Donnerstag, 30. Juni 2022
Im Donbaß dröhnts
2022


Suchte mich in den vergangenen 20 Jahren Trübsinn heim, pflegte ich mir gern mit dem Gedanken Trost zu spenden, immerhin hätte ich, als Deutscher Jahrgang 1950, bislang das Glück gehabt, vom Krieg verschont zu bleiben. Ja, bislang … Denn neuerdings, mit 72, scheinen mir diese gemütlichen Felle doch noch wegzuschwimmen. Putin, der hinterlistige Bär, habe das arme ukrainische Eichhörnchen angefallen, zetert die erneuerte »rotgrüne« Bande im Berliner Kanzleramt. Und prompt hat sie nichts Dringenderes zu tun, als den mehr oder weniger faschistisch gestimmten Gangstern in Kiew die nächsten Fuder Waffen und Euros in den Schoß zu werfen. Das wird sich »Putin« womöglich gut merken.

Eine hilfreiche Darlegung der Vorgeschichte dieser angeblich von Rußland betriebenen »Eskalation« gibt Eric Angerer*, wie ich finde. Mangels Blindheit sieht sich der »russische Bär« völlig zurecht zunehmend von der Nato aus westlicher Richtung eingeschnürt. Ich sage nur Baltikum, Polen, Balkan. Die Ukraine fehlte gerade noch. Der Putsch in Kiew 2014 war die Einstiegsdroge. Statt nun den sogenannten »Separatisten« im Donbaß im Sinne des Minsker Abkommens (von 2015) Autonomie zu gewähren, heizt ihnen Kiew seit sieben Jahren nahezu ununter-brochen mit Krieg ein. Das hat dem russisch geprägten Donbaß schon Tausende von toten Zivilisten, viele zerstörte Häuser und jede Menge Schrecken beschert. Daneben halte ich Angerers Hinweis für bedeutsam, die wichtige Rolle der Ukraine für die Beherrschung ganz Eurasiens sei den westlichen Strategen seit vielen Jahrzehnten klar. Von daher ist ihr unausgesetztes Bemühen, eine Verständigung zwischen Rußland und Deutschland zu torpedieren, nicht verwunderlich. Als beflissener Brückenkopf dient ihnen dabei das Bonner/Berliner Regierungsviertel. Dazu meint die ehemalige DDR-Sportlerin Liane Kilinc**, die jetzt in der Donbaß-Hilfe aktiv ist: »Sieben Jahre hat keine Bundesregierung einen Handschlag getan, um dieses Abkommen [von Minsk] umzusetzen. Sieben Jahre lang flossen Milliarden aus Deutschland in die Ukraine, in die Hände einer Regierung, deren größter Haushaltsposten die Aufrechterhaltung des Bürgerkriegs ist.« Berlin unterstütze ein Spiel, »das uns im günstigsten Fall ökonomisch ruiniert und im ungünstigsten die Welt in Brand setzt.«

Für den Göttinger Juristen und Schriftsteller Wolfgang Bittner***, inzwischen schon über 80, leben wir schlicht in einem seit 1945 »unter Kuratel der USA« besetzten Land. »Das zeigt sich gerade wieder in der Verhinderung der Inbetriebnahme von Nord Stream 2. Obwohl die deutsche Bevölkerung durch die Coronamaßnahmen ohnehin bis an die Grenze des Erträglichen belastet ist, werden ohne wirkliche Not, aber begleitet von Propaganda, schwerwiegende Beeinträchtigungen, Preissteigerungen und Versorgungsengpässe in Kauf genommen. Dass sich Russland nach den Zumutungen der vergangenen Jahre mehr und mehr mit China verständigt hat, war zu erwarten.«

In dieser Verständigung könnte ja gleichfalls ein gewisser Trost liegen, aber ich traue ihr nicht. China kommt mir doch als der beträchtlich modernere und skrupellosere Staatskapitalismus vor. Möglicherweise findet Peking bald einen Weg, sich die Welt, bis auf Weiteres, mit den sehr geistesverwandten Schurken in Washington aufzuteilen – unter Ausschluß beziehungsweise Einschrumpfung des riesigen Rußlands. Aber die sogenannte Geopolitik ist ein verflucht verwickeltes Spiel. Thierry Meyssan****, ein oft verblüffend scharfsichtiger Beobachter dieses Spiels, hält das jüngste Vorgehen Rußlands jedenfalls für verständlich, ja sogar wünschenswert, wie er betont. »Die Welt von den Straussianern zu befreien, würde den Millionen Toten und mehr, die sie verursacht haben, gerecht werden und diejenigen retten, die sie bald töten werden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Intervention in der Ukraine der richtige Weg ist.« Was die Alternative gewesen wäre, verrät er nicht.

