Montag, 11. Juli 2022
Ziegen
2010/2022


Ich vermute stark, allein in Deutschland haben wir etliche hundert Ziegenberge. Der Waltershäuser Ziegenberg, auf der Kuppe bewaldet und nur zur Stadtseite hin bebaut, ist 410 Meter hoch. Ich erklimme ihn, seit 2003, mehrmals jährlich, obwohl mir dabei noch nie ein Schwarzspecht zu Gehör oder Gesichte kam. Der wuchtige Vogel ist ein begabter, ja sogar bezaubernder Sänger. Alte Buchen hätte er hier. Aber er hat das Terrain dem Kolkraben überlassen, der eher wie ein Neufundländer bellt oder grollt.

Wie sich versteht, ist hier von Ziegen kein Zipfel mehr zu entdecken. Geht die Verarmungspolitik unserer neuen Gesundheitsregierungen so weiter, könnte sich das noch ändern. In meiner Jugend galt die Ziege als »Kuh des Kleinen Mannes«. Nicht selten wurde sie zugleich als dessen Wachhund geschätzt. Die Ziege braucht wenig Platz und ist genügsam. Wird sie nicht daran gehindert, kann sie allerdings unter Umständen ganze Landschaften kahlfressen, da sie Gräsern Kräuter und Laub vorzieht. Wiesensalbei und Trollblume wagt sie immerhin nicht anzutasten. Sie liefert wie die Kuh Fleisch, Leder, Käse, gibt aber mehr Milch als ein Schaf. Sie teilt sich ihre Weidegründe oder Ställe mit fast allem, was vier Beine oder zwei Flügel hat. Pferde sind bekanntlich Herdentiere. Droht Ihre Fuchsstute zu vereinsamen, müssen Sie ihr eine »Beistellziege« verordnen. Andja, die Ziege des alten Fischers Gorian, teilt sich ihren Stall mit fünf Hühnern. Allerdings wissen das Branko und Die rote Zora nicht, die dem Alten im Morgengrauen zwei Hühner stehlen. Kaum sind die Gickel in den Sack gestopft, fängt plötzlich eine Ziege an zu meckern! So bekommt Gorian den Diebstahl mit – nur hockt er leider gerade auf See in seinem Boot. Er ertappt Branko und Zora erst in der nächsten Nacht, als sie die beiden Hühner reumütig zurück zu schmuggeln gedenken! Die Kinder dürfen mit ins Boot, Thunfische jagen.

Ob Gorian seine gute Andja an Land als Last- und Zugtier einsetzte – wie seit altersher in aller Welt – teilt Romanautor Kurt Held nicht mit. Schon der Streitwagen des germanischen Donnergottes Thor wird von zwei Ziegenböcken gezogen. Einen benebelten Abglanz davon geben heute nur noch johlende Männer am sogenannten Vatertag, sieht man einmal vom touristischen Fahrgeschäft ab, das Zugtiere zu Affen herabwürdigt, auf daß sie mit dem Niveau der Fahrgäste Schritt halten können. Wo sie auch gröhlen oder tuscheln mögen, sie streifen jede Wette, wie schon angedeutet, einen Ziegenberg. Die hohe Wertschätzung, die Ziegen seit der Jungsteinzeit genießen, drückt sich ferner in zahlreichen Namen von Pflanzen (beispielsweise Geißbart), Tieren (der Vogel Ziegen-melker) und Ortschaften aus. Ziegenhain, ehemals Residenz- und Kreisstadt, liegt an einem Fluß meiner Kindheit, der mittel- und nordhessischen Schwalm. Die GestalterInnen des Ziegenhainer Stadtwappens würfe man heutzutage wegen Männer- und Russenfreundlichkeit kurzerhand auf den Scheiterhaufen: Das stilisierte kämpferische Wappentier sieht unter der Gürtellinie wie ein Hahn, über ihr wie ein Ziegenbock aus, und zu allem Überfluß schreitet es in den Strahlen eines roten Sternes.

Der schweizer Clown Marco Morelli hat ebenfalls ein Herz für Ziegen. Auf seiner Webseite erwähnt er einen alten Tessiner Bergbauern aus seiner Jugendzeit, den er beim »Metzgen« seiner alten Geiß beobachten konnte. Diese Ziege hatte dem Mann seit vielen Jahren Milch und Käse und etliche Zicklein beschert. Nun saß er hinter dem Stall auf einem Stein, fütterte das Tier mit Heu, liebkoste es, sprach mit ihm … »Über eine halbe Stunde lang ging das Abschiednehmen, ruhig, zärtlich und friedlich. Dann hat er sie umarmt und mit dem Messer einen gekonnten Schnitt durch Halsschlagader und Kehle gemacht. Das ging alles so schnell wie bedächtig. Kein Knall, kein Zucken, kein Schrei; kein Männer-Helden-Gehabe. Klar hat der Bauer die Geiß gehalten, sehr innig sogar, und so ist sie ihm beim Ausbluten buchstäblich in den Armen 'eingeschlafen'. Das hat mir grossen Eindruck gemacht.«

Laut griechischer Mythologie wurde sogar ein Gott, nämlich Zeus, mit Ziegenmilch aufgezogen – die näheren Umstände sind umstritten. Die einen sagen, die Nymphe Amalthea habe ihm die Ziegenmilch verabreicht; für die anderen war Amalthea selber die Ziege, bot Baby Zeus also ihre Zitzen dar. Montaigne legt die zweite Leseart nahe, wenn er in seinen Essays (um 1600) erwähnt, in den Dörfern der Dordogne werde so manche Amme durch eine Ziege ersetzt. Die müssen da ziemlich großmäulige Säuglinge gehabt haben.
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