bildende Künstler meditierte. Ich nehme an, er hätte Döhnerich ohne zu zögern in seine Lerchenschule von 1964 aufgenommen. »Viel gewonnen, wenn man lebt, ohne zu Ehren zu kommen.« Denn davon war ich überzeugt, daß sich Döhnerich seinen Weg ins Ruhmlose gebahnt hatte. Dabei war er genial genug, um die Leere, aus der er kam, mit den Verheißungen zu stopfen, die man vor ihm aufgetürmt hatte. Da mußte er durch.
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Offenbar frönt mein neuer Zahnarzt dem Billardsport. Ich blättere in der jüngsten Ausgabe des Billardmagazins Anstoß, während ich im Wartezimmer sitze. Ich staune nicht schlecht, springt mir doch unversehens der Name Elmar Döhnerich aus der Überschrift einer kurzen Notiz ins Auge. Von diesem Mann habe ich seit knapp 20 Jahren nichts mehr gehört. Wie aus der Notiz zu schließen ist, betrieb Döhnerich in Valetta – der Hauptstadt der Mittel-meerinsel Malta – einen in Fachkreisen hochangesehenen Snookersalon. Asse wie Sean Lanigan, Mario Geudens, Stephen Hendry sollen sich dort ein Stelldichein gegeben haben. Jetzt sei der Inhaber des DD – so der Name des bekannten Salons – einem von ihm nicht verschuldeten Verkehrsunfall zum Opfer gefallen. »Elmar Döhnerich war erst 52, als er in einem Krankenhaus von Valetta seinen schweren Verletzungen erlag. Das Snookerspiel hat einen großen Fan und Förderer verloren.«
Es wäre womöglich reizvoll zu erfahren, wie ein völlig mittelloser Berliner Bildhauer zu einem renommierten Billardsalon auf Malta kommt. Leider kann ich Ihnen dazu nichts sagen. Dafür dürfte ich der einzige Augenzeuge von Döhnerichs Durchbruch gewesen sein, der Ende August 1983 erfolgte – und ich fühle mich jetzt verpflichtet, daran zu erinnern.
Der Durchbruch brachte dem 33jährigen nur vorübergehend das Schmunzeln so mancher Westberliner ZeitungsleserInnen ein. Es hätte auch anders kommen können. Was fehlte, waren ein alarmierter Jochen Gerz, ein einflußreicher Kunstwissenschaftler, ein beherzter Leiter des Landesamtes für Denkmalschutz. Schon wäre die bräunliche »Kanzel«, die der flüchtige Bildhauer auf einem Hinterhof an der Kreuzberger Heimstraße hinterlassen hatte, zu einem großartigen Kunstwerk erklärt und damit zum Ziel unzähliger Wallfahrten gemacht worden. So aber wurde sie nach wenigen Tagen spurlos beseitigt.
Döhnerich hauste in einem heruntergekommenen Back-steinhäuschen, das einmal als Schusterwerkstatt gedient hatte. Es klebte an der rückwärtigen Hinterhofmauer, die zugleich die Mauer des benachbarten Friedhofs war. Es überragte die Mauer mit einem niedrigen Oberstock, dessen Dach in den Hinterhof abfiel. Im Erdgeschoß hatte Döhnerich seine Werkstatt eingerichtet. Überall standen die kleinen Stahlplastiken herum, die er aus Schrotteilen zusammenschweißte. Als Musiker konnte ich ihre Qualität kaum beurteilen. Ich kann nur sagen, offenbar wollte sie niemand haben. Döhnerich war ein hagerer Kerl mit der hellen, sommersprossigen Haut der Rothaarigen. Und obwohl er Abend für Abend einige Krüge Bier in sich hinein zu schütten schien, setzte er nicht an. Ich glaube, er war ziemlich verzweifelt.
