Dienstag, 5. Juli 2022
Ein heiliges Biotop
2012


Wäre ich eine sendungsbewußte Frau, würde ich meinen zukünftigen Anhängern das Reformkleid, die Gesundheits-sandale oder Heilung ihrer Leiden durch Mesmerismus versprechen, wie beispielsweise Darwins Zeitgenossin Harriet Martineau. Pückler-Muskau suchte auf der Rückreise von Ägypten (1838) im Libanon Lady Hester Stanhope auf, die bei Beirut in ihrem Felsenschloß Dahar-Dschuhn einsiedelte. Der Aufenthalt des Fürsten bei der 62jährigen, schon zu Lebzeiten berühmten Exzentrikerin und Astrologin habe »in der Weltpresse fast genauso viel Beachtung wie seine Freundschaft mit Mehemed Ali« gefunden, versichert Heinz Ohff (1991). Die Deutsche Sabine Lichtenfels tat sich 1995 mit Dieter Duhm zusammen, um auf einem 134 Hektar großen Gelände in Südportugal Tamera, nämlich die soundsovielste »spirituelle« Lebensgemeinschaft dieses Planeten aus der Taufe zu heben. Lichtenfels soll sogar einen Privatsekretär haben.

Offenbar hat sich für viele Veteranen der antiautoritären Bewegung (von 1968) nur die Alternative angeboten, Minister oder Guru zu werden. Lichtenfels' Kompagnon ist alten 68ern kein Unbekannter. Dieter Duhm zählte zu den heimlichen Cheftheoretikern der psychologisch ausge-richteten Fraktion des SDS. Er machte besonders durch das 1972 veröffentlichte Buch Angst im Kapitalismus auf sich aufmerksam. 2001 kam er sozusagen auf die Bibel zurück: er legte das Buch Die heilige Matrix vor. In Tamera gehört es, soweit ich weiß, zur Pflichtlektüre.

Diese Aussage möchte ich allerdings nicht beschwören. Leider liegt es in der Natur »spiritueller« Siedlungen, etwas undurchsichtig zu sein. Auch Vera Sprosse mußte das erfahren. Kurz bevor sie (2009) ihre Kommune verließ, um sich mit Freundeshilfe ein Einsiedlerinnen-Häuschen zu errichten, sah sie sich nach möglichen Alternativen um. Allerdings war Südportugal verdammt weit weg. Sie hatte nur gehört, im Heilungsbiotop Nr.1 – so der bescheidene offizielle Name der Lebensgemeinschaft – lebten derzeit rund 150 Leute, die sich mit Wiederaufforstung des eher kargen Siedlungsgeländes, mit gleichfalls Häuschenbau und mit Meditieren oder auch Beten (ohne Doppel-e) befaßten. Als sie sich auf der Webseite von Tamera ein Bild von den Eigentumsverhältnissen und Verwaltungs-strukturen machen wollte, erfuhr Vera Sprosse so gut wie nichts. Es stimmte sie auch bedenklich, daß im Internet kaum Presseveröffentlichungen über das Projekt zu finden waren. Im Reisebericht eines Besuchers (2004) las sie, Artikel seien unerwünscht – angeblich wegen zuvielen schlechten Erfahrungen mit Verzerrungen oder gar Verleumdungen. Durch Geheimpolitik, sagte sich Vera Sprosse, fordert man solche allerdings gerade heraus.

Mit Verweis auf die schlechte Quellenlage stellte sie Tamera per Email ein paar gezielte Fragen mit der Bitte um Auskunft oder Hinweis auf Quellen. »Wie sind die Eigentums- und Einkommensverhältnisse, welche Entscheidungsgremien gibt es, arbeiten sie nach dem Konsensprinzip oder mit Abstimmungen, gibt es eine Verfassung, wie werden die neuen Beschlüsse verkündet und notfalls durchgesetzt, gibt es Ordnungskräfte, wie weit unterliegt die Siedlung den portugiesischen Gesetzen und bürokratischen Strukturen.« Das Tamera-office dankte ihr prompt für die »tollen« Fragen, doch gebe es dazu »keine Generalaussagen«. »Eine lebendige Gemeinschaft lebt von sich wandelnden Entscheidungen und Strukturen. Aus diesem Grund findest Du auch nichts im Internet, weil wir es ständig aktualisieren müßten.« Deshalb empfehle sich ein Besuch, am besten anläßlich einer der auf der Homepage angekündigten Einführungswochen. Vera Sprosse sah sogleich nach: bei Zeltunterbringung koste die Einführungswoche für Erwachsene 280 Euro. Hinkommen mußte man beziehungsweise Vera Sprosse natürlich auch noch – Luftlinie Hamburg–Lissabon 2.200 Kilometer.