Meyssan bemerkt in seinem historischen Abriß zuletzt, auch »demokratisch« verfaßte Völker seien für die Entscheidungen ihrer Führer verantwortlich, und zwar auch dann, wenn nach Regierungswechseln an diesen Entscheidungen festgehalten werde. Das dürfte Joseph de Maistres gut 200 Jahre alten Einsicht entsprechen, jedes Volk habe die Regierung, die es verdiene. Solange also große Teile der germanischen Schafherde rotgrüne »transatlantische Dumpfbacken« (Albrecht Müller am 25. Februar) wie Scholz und Baerbock gewähren lassen, ja sogar auf eine Weise feiern, die ganz übel nach 1914 riecht, haben sie sich die mehr oder weniger absehbaren Folgen selber zuzuschreiben. Aber das Gleiche gilt natürlich auch für Washington und London. Mögen da die irrwitzigsten Fraktionskämpfe um die (Welt-)Macht toben – für mich handelt es sich stets um denselben blutrünstigen, schein-heiligen, durch und durch verlogenen angelsächsischen Imperialismus, der diesen Planeten seit weit über 100 Jahren unverfroren und ununterbrochen tyrannisiert. Die damit verbunde Demütigung müßte doch eigentlich irgendwann einmal vergolten werden. Sollte es also Rußland unwahrscheinlicherweise gelingen, den Yankees und Briten tüchtig eins auf die Hüte zu geben, empfände ich wahrscheinlich mehr als jene »klammheimliche Freude« des Göttinger Mescaleros, den Bittner natürlich kennt. Allerdings steht zu befürchten, in diesem Fall ginge gleich der ganze Planet in Scherben. Schließlich ist er mit Atomwaffen gespickt. Und sicherlich wird der eine oder andere »Dumpfbacken« im Ernstfall genug Dünnschiß haben, um auf den berühmten roten Knopf zu drücken.

Vielleicht hätte die Menschheit auch dieses Schicksal durchaus verdient. Hat der Homo Sapiens nicht schon vor rund 100.000 Jahren emsig unter der irdischen Flora und Fauna, und überdies unter konkurrierenden Zweibeinern aufgeräumt? Für einige Historiker, die sich gegenwärtig lieber nicht zu Wort melden, setzte sich die überraschende »kognitive Revolution« des Altsteinzeitlers vor allem in Ausrottungsstrategien und hirnverbrannten, selbstquäle-rischen, listig als »heilig« verbrämten Denkmalsetzungen à la Tempeln und Pyramiden um. Im Grunde heißt Imperialismus: nichts so zu lassen, wie es ist, sofern man es nicht selber erschaffen hat. Und dummerweise haben die Angelsachsen weder die eigenen Bandscheiben noch die Milchstraße noch die Ukraine noch das Mammut, die Säbelzahnkatze oder das Bison erschaffen. Also weg damit. Um 1900 hieß das Ärgernis Philippinen – man überzog es mit Feuer und Cholera. Im Februar 1945 störte das mit Flüchtlingen vollgestopfte Dresden. Um 1965 wurden die Vietnamesen frech. Und so weiter und so fort?

Man könnte höhnen: dieser Greis mit seinen Untergangs-phantasien hat gut reden! Der hat doch sowieso nicht mehr viel zu verlieren. Wir dagegen besitzen ein wenn auch von Hypothek belastetes Zweifamilienhaus mit Wandtafel-großem Farbfernsehschirm und fünf Enkeln! Eben. An die und deren Sprößlinge dachte ich gerade.

* https://www.rubikon.news/artikel/die-ukrainische-vorgeschichte, 26. Februar 2022
** https://www.rubikon.news/artikel/angeschlagene-friedenstaube, 26. Februar 2022
*** https://www.rubikon.news/artikel/das-russische-motiv,
1. März 2022
**** »Russland erklärt den Straussianern den Krieg«, https://www.voltairenet.org/article215903.html, 8. März 2022

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