Ich wohnte damals im Vorderhaus des betreffenden Grundstücks. Als Querflötist in einem Kammerorchester erteilte ich auch Privatunterricht auf diesem Instrument, sodaß ich mich tagsüber öfter in meiner Wohnung aufhielt. Abends liebte ich es, über die Friedhöfe zu spazieren, die sich längs der Bergmannstraße bis zum Südstern ziehen. Dabei nickte ich so manches Mal Döhnerich zu, der hinter seinem Friedhofsfensterchen hockte und zuweilen mit dem Bierkrug in der Hand zurückgrüßte. Er hatte das kleine Fenster eigenhändig in der Rückwand seines Oberstocks eingesetzt. Dort hatte er sich eingenistet, um die Miete für eine Wohnung zu sparen. Nebenbei konnte er von seinem Friedhofsfensterchen aus beinahe Friedrich Schleier-macher und Ludwig Tieck auf die Köpfe spucken. Tieck war durch einen hochglanzpolierten Klotz aus rötlichem Marmor präsent.
Da Döhnerich verschwand, ohne ein Interview zu geben, kann ich nur mutmaßen, wie er seine Abende verbrachte. Besuch bekam er nach meinen Beobachtungen nie. Vielleicht lauschte der Klausner nicht ohne Neid dem keineswegs entsagungsvollen Gassenhauer der Mönchsgrasmücken, während er sein Flaschenbier trank. Für sein verrostetes Fahrrad hatte er einen kleinen Anhänger, worin regelmäßig ein Kasten Bier durch die bucklig gepflasterte Heimstraße schepperte. Er benutzte den Anhänger auch, um Brennholz von Abbruchhäusern herbeizuschaffen – und zuletzt wohl auch für den Transport einiger Säcke Zement.
Als seine Werkstattfenster es noch zuließen, hatte ich einmal die Leiter gesehen, die in einer Falluke des Oberstocks lehnte. Mit der Zeit ließ Döhnerich seine Werkstattfenster erblinden. Er benötigte kein Tageslicht zum arbeiten mehr; schließlich drohten ihn seine Stahlplastiken bereits zu erschlagen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie er des Abends öfter von seinem Tisch am Fenster zur Luke wankte, um sich dann in der Werkstatt unten einen Weg durch die Schrottberge zum Abort zu bahnen. Auf dem Rückweg griff er vermutlich in den Kasten Bier, den er auf dem Estrich der Werkstatt kühlhielt. Wieder an seinem Friedhofsfensterchen, grübelte er womöglich über irgendeine grandiose Verwandlung seiner selbst oder doch wenigstens der unter ihm gelegenen Schrotthalde nach.
Bekanntlich verdanken sich geniale Lösungen nicht selten den schnödesten Anstößen. In Döhnerichs Fall war es die Kündigung. Wie später in den Zeitungen zu lesen war, hatte sich ein größerer Mietrückstand angestaut. Im Verein mit der »Zweckentfremdung von Gewerberäumen« und einem illegalen Fensterdurchbruch genügte dies für die unnachsichtige Aufforderung, zum 1. September das Feld zu räumen. Ich könnte mir denken, insbesondere der Vorwurf hinsichtlich des Fensterchens wurmte Döhnerich. So mochte er sich plötzlich der Tatsache entsonnen haben, daß Deutschlands Hauptstadt überwiegend auf märkischem Sand gebaut ist. Da war der Gedankensprung zu den erwähnten Zementsäcken nicht mehr weit.
Der skandalöse Abriß seines Werkes hatte den einen Vorteil, Döhnerichs Vorgehensweise nachvollziehbar zu machen. Zum Auftakt brach er im Estrich der Werkstatt ein etwa brunnengroßes Loch auf. Das sah ich sogar mit eigenen Augen, wenn auch nur schemenhaft. Döhnerich hatte seit vielen Monaten nicht mehr zum Schweißbrenner oder nach Hammer und Meißel gegriffen; das ließ mich stutzen. Als Freizeitornithologe besitze ich ein ziemlich gutes Fernglas. Meine Küche und mein Arbeitszimmer gingen auf unseren Hinterhof. Ich richtete mein Fernglas auf die arg verschmutzten Fensterscheiben von Döhnerichs Werkstatt und verfolgte, wie er offensichtlich auf den Boden einhieb – vermutlich mit einer Spitzhacke. Später schien er für immer längere Zeit in dem Loch zu verschwinden. Da dämmerte mir, was sich der ziemlich niedergeschlagene und völlig abgebrannte Bildhauer vorgenommen hatte.