Aus im Internet verstreuten Bemerkungen von Besuchern ergab sich für Vera Sprosse das folgende lückenhafte und ungesicherte Bild. Das Gelände und die meisten Gebäude gehören wahrscheinlich Duhm und Lichtenfels. Neue Mitglieder dürfen frühstens nach einem Jahr der Zugehörigkeit Häuser errichten – die privat zu finanzieren sind. Alle BewohnerInnen zahlen eine Miete. Ob sie dafür zumindest von einer zentralen Küche unentgeltlich versorgt werden, bleibt unklar. Sofern sie bestimmte Gemeinschaftsaufgaben übernehmen, werden sie entlohnt. Das meiste Geld wird im Ausland verdient. Zudem treibt die »Kerngruppe« der Gemeinschaft beträchtliche Spendengelder für diverse »Friedensprojekte« in nah und fern auf (etwa Kolumbien, Palästina); ob diese Einnahmen transparent gemacht werden, weiß Vera Sprosse nicht. Da die Gemeinschaft selbstverständlich das vielbeschworene »Positive Denken« hochhält, ist es vielleicht auch positiv gedacht, wenn neue SiedlerInnen den Gurus und der Kerngruppe kurzerhand vertrauen. Diese Kerngruppe besteht aus 15 Personen, die wahrscheinlich nicht demokratisch legitimiert sind. Sie betonen jedoch, für alle wesentlichen Entscheidungen werde auf dem Plenum der Gemeinschaft der Konsens gesucht. 2004 teilt Duhm auf dem Plenum mit, nach eingehenden Erörterungen in der Kerngruppe gebe es zukünftig nur noch fünf Arten (oder Klassen?) der Zugehörigkeit. Worin die Abstufungen bestehen mögen, konnte Vera Sprosse nicht ergründen.

Jeder Tag in Tamera beginnt mit einer Art Andacht, wohl von Kerngrupplern abgehalten. Duhms Heilige Matrix scheint als Bibel zu fungieren. Das von einem Kerngruppler geleitete regelmäßige Forum dient der Selbsterfahrung und Konfliktbewältigung. Möglicherweise wird hier ein nicht geringer (seelischer) Anpassungsdruck aufgebaut. Die Atmosphäre in der Siedlung wirkt unfroh. Die Gäste erfahren vor allem Belehrung. Einige sprechen unverhohlen von einer erschreckenden geistigen Enge. Ich erinnere an den Buchtitel Angst im Kapitalismus. Dafür wird die »freie Sexualität« noch hochgehalten, die ja 1968 sozusagen ein Muß war. Besitzansprüche und Eifersucht sollen sich mit der Emanzipation der TameranerInnen erübrigen. Junge Männer können von erfahrenen Frauen in die Liebe eingeführt werden. Duhm und Lichtenfels haben eine Tochter, die schon zu den Aktivisten zu zählen scheint. Die Kinder und Jugendlichen der Siedlung werden hauseigen unterrichtet. Es gehe vor allem darum, sie zu einem friedlichen Miteinander zu befähigen.

Um eine Vorstellung von den theoretischen Grundlagen des Tamera-Projektes zu erlangen, verordnete sich Vera Sprosse die Lektüre eines Aufsatzes zum Krieg, den Duhm im März 2003 auf seine Webseite (heilige-matrix.de) gestellt hatte. Dort stand er (2009) noch immer. Sie überging ein Lob für den angeblichen Freund des irakischen Volkes und des Friedens Kanzler Schröder, um sich, mit Duhm, unsere Kultur im allgemeinen zuzuwenden, die er völlig zurecht barbarisch nennt. Sie beruht von vorne bis hinten auf Gewalt. Wir knechten die Dritte Welt, die Natur, die Tiere. Was wir den Tieren zufügten, täten wir früher oder später auch Menschen an. Hier verlockt es die Skeptikerin allerdings zu der Folgerung: »Was die Tiere den Pflanzen zufügen, tun sie früher oder später auch Ihresgleichen an.« Genau so verhält es sich ja auch. Nach Vera Sprosses Einblicken als alte Wanderfreundin handelt es sich bei der schönen Natur um ein einziges Fressen und Gefressenwerden. Pilze befallen Bäume, Elefanten trampeln Orchideen nieder, alles saugt Mutter Erde aus. Duhm sieht davon lieber ab. Damit kündigt sich bereits sein durchaus nicht neues, typisches Heilsversprechen an: er glaubt Zustände ohne Angst, Gewalt, Gegensätze erreichen zu können, kurz die heile Welt. Das verdankt er vermutlich seinem christlichen und seinem marxistischen Erbe.

