Mittwoch, 29. Juni 2022
Am Seibtisch
2000 / 2009


In der renommierten Monatszeitschrift Merkur (Ausgabe März 2000) nimmt der Göttinger Literaturprofessor Gustav Seibt eine Bücherumschau zum Thema »Kapita-lismus als Lebensform« vor. Angeblich hat er auch das kurz zuvor erschienene Schwarzbuch Kapitalismus von Robert Kurz gelesen. Menschliche Kommunikation in gesellschaftlichen Institutionen durch eine paradoxe Kommunikation der Waren und ihrer Preise untereinander auf einem anonymen Markt zu ersetzen, stelle für Kurz den Sündenfall des Kapitalismus dar. In einer Revolte der Basis wolle Kurz die Abstraktionen der Moderne wieder rückgängig machen – was wohl nur mit einem Zusammenbruch aller überlokalen Strukturen einhergehen könne. »Allen Ernstes« gedenke Kurz, den stummen Preismechanismus durch die bewußte Selbstverständigung der Akteure zu ersetzen. »Die wüste Materialschlacht von Kurz' autodidaktisch zusammengeschustertem Werk ist bemerkenswert lediglich als Symptom: dafür, daß eine materialistische Fundamentalkritik am Kapitalismus offenbar nur noch um den Preis des Sektierertums zu haben ist. Daß die Anonymisierung der Wirtschaftspro-zesse nicht nur Entfremdung und Ausbeutung bedeutet, sondern – ebenso wie die Arbeitsteilung – vermutlich die dauerhafteste Garantie für die individuellen Freiheiten der Moderne sein könnte, dieser Gedanke kommt Kurz nicht.«

Gediegenes Parkett unter den Füßen, dürfte Gustav Seibts Schreibtisch kaum auf ein Obdachlosenasyl, einen Fabrikhof oder gar eine Müllhalde am Rande Kalkuttas blicken. Seibt nimmt die klassische Warte des Privile-gierten und des Eurozentrierten ein. Auch solche verbreiteten Phänomene wie Arbeits- und Sozialämter, Prostitution, Massenverblödung, Humanes Bomben, Videoüberwachung sind für Seibt Phantome. Das von ihm ein paar Absätze weiter angeführte »Entsetzen Webers angesichts der seelischen Verödung in der Berufserfül-lung« ist ihm so fremd wie die Öde, die sich in der nächsten Fußgängerzone, in den Gewerbegebieten und in den Slums dieser Welt besichtigen läßt. Die Wirtschafts-prozesse sind eben zu anonym. Beeinflussungen zwischen unseren mobilen und stationären Automaten – die für das Seibtsche Freiheitsgefühl sorgen – und gewissen überseeischen Wirbelstürmen oder Hungersnöten auszumachen, scheitert am neoliberalen Nebel. Seibt hofft darauf, in einer Demokratie seien alle frei – und manche freier. Unsere Millionenerben beispielsweise haben für ihre individuelle Freiheit nicht den Preis jener »Entfremdung und Ausbeutung« zu zahlen, die Professor Seibt recht lässig in Kauf nimmt, weil er sie ohnehin anderen aufgebürdet weiß. Zum Glück verbietet mir die Gewaltfreie Kommunikation nach der Schule Marshall Rosenbergs, dies eine Unverschämtheit zu nennen.

Kurz dagegen widmet sich all den peinlich häßlichen Zügen der »schönen Maschine« Kapitalismus (Adam Smith) ausführlich. Damit tut er im Grunde nichts anderes, als ständig auf dem von Seibt vermißten Gedanken herumzuhacken. Nebenbei läßt Kurz keinen Zweifel daran, nicht der Geborgenheit patriarchal-feudaler Strukturen nachzutrauern, wenn er den stummen Preismechanismus, wie schon angeführt, durch Absprachen zwischen den Akteuren ersetzt haben will. So etwas wagen sich unsere versklavten seibten Gehirne, die auch gerne in Parlamentsfraktionen von »Linksparteien« dümpeln, natürlich überhaupt nicht mehr vorzustellen. Wobei es in erster Linie tatsächlich nur aufs Vorstellen ankommt, aufs Darandenken – also nicht etwa darauf, ob dies alles »realistisch«, nämlich machbar sei. Leute wie Marx, Adorno, Kurz liefern Beschreibungen: dessen, was ist, und dessen, was wünschenswert ist. Sie sind kritische Theoretiker. Indem sie ihre Kritik konsequent zu Ende denken, setzen sie sich gern der Gefahr aus, von einem Gustav Seibt zum »Sektierer« gestempelt zu werden, empfinden sie dies doch im Zeitalter der Vermassung und Gleichschaltung eher als Auszeichnung.