Das brunnengroße Loch lag genau auf der verlängerten Linie einer Ligusterhecke, die unterhalb von Döhnerichs Oberstockfensterchen im rechten Winkel von der Mauer in den Friedhof abging. Nach rund 15 Metern endete die Hecke an einem der vielen Grabhäuschen oder Mausoleen, die für die alten Friedhöfe der Hauptstadt kennzeichnend sind. Wer in der Kaiserzeit betucht genug dazu war, ließ sich aus Sandstein, Granit oder gar Marmor ein solches Mausoleum errichten. Nicht selten war es mit allerlei Säulen und Erzengeln bewehrt. Die Grabstätte als Festung, dieser Gesichtspunkt dürfte Döhnerich kaum entgangen sein. Nachdem er den senkrechten Förderschacht ausgehoben hatte, trieb er einen Querstollen in den Friedhof. Er unterwand die Hinterhofmauer und orientierte sich beim weiteren Vortrieb am Wurzelwerk der Ligusterhecke. Der Bildhauer verwandelte sich in einen Bergmann. Döhnerich baute seinen Querstollen fachmännisch mit den vielen Balken und Bohlen aus, die er als Brennholz für den kommenden Winter gehortet hatte. Schubkarre, eine kleine Tonne, ein Zugseil plus Rolle waren seine Gerätschaften zum Fördern. Den Aushub – ein sand- und geröllhaltiges Erdreich – rührte er mittels Zement und Wasser zu einer Art Beton an, den er – wie sich versteht, von außen nach innen, nämlich von den Wänden weg – in seinem Häuschen aufschichtete. Die Sommerhitze sorgte für eine rasche Abbindung der Mixtur.
So wuchsen in seinem Häuschen die Wälle: im Oberstock auf die Luke, in der Werkstatt aufs Förderloch zu. Natürlich war es ihm nach einigen Wochen nicht mehr möglich, die Werkstattür freizuhalten; vermutlich hatte er sich rechtzeitig mit Vorräten eingedeckt. Da er um das Förderloch herum bis zuletzt Platz zum Anmischen brauchte, füllte er vorher schon den Oberstock aus, womit ihm nichts anderes übrigblieb, als in seinen Querstollen umzuziehen. Dort schlief und aß Döhnerich. An der Stollendecke brachte er in gewissen Abständen Kellerlampen an. Mit dem Wasserhahn in der Werkstatt verband ihn bis zuletzt ein Schlauch, den er ersatzweise mit einem Drehverschluß versehen hatte. Wie sich versteht, hatte er – neben seinem Mobiliar, dem Abort und vor allem seinen unseligen Stahlplastiken – auch ein Belüftungsrohr mit einbetoniert, sodaß er nicht zu ersticken drohte.
Wie mag ihm als Maulwurf, der sich den Rückweg verbaut hatte, zumute gewesen sein? Wir können es nicht wissen. Ich selbst hätte ohne Zweifel höllische Ängste ausgestanden, drohe ich doch bereits bei klemmenden Toilettentüren in Panik zu geraten, von hin und wieder unumgänglichen Fahrstuhlfahrten ganz zu schweigen. Möglicherweise hatte sich Döhnerich diese Roßkur verordnet, um neben dem Ehrgeiz auch gleich die Todesangst hinter sich zu lassen. Denn was sonst treibt den ehrgeizigen Künstler an? Im übrigen wurde Döhnerichs Querstollen in überraschend säuberlichem Zustand vorgefunden. Ich schließe daraus, daß er seine Notdurft über dem Bottich verrichtete, in dem er die Mixtur für seine »Kanzel« anmischte.
Verschiedene Faktoren zusammengenommen, war ich mir nahezu sicher, Döhnerich werde, wenn überhaupt, an einem der letzten Augusttage wieder auf Erden auftauchen – selbstverständlich in der Dunkelheit. So gewann meine Anteilnahme an Döhnerichs herkulischer Unternehmung ebenfalls einen märtyrerhaften Zug. Etliche Nächte durchwachte ich am Fenster meines Arbeitszimmers hockend, das Fernglas im Schoß und die Ohren gespitzt. Glücklicherweise hatte unser Kammerorchester Sommerferien, sonst wäre ich bei den Proben selbst über einer Partitur von Jean Francaix eingenickt. Immerhin lernte ich auf diese Weise die dämonischen Rufe einiger Friedhofseulen kennen, die ich mir im Kerzenschein notierte. Ich schreibe hin und wieder Filmmusik. Vielleicht hatte Döhnerich seinen Vortrieb zuletzt verzögert; vielleicht hatte er auch nur das Glück des Tüchtigen. Jedenfalls schreckte ich genau in der Nacht vom 31. August auf den 1. September von meiner Fensterbank auf. Eisen klang auf Stein!