Bekanntlich gingen im Frühjahr 2003 weltweit viele Millionen Menschen, darunter Vera Sprosse, gegen den drohenden Irakkrieg auf die Straße. So ermutigend solche Massendemonstrationen auch seien, schreibt Duhm, hätten sie gleichwohl noch niemals zu grundlegenden Änderungen geführt. Auch darin pflichtet ihm Vera Sprosse heute bei. Statt einer »Globalisierung« der Gewalt bedürfe es einer des Friedens. Wenn die meisten 68er in den Schoß des Imperialismus zurückkehrten, dann weil ihnen eine andere Perspektive fehlte. Sie liegt in einer Neuausrichtung unserer Lebenskraft. Diese universelle, göttliche »Ki« hat bislang mit unseren gesellschaftlichen Mustern und Strukturen das falsche Kanalsystem gehabt. Durch »Reki« kann sie zu einem Leben in Harmonie und Freude führen. Dies der Sinn der Heilungsbiotope.

Alle imperialistischen oder rassistischen Kriege, die äußerlich um Öl, Gebiete, Macht geführt werden, verlängern elementare innere menschliche »Konflikte um Liebe und Verlassenheit, Sexualität und Religion, Anerkennung und Verurteilung, Verletzung und Rache, uneingelöste Sehnsüchte nach Eros, Heimat und Gemeinschaft«. Das geschieht, wenn eine Kultur die leiblichen und weiblichen Regungen unterdrückt und in ihren Kindern die »positiven« Lebenskräfte bricht. Auch Hitler, Saddam oder Bush sind solche gebrochenen Kinder gewesen. »Das innere Drama der Menschheit muß aufgelöst werden, wenn wir eine Erde ohne Krieg erzeugen wollen. Solange in der Liebe Krieg ist, kann es keinen Frieden in der Welt geben. Das gilt für uns im Westen genauso wie für die Wüstensöhne Allahs oder die jüdischen Glaubensbrüder des Alten Testaments. Eine Religion, die uns von der sinnlichen Liebe und von der großen Freude der Geschlechter trennt, wird immer Krieg verursachen. Wir erleben jetzt die Endphase eines Zeitalters, wo fast die ganze Menschheit geglaubt hat, dadurch fromm und tugendhaft zu sein, daß sie ihre innersten Sehnsüchte bekämpft. Am Ende dieses Zeitalters erkennen wir den realen Schmerz, den wir uns und allen Wesen zugefügt haben durch die Tradition unheimlicher Liebesverbote.«

Diese Analyse klingt zunächst überzeugend, doch bei näherem Hinsehen scheint sie eher aus der Zeit vor 1968 zu stammen. Seitdem ist die sinnliche Liebe doch gerade umgekehrt enthemmt worden. Über Sexualität spricht man heute wie übers Zähneputzen – und nimmt sie auch ähnlich vor. Jeder Wunsch wird uns (am Markt) erfüllt. Nur die Zähne zieht uns keiner. Duhms »psychologischer« Ansatz ist natürlich ehrenwert; die Anarchisten sagen schon immer, ohne Arbeit an unseren Verwundungen und Verhärtungen sei auf »neue Produktionsverhältnisse« kein Pfifferling zu geben. Unsere Handvoll linker Kommunen – in Deutschland um die Kommuja geschart – versuchen diesen Weg zu beherzigen. Doch wieviele Konflikte machen ihnen das Leben schwer, wieviele guten Absichten sind in dieser Szene schon gescheitert, wieviele Kommunen kümmern vor sich hin! Dabei werden die Konflikte und die Bankrotterklärungen gar nicht so selten unter den Teppich gekehrt. Die Gewaltfreie Kommunikation (GfK) verbietet ja Vorwürfe. Niemand muß sich ändern, wenn er nicht will. Was als Verständigung oder Konsens ausgegeben wird, beläuft sich oft auf die Befolgung von Durchhalteparolen, Zweckoptimismus, Treue dem Projekt gegenüber – um nicht von Gehorsam dem Gruppenglauben und den Gurus der Gruppe gegenüber zu sprechen. Ob das in Tamera nennenswert besser läuft? Angesichts der undurch-sichtigen Strukturen fürchtet Vera Sprosse eher das Gegenteil. Alles riecht nach Sekte.

