Donnerstag, 7. Juli 2022
Kirschen
ziegen, 11:52h
Um 2007
In der Küche erfuhren sie, das Mittagessen sei erst in einer knappen halben Stunde fertig. Das nutzten sie gern, um sich im Bach zu erfrischen. Günstigerweise schlängelte sich der Dorfbach durch eine kommuneeigene Wiese, die sich von der Scheune bis zum Waldrand erstreckte. Dort, im Schatten, hatten sich die rotbraunen Rinder der Kommune gelagert. Über die schon leicht versengte Wiese strichen die zwitschernden Rauchschwalben. Am Bachufer funkelten die Weideröschenstauden, die mit pinkfarbigen Blüten übersät waren.
Sie stiegen ins Wasser und schaufelten sich einige Schwälle ins verschwitzte Gesicht, wobei sich Lu nicht scheute, ebenfalls ihr Hemd auszuziehen. Fenders Hemd, das die junge Frau so einfallsreich im Kirschbaum verknotet hatte, lag ohnehin im Handwagen zwischen den gefüllten Eimern.
Lu war von knabenhafter, geschmeidiger Gestalt. Mit ihrem blonden Pony ähnelte sie Till Eulenspiegel, wie er in einem illustrierten Jugendbuch gegeben wurde, das Fender mit anderen Erinnerungsstücken zu Hause in seiner Eichentruhe aufbewahrte. Geradezu betörend fand Fender Lus Unterarme. Er hatte sie beim Kirschenpflücken oft im Gesichtskreis gehabt; dort schienen sie wie wohlgeformte schlanke Früchte mal aus den glockigen T-Shirt-Ärmeln Lus, mal aus den Ästen zu sprießen. Diese gebräunten Früchte waren mit zartem, blondem Flaum besetzt. Just vor seiner Abreise, als sich Fender gründlich rasierte, hatte er erstmals zwei oder drei weiße Bartstop-peln zur Kenntnis genommen. Ein alter Freund hatte ihn zu der kleinen Sommerfrische eingeladen. Zur Minute stand Norbert in der großen Küche der Landkommune am Herd. Der Platz am Bach war sicherlich erquickender.
Sie saßen jetzt auf der Uferkante, die Fußknöchel vom Wasser umspielt. Aus dem Dorf stiegen in unregelmäßigen Abständen klingende Hammerschläge auf. Dann blickten sie wie auf ein Kommando zu einem nahen Pappelhain, aus dem der Kuckuck rief. Fender lauschte hingerissen. Vor wieviel Jahren hatte er diesen lockenden Ruf zum letzten Mal gehört? Als der Kuckuck wieder schwieg, musterte Lu in gespielter Trübsal ihre hübschen Hände und meinte mit einem Nicken zu den Pappeln, der spöttische Vogel habe ihre roten Finger gesehen und mache nun alle Welt darauf aufmerksam. Daraufhin betrachtete Fender verdutzt seine eigenen Hände, denn erst durch Lus Scherz bemerkte er, trotz der Wäsche waren sie noch immer verfärbt.
Ihm fiel der alte Volksglaube ein, der mehr oder weniger lange Kuckucksruf verkünde einem die Jahre, die man noch zu leben habe, weshalb man unbedingt mitzählen müsse, sobald man den Ruf vernehme. Das hatte er versäumt. Allerdings wußte er auch so, daß es am Ende einer Bockleiter auf der anderen Seite wieder zurück ging, sozusagen bergab.
