Freitag, 1. Juli 2022
Katastrophe bei Karstadt
ziegen, 12:08h
Um 2005
Mit 16 brannte ich zum ersten Mal durch. Richard und ich lebten ohnehin schon mehr bei Oma & Opa Lohmann, die auf dem Trümmergrundstück ihrer ehemaligen Speisegast-stätte im Kasseler Königstor unverdrossen Bier zapften und Klappstullen schmierten. Wir hatten nur eine Spiegel-reflexkamera und eine Wanderklampfe zu verlieren – wir nahmen sie mit.
Richard war der Anstifter gewesen. Er verfolgte hochfliegende künstlerische Pläne, denen er über den Hamburger Hafen näher zu kommen gedachte. Immerhin hatte er im Cafe Rosenhang schon Fotos ausgestellt. Von mir waren ein paar hochkarätige Gedichte in der Schülerpresse erschienen; möglicherweise erhoffte ich mir an der Küste Aufwind für einen ganzen Satz Bornholmer Elegien oder dergleichen. Warum wir uns ausgerechnet im November an die Auffahrt Kassel-Ost stellen mußten, bleibt mir allerdings schleierhaft. Wir drangen an diesem Tag nur bis zu einer Raststätte in der Lüneburger Heide vor, wo wir im Dunkeln zu einem halboffenen Viehschuppen stolperten, der uns etwas Windschutz bot. Wir rollten unsere unprofessionellen Schlafsäcke auf verkrustetem Stroh aus und klapperten mit den Zähnen. Morgens schien immerhin die Sonne; auf der Wiese blinkte der Rauhreif und brachte unsere Träume wieder auf Trab. Dieses stundenlange Frösteln am Rande einer Lungenentzündung war immer noch zehnmal besser gewesen als um acht in der Schule erscheinen zu müssen. Wir hüpften und boxten uns warm und rannten zur Raststätte.
Kaum in Hamburg eingetroffen, hatten wir schon wieder mächtigen Hunger. Nur hatten wir leider unser letztes Geld in der Raststätte gelassen. So suchten wir nicht zuerst den Hafen auf, sondern die Lebensmittelabteilung von Karstadt, um uns diverse Päckchen mit Schwarzbrot, Käse und Schinken unter die Mäntel zu schieben. Zwar hatte mir Richard gründlich auseinandergesetzt, wie die Ware im Hosenbund oder unter der Achsel einzuklemmen sei. Er war nicht älter als ich, aber mit allen Wassern gewaschen. Dann freilich gab mir unversehens ein fremder Herr die Hand, worauf demselben das Pumpernickel aus meiner Achselhöhle genau vor die Füße fiel. Er grinste und nahm uns mit. Leider war er nicht der ersehnte steinreiche Onkel aus Amerika, sondern der karstädtische Hausdetektiv. Er hatte noch einen Kollegen. In einem winzigen Büro füllten sie Formulare aus und bewachten die Tür, bis eine Polizeistreife eintraf. Mir wurde immer mulmiger zumute. Während mit meiner gottes- und gesetzesfürchtigen Erziehung leider auch mein Harnvorrat durchbrach, blieb Richard unerklärlicherweise frech und guter Laune. Unser Diebstahl allein hätte uns nicht ins Unglück gerissen. Er ging später von Seiten der Justiz als Mundraub durch und brachte uns an jenem Novembertag lediglich ein lebenslängliches Hausverbot bei Karstadt ein. Daran habe ich mich immer gern gehalten.
Nein – unser eigentliches Vergehen war unser Ausreißen. Der pfiffige Richard hatte allerdings für seinen Teil wieder einmal vorgesorgt. Er hatte eine Tante in Hamburg, die ihn von der Polizeistation abholen durfte. Nach einer knappen Stunde war Richard erlöst. Ich dagegen, bar aller Verbindungen, wurde bis auf weiteres »in polizeiliches Gewahrsam genommen«. Als ich das vernahm, wurden auch meine Darmvorräte angegriffen. Vor dem Eingesperrtsein besaß ich schon immer eine höllische Angst, obwohl ich in dieser Hinsicht keine nennenswerte traumatische Erfahrung vorzuweisen hatte – es sei denn, meine Zeit als Fötus gilt als nennenswert. Sie steckten mich in ein sogenanntes Jugendauffanglager, wo die Schlafzimmerfenster vergittert und die angeschraubten Doppelstockbetten aus Stahl waren, damit sie nicht so leicht angezündet werden konnten. Die Umgangsformen meiner Mithäftlinge – wohl immer sechs auf einem Zimmer – versetzten mir einen nachhaltigen Schock. Zoten und Flüche, Prügel und Prahlereien ohne Ende! Einfältig, wie ich war, hatten sie mir ein unteres Bett zugewiesen, damit sie nachts von der Seite und von schräg oben umso besser hineinpinkeln konnten. Ich zitterte vor Angst und Beschämung und flehte anderntags durchs Telefon des »Heimleiters« meine Mutter an, sie möge mich bitte sofort aus dieser Hölle befreien. Schließlich hatte sie mich auch hineingestoßen.
Sie alarmierte ihren Bruder, der ein Auto besaß und als Pfarrer notfalls auch werktags abkömmlich war. Tatsächlich holte er mich noch am Nachmittag ab. Was ich an Strafpredigt, stummer Mißbilligung, erneuter Beschä-mung abbekam, will mir trotz langen Kopfzerbrechens nicht mehr einfallen. Vermutlich »verdrängte« ich das, wie wir bald darauf, im USSB Kassel (Unabhängiger Sozialistischer Schülerbund), bei Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Reimut Reiche lasen. Das Kapitalverhältnis schien doch eine ziemlich verästelte Angelegenheit zu sein.