Zum Krieg treiben Kräfte, »die aus der Zerstörung von Liebe und Leben ihren Profit ziehen«, stellt Duhm weiter fest. Konsum und Gehirnwäsche seitens der Medien täten das Ihre hinzu, diese Wahrheit zu beschönigen und zu verdrängen. Die Wahrheit würde eine tiefe, unheimlich tiefe Unruhe verbreiten. »Da helfen keine spirituellen Ruheübungen, wie sie in den esoterischen Ratgebern unserer Zeit empfohlen werden.« Auch die Rechtfertigung diverser Grausamkeiten durch den Hinweis auf ein »Karma« sei verwerflich. Es gehe nicht mehr nur um Kerzen und stille Gebete, sondern eine neue Art des Handelns und Lebens. Duhm habe sie in seinem Buch Die heilige Matrix umrissen. Ob sie darin noch genauer dargelegt wird als in der folgenden Beschwörung, die bei Lichte betrachtet nur aus Phrasen besteht?

>>Wir brauchen ein neues Konzept für das Leben auf der Erde und das Zusammenleben mit aller Kreatur. Wir brauchen eine neue Vorstellung vom Aufbau menschlicher Gemeinschaften und Gesellschaften: Wir brauchen Genesis II, die zweite Schöpfung, diesmal ohne Krieg. Wir brauchen ein Leben in der Liebe, wo der erste Kuß der beiden Liebenden ewig wirkt und nie mehr verraten werden kann. Wir brauchen den Anker und die Ruhe, um das Geheimnis der Liebe zu verstehen, damit wir unsere Glücksorgane entwickeln können. Alles Lernen dient letztlich dazu, die Liebe zu lernen, sagte Elisabeth Kübler-Ross. Das ist nicht mehr das Thema einer privaten Beziehung, es ist das Thema einer ganzen Kultur. Warum sollten diese gewaltigen Erneuerungen, welche die Menschen im technischen Bereich vollziehen, nicht auch zwischen Menschen möglich sein?<<

Das fand Vera Sprosse ziemlich witzig: für sie sind diese gewaltigen technischen Errungenschaften gerade ein Ausdruck unseres aggressiven Potentials. Entsprechend glaubt sie auch nicht daran, der Mensch könne sein »inneres Drama« ausgerechnet durch »Liebe« über-winden. Die Liebe ist gerade ein wesentlicher Teil des Dramas. Ganz im Gegensatz zum Tier- und Pflanzenreich verknüpfen wir sie aufgrund unseres aufgeblähten Gehirns mit den unmöglichsten Leidenschaften – etwa Zorn, Erpressung, Unterwerfung, Vergeltungssucht, Demüti-gung, Vernichtung – und den unmöglichsten Ansprüchen, beispielsweise Vollkommenheit und Unsterblichkeit. Soweit er es selbst beurteilen kann, ist der Mensch das einzige wahnsinnige Wesen auf diesem Planeten.

Gewiß können weder Duhm noch wir unsere jeweilige Auffassung »beweisen«. Duhm (und seine Mitstreiter-Innen) haben uns aber, neben Landbesitz, zwei Vermögen voraus. Zum einen mangelt es ihnen nicht an Sendungs-bewußtsein. Sie sind Missionare. Wahrscheinlich sind sie auch bauernschlau, denn sie versäumen es nicht, ihren heilungsbiotopischen Unternehmungen sehr ähnlich wie einstmals Rudolf Steiner einen wissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Da wird geforscht. Man hat Institute. Man bildet aus. Für alle Frontabschnitte des Kampfes um Frieden findet man hochtrabende und nichtssagende, jedoch einschüchternde Namen. Ich verweise auf die Webseite.

Zum anderen überwölben sie ihre »wissenschaftlichen« Einsichten in die vertrackte Lage des Menschen gleichwohl mit dem großen geduldigen Schirm des Spirituellen, also im Klartext des Religiösen. Was wird dadurch gewonnen? Für Vera Sprosse ist dieser Schirm genau jener Teppich, unter den wir so gern unsere Konflikte, bitteren Wahrheiten und Enttäuschungen kehren: Glaube, es werde alles gut. Ki möchte es so. Ki macht es für dich – wie für jeden anderen Menschen. Mit etwas weniger polemischen Worten: Der Ki-Schirm soll die Einheit verkörpern, die wir faktisch so verdammt schwer, vermutlich sogar nie erreichen. Er stellt eine Illusion dar, unter der nur neuer Schmutz gedeiht. In Wirklichkeit ist Verständigung eine diesseitige und konkrete Sache; göttliche Sphären vernebeln sie nur. Vielleicht kein unerwünschter Neben-effekt? Dann würde uns der Ki-Schirm daran hindern, Herrschaftsverhältnisse zu durchschauen – solche im »eigenen« Lager.
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