Nach der morgendlichen Arbeitsbesprechung im Speise-saal der Kommune waren Lu und er mit zwei Anstell-Sprossenleitern auf dem Handwagen zum Dorfrand gezogen. Der mächtige Kirschbaum, den die Kommune abernten durfte, beherrschte eine Böschung. Als sich Fender einem ertragversprechenden Ast zugewandt hatte, der ungefähr rechtwinklig vom Hang abstand, ergab sich das Problem, die Leiter standsicher zu machen, hing doch deren linker Fuß in der Luft. Fender sah sich nach einem größeren Stein oder Holzklotz zum Unterfüttern um. Lu bekam es mit und meinte, solches Aufbocken sei zu fahrlässig. »Gib mir doch mal bitte dein kilometerlanges Sackhemd!« Er hatte es wegen der Julihitze ausgezogen. Er warf es ihr zu. Sie pflückte nicht weit von dem Ast, an den er seine Leiter gelehnt hatte. Jetzt schlang sie Fenders zum Seil gedrehtes Kleidungsstück durch die Leiter und verknotete es an einer kräftigen Astgabel, sodaß die Leiter nicht mehr am Hauptast abgleiten konnte. Auf diese Weise war die Leiter auch mit nur einem Fuß standsicher, wie Fender gleich darauf überprüfen konnte. »Hut ab!« sagte Fender, als er wieder im Baum war, und lüftete seine weiße Schirmmütze. Lu lächelte durch die in Licht und Schatten flirrenden Blätter.
Sie war nicht gesprächig und blieb auch jetzt stumm, während sie auf der Uferkante hockten. Fender hatte bislang nur mitbekommen, daß sie erst kürzlich ihre Probezeit durchlaufen hatte und im Frühjahr in die rund 20köpfige Kommune aufgenommen worden war. Vielleicht konnte er in der Mittagsruhe Norbert ein wenig nach Lu ausholen. Eigentlich hieß sie Luise – mein Gott, welche Eltern konnten so herzlos sein, ihre Tochter Luise zu nennen, und dann auch noch eine so hübsche!
Lu hob die Brauen, nickte lächelnd über ihre zarte Schulter und erhob sich. Der Essensgong war erklungen.
Fender nickte ebenfalls, während er ihr folgte. Aber es war die Bekräftigung seines blitzschnellen Entschlusses, sich an der jungen Frau nicht die Finger zu verbrennen. Sie waren schon rot genug.
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In der Küche erfuhren sie, das Mittagessen sei erst in einer knappen halben Stunde fertig. Das nutzten sie gern, um sich im Bach zu erfrischen. Günstigerweise schlängelte sich der Dorfbach durch eine kommuneeigene Wiese, die sich von der Scheune bis zum Waldrand erstreckte. Dort, im Schatten, hatten sich die rotbraunen Rinder der Kommune gelagert. Über die schon leicht versengte Wiese strichen die zwitschernden Rauchschwalben. Am Bachufer funkelten die Weideröschenstauden, die mit pinkfarbigen Blüten übersät waren.
Sie stiegen ins Wasser und schaufelten sich einige Schwälle ins verschwitzte Gesicht, wobei sich Lu nicht scheute, ebenfalls ihr Hemd auszuziehen. Fenders Hemd, das die junge Frau so einfallsreich im Kirschbaum verknotet hatte, lag ohnehin im Handwagen zwischen den gefüllten Eimern.
Lu war von knabenhafter, geschmeidiger Gestalt. Mit ihrem blonden Pony ähnelte sie Till Eulenspiegel, wie er in einem illustrierten Jugendbuch gegeben wurde, das Fender mit anderen Erinnerungsstücken zu Hause in seiner Eichentruhe aufbewahrte. Geradezu betörend fand Fender Lus Unterarme. Er hatte sie beim Kirschenpflücken oft im Gesichtskreis gehabt; dort schienen sie wie wohlgeformte schlanke Früchte mal aus den glockigen T-Shirt-Ärmeln Lus, mal aus den Ästen zu sprießen. Diese gebräunten Früchte waren mit zartem, blondem Flaum besetzt. Just vor seiner Abreise, als sich Fender gründlich rasierte, hatte er erstmals zwei oder drei weiße Bartstop-peln zur Kenntnis genommen. Ein alter Freund hatte ihn zu der kleinen Sommerfrische eingeladen. Zur Minute stand Norbert in der großen Küche der Landkommune am Herd. Der Platz am Bach war sicherlich erquickender.