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Mit 16 brannte ich zum ersten Mal durch. Richard und ich lebten ohnehin schon mehr bei Oma & Opa Lohmann, die auf dem Trümmergrundstück ihrer ehemaligen Speisegast-stätte im Kasseler Königstor unverdrossen Bier zapften und Klappstullen schmierten. Wir hatten nur eine Spiegel-reflexkamera und eine Wanderklampfe zu verlieren – wir nahmen sie mit.
Richard war der Anstifter gewesen. Er verfolgte hochfliegende künstlerische Pläne, denen er über den Hamburger Hafen näher zu kommen gedachte. Immerhin hatte er im Cafe Rosenhang schon Fotos ausgestellt. Von mir waren ein paar hochkarätige Gedichte in der Schülerpresse erschienen; möglicherweise erhoffte ich mir an der Küste Aufwind für einen ganzen Satz Bornholmer Elegien oder dergleichen. Warum wir uns ausgerechnet im November an die Auffahrt Kassel-Ost stellen mußten, bleibt mir allerdings schleierhaft. Wir drangen an diesem Tag nur bis zu einer Raststätte in der Lüneburger Heide vor, wo wir im Dunkeln zu einem halboffenen Viehschuppen stolperten, der uns etwas Windschutz bot. Wir rollten unsere unprofessionellen Schlafsäcke auf verkrustetem Stroh aus und klapperten mit den Zähnen. Morgens schien immerhin die Sonne; auf der Wiese blinkte der Rauhreif und brachte unsere Träume wieder auf Trab. Dieses stundenlange Frösteln am Rande einer Lungenentzündung war immer noch zehnmal besser gewesen als um acht in der Schule erscheinen zu müssen. Wir hüpften und boxten uns warm und rannten zur Raststätte.
Kaum in Hamburg eingetroffen, hatten wir schon wieder mächtigen Hunger. Nur hatten wir leider unser letztes Geld in der Raststätte gelassen. So suchten wir nicht zuerst den Hafen auf, sondern die Lebensmittelabteilung von Karstadt, um uns diverse Päckchen mit Schwarzbrot, Käse und Schinken unter die Mäntel zu schieben. Zwar hatte mir Richard gründlich auseinandergesetzt, wie die Ware im Hosenbund oder unter der Achsel einzuklemmen sei. Er war nicht älter als ich, aber mit allen Wassern gewaschen. Dann freilich gab mir unversehens ein fremder Herr die Hand, worauf demselben das Pumpernickel aus meiner Achselhöhle genau vor die Füße fiel. Er grinste und nahm uns mit. Leider war er nicht der ersehnte steinreiche Onkel aus Amerika, sondern der karstädtische Hausdetektiv. Er hatte noch einen Kollegen. In einem winzigen Büro füllten sie Formulare aus und bewachten die Tür, bis eine Polizeistreife eintraf. Mir wurde immer mulmiger zumute. Während mit meiner gottes- und gesetzesfürchtigen Erziehung leider auch mein Harnvorrat durchbrach, blieb Richard unerklärlicherweise frech und guter Laune. Unser Diebstahl allein hätte uns nicht ins Unglück gerissen. Er ging später von Seiten der Justiz als Mundraub durch und brachte uns an jenem Novembertag lediglich ein lebenslängliches Hausverbot bei Karstadt ein. Daran habe ich mich immer gern gehalten.
Nein – unser eigentliches Vergehen war unser Ausreißen. Der pfiffige Richard hatte allerdings für seinen Teil wieder einmal vorgesorgt. Er hatte eine Tante in Hamburg, die ihn von der Polizeistation abholen durfte. Nach einer knappen Stunde war Richard erlöst. Ich dagegen, bar aller Verbindungen, wurde bis auf weiteres »in polizeiliches Gewahrsam genommen«. Als ich das vernahm, wurden auch meine Darmvorräte angegriffen. Vor dem Eingesperrtsein besaß ich schon immer eine höllische Angst, obwohl ich in dieser Hinsicht keine nennenswerte traumatische Erfahrung vorzuweisen hatte – es sei denn, meine Zeit als Fötus gilt als nennenswert. Sie steckten mich in ein sogenanntes Jugendauffanglager, wo die Schlafzimmerfenster vergittert und die angeschraubten Doppelstockbetten aus Stahl waren, damit sie nicht so leicht angezündet werden konnten. Die Umgangsformen meiner Mithäftlinge – wohl immer sechs auf einem Zimmer – versetzten mir einen nachhaltigen Schock. Zoten und Flüche, Prügel und Prahlereien ohne Ende! Einfältig, wie ich war, hatten sie mir ein unteres Bett zugewiesen, damit sie nachts von der Seite und von schräg oben umso besser hineinpinkeln konnten. Ich zitterte vor Angst und Beschämung und flehte anderntags durchs Telefon des »Heimleiters« meine Mutter an, sie möge mich bitte sofort aus dieser Hölle befreien. Schließlich hatte sie mich auch hineingestoßen.
Sie alarmierte ihren Bruder, der ein Auto besaß und als Pfarrer notfalls auch werktags abkömmlich war. Tatsächlich holte er mich noch am Nachmittag ab. Was ich an Strafpredigt, stummer Mißbilligung, erneuter Beschä-mung abbekam, will mir trotz langen Kopfzerbrechens nicht mehr einfallen. Vermutlich »verdrängte« ich das, wie wir bald darauf, im USSB Kassel (Unabhängiger Sozialistischer Schülerbund), bei Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Reimut Reiche lasen. Das Kapitalverhältnis schien doch eine ziemlich verästelte Angelegenheit zu sein.
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