Was Wunder, wenn Seibt ein autodidaktisches, also in eigener Regie vorgenommenes Studium ebenfalls für ein Vergehen wider den Zeitgeist und die sogenannte Globalisierung halten muß. Bei so etwas kann nur Flickschusterei herauskommen. Allerdings scheint Seibt den Wälzer, den er anpinkelt, lediglich überflogen zu haben. Er könnte sonst niemals behaupten, was die realen Folgen der frühliberalen Lehren a lá Smith, Kant, Bentham gewesen sein sollen, bleibe bei Kurz noch unklarer als bei den ähnlichen Zurechnungen an die Vordenker des Kommunismus. Es bleibt nicht unklar, wie ich nach wiederholter Lektüre der 800 Seiten feststellen kann. In dieser genealogischen Aufrollung liegt gerade eine Stärke der Kurzschen Analyse. Aber womöglich hat Seibt sie durchaus verfolgt, nur überstieg sie sein Sehvermögen? Dies scheint nämlich beim Merkur Tradition zu haben. 1980 legte Wolfgang Hädecke in der Jahresschrift Scheidewege eine ausgezeichnete Betrachtung des Buches Die Perfektion der Technik von Friedrich Georg Jünger vor. Damals war es Max Bense, der Jüngers überragende Untersuchung für den Merkur besprach – indem er sie verriß. Hädecke bemerkt dazu nur, Benses Kritik stelle ein Beispiel »hochintelligenter Blindheit« vor Jüngers Buch und den technischen Phänomenen dar.

Nebenbei empfiehlt es sich, die beiden genannten Werke von Kurz und Jünger parallel zu lesen, da sie einander ergänzen. Als Nichtmarxist unterschätzt Jünger die Entfremdung, die sich völlig unabhängig vom Grad der Technisierung und der Organisation aus der Wertform ergibt. Diese drischt der Vielfalt der Welt ihre sinnlichen Qualitäten aus, um dafür das quantitative Denken zu züchten, das heute die Welt so gut wie absolut beherrscht. Dafür unterschätzt Kurz die Entfremdung, die unabhängig von der Produktionsweise und den Eigentumsverhält-nissen in jeder großangelegten Maschinerie lauert. Angenommen, Hessens Ministerpräsident Koch wirft der Autohalde namens Opel Rüsselsheim (2009) nicht nur 300 Millionen Euro in den Rachen, sondern übergibt sie irgendeiner rotgrünen Zelle zwecks Produktion von Solarmobilen – durch diesen neuen Anstrich wird dieselbe Maschinerie nicht über Nacht zu einem Streichelzoo. Warum nicht? Professor Seibt verrät uns den Grund:

Nachdem er Kurz abgefertigt hat, ist er nämlich so freundlich oder einfältig, ihm noch schnell ein paar Waffen in die Hand zu drücken. Mit Max Weber, Werner Sombart und Max Scheler – auf die sich Kurz nicht oder nur am Rande stützt – fährt er etliche lange Spalten auf, die durchweg in die Kurzsche Kerbe hauen. Wenn jene Autoren befinden, der Kapitalismus verdanke sich eher geistigen und religiösen Quellen als technischen Fortschritten oder auch als Besitzverhältnissen, so ist das ohne Zweifel bedenkenswert, ändert aber am Ergebnis nichts. Im Ergebnis nimmt die Schöne Maschine einen totalitären, selbstherrlichen Zug an, der sie unreformierbar macht. Darauf ziele die vielzitierte Rede vom »stahlharten Gehäuse« ab, referiert Seibt. »Hat es sich genügend entwickelt und ausgedehnt, kann es irgendwann auch ohne seine geistig-religiösen Voraussetzungen existieren – in den veräußerlichten Sachzwängen eines abstrakten Wirtschaftssystems, das einen nahezu naturgeschicht-lichen Eigensinn entwickelt.« Seibt betont sogar, es handle sich um ein System, »das sich seine Menschen immer wieder formt«. Ihn selber natürlich nicht.
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