Sie saßen jetzt auf der Uferkante, die Fußknöchel vom Wasser umspielt. Aus dem Dorf stiegen in unregelmäßigen Abständen klingende Hammerschläge auf. Dann blickten sie wie auf ein Kommando zu einem nahen Pappelhain, aus dem der Kuckuck rief. Fender lauschte hingerissen. Vor wieviel Jahren hatte er diesen lockenden Ruf zum letzten Mal gehört? Als der Kuckuck wieder schwieg, musterte Lu in gespielter Trübsal ihre hübschen Hände und meinte mit einem Nicken zu den Pappeln, der spöttische Vogel habe ihre roten Finger gesehen und mache nun alle Welt darauf aufmerksam. Daraufhin betrachtete Fender verdutzt seine eigenen Hände, denn erst durch Lus Scherz bemerkte er, trotz der Wäsche waren sie noch immer verfärbt.
Ihm fiel der alte Volksglaube ein, der mehr oder weniger lange Kuckucksruf verkünde einem die Jahre, die man noch zu leben habe, weshalb man unbedingt mitzählen müsse, sobald man den Ruf vernehme. Das hatte er versäumt. Allerdings wußte er auch so, daß es am Ende einer Bockleiter auf der anderen Seite wieder zurück ging, sozusagen bergab.
Nach der morgendlichen Arbeitsbesprechung im Speise-saal der Kommune waren Lu und er mit zwei Anstell-Sprossenleitern auf dem Handwagen zum Dorfrand gezogen. Der mächtige Kirschbaum, den die Kommune abernten durfte, beherrschte eine Böschung. Als sich Fender einem ertragversprechenden Ast zugewandt hatte, der ungefähr rechtwinklig vom Hang abstand, ergab sich das Problem, die Leiter standsicher zu machen, hing doch deren linker Fuß in der Luft. Fender sah sich nach einem größeren Stein oder Holzklotz zum Unterfüttern um. Lu bekam es mit und meinte, solches Aufbocken sei zu fahrlässig. »Gib mir doch mal bitte dein kilometerlanges Sackhemd!« Er hatte es wegen der Julihitze ausgezogen. Er warf es ihr zu. Sie pflückte nicht weit von dem Ast, an den er seine Leiter gelehnt hatte. Jetzt schlang sie Fenders zum Seil gedrehtes Kleidungsstück durch die Leiter und verknotete es an einer kräftigen Astgabel, sodaß die Leiter nicht mehr am Hauptast abgleiten konnte. Auf diese Weise war die Leiter auch mit nur einem Fuß standsicher, wie Fender gleich darauf überprüfen konnte. »Hut ab!« sagte Fender, als er wieder im Baum war, und lüftete seine weiße Schirmmütze. Lu lächelte durch die in Licht und Schatten flirrenden Blätter.
Sie war nicht gesprächig und blieb auch jetzt stumm, während sie auf der Uferkante hockten. Fender hatte bislang nur mitbekommen, daß sie erst kürzlich ihre Probezeit durchlaufen hatte und im Frühjahr in die rund 20köpfige Kommune aufgenommen worden war. Vielleicht konnte er in der Mittagsruhe Norbert ein wenig nach Lu ausholen. Eigentlich hieß sie Luise – mein Gott, welche Eltern konnten so herzlos sein, ihre Tochter Luise zu nennen, und dann auch noch eine so hübsche!
Lu hob die Brauen, nickte lächelnd über ihre zarte Schulter und erhob sich. Der Essensgong war erklungen.
Fender nickte ebenfalls, während er ihr folgte. Aber es war die Bekräftigung seines blitzschnellen Entschlusses, sich an der jungen Frau nicht die Finger zu verbrennen. Sie waren schon rot genug.
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