Jetzt hat er die Grundmauer des Mausoleums erreicht, sagte ich mir alarmiert, während ich nach meinem Fernglas tastete. Vermutlich löst er einen der Sand-steinquader aus der Grundmauer heraus. Er zwängt sich durch das Loch – abgemagert genug war er ja – und rappelt sich in der Gruft des Mausoleums wieder auf. Er wirft seinen Rucksack über und tastet sich auf der Grufttreppe nach oben. In der Tat quietschten bald darauf die verrosteten Angeln der Mausoleumstür. Da stand er! Die Arme gereckt, bekundete er dem Mond, die Erde habe Döhnerichs Feuerschopf und Döhnerichs Sommersprossen wieder. Schon rief er sich zur Besinnung. Er duckte sich unter der Hängeesche durch und schlich zwischen stum-men Grabmalen Richtung U-Bahnhof Südstern davon …
Kaum hatte ich drei oder vier Stunden geschlafen, scheuchten mich schon wieder Geräusche auf, die nach Schwerarbeit klangen. Ein Herr von der Wohnungsbau-gesellschaft machte sich mit einer Brechstange am Schloß von Döhnerichs Werkstattür zu schaffen. Ich kannte den Bürokraten flüchtig. Ich nehme an, sein Zweitschlüssel hatte nicht gegriffen, wodurch es ihm zunächst unmöglich war zu überprüfen, ob Döhnerich ordnungsgemäß ausgefegt hatte. Dann krachte und splitterte es, und das Schloß – einen Teil der Türbretter mit sich reißend – fiel in den Hof.
Der Mann starrte entgeistert auf die bräunliche, körnige Masse, die hinter den abgesprengten Brettern zum Vorschein kam. Er gab sich einen Ruck, um mit Hilfe der Brechstange auf die Masse einzustechen – nur ein paar Krumen sprangen ab. Er fluchte und zertrümmerte zunächst das linke, gleich darauf das rechte Werkstatt-fenster. In beiden ergab sich derselbe Befund: Sie waren wie zubetoniert.
»Eine Leiter!« schrie der Mann und fuchtelte zum Dach. »So schafft mir doch eine Leiter her!« Die Gören, die ihn längst umringt hatten, flitzten davon und erschienen mit der Stehleiter der Aufwartefrau wieder. Der Mann erklomm sie und hebelte mit seiner Brechstange an den vordersten Dachziegeln herum, als gelte es, einen größeren Schmiergeldbetrag auszugraben. Die Ziegel flogen zum Teil in den Hof. Während sich die Fenster der Seitenflügel mit grinsenden Zuschauern füllten, stach er auch von oben mit der Brechstange auf die bräunliche Masse ein – es war kein Durchkommen. Darauf sah er wild um sich. Schließ-lich winkte er unwirsch ab, stieg halbwegs gemessen wieder in den Hof und schnauzte die Gören an: »Pfoten weg von dem Scheißding! Das ist ein Fall für die Polizei!«
An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken. Während ich mein Frühstück bereitete, sagte ich mir: Wenn sie ihn schnappen, kommt auch noch schwere Sachbeschädigung, Diebstahl städtischen Erdreichs, Störung der Totenruhe hinzu … Beim Essen fiel mir der Schriftsteller Erhart Kästner ein, der so gerne über Bildende Künstler meditierte. Ich nehme an, er hätte Döhnerich ohne zu zögern in seine Lerchenschule von 1964 aufgenommen. »Viel gewonnen, wenn man lebt, ohne zu Ehren zu kommen.« Denn davon war ich überzeugt, daß sich Döhnerich seinen Weg ins Ruhmlose gebahnt hatte. Dabei war er genial genug, um die Leere, aus der er kam, mit den Verheißungen zu stopfen, die man vor ihm aufgetürmt hatte. Da mußte er durch.
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