Dienstag, 28. Juni 2022
Spitzel
ziegen, 20:42h
2011
Vergleichen wir die Undurchsichtigkeit der üblichen Marionettendemokratie mit dem abgegriffenen Eisberg, stellt das Heer der Spitzel, Agenten und Provokateure, die sich bei jeder Gipfelkonferenz und den sie begleitenden Demonstrationen auf die Füße treten, in der Tat nur dessen Spitze dar. Aber schon in dieser finden seit dem Altertum erstaunlich viele Arbeitsplätze Platz. Selbst Jesus wurde bekanntlich nicht aus doktrinären, vielmehr pekuniären Gründen verraten. Wie Bernt Engelmann erwähnt, hielten es deutsche Obrigkeiten insbesondere nach den Bauernerhebungen um 1525 für angebracht, ihren jeweiligen Einflußbereich mit einem Netz aus Spitzeln zu überziehen. In IIja Ehrenburgs lesenswertem Babeuf-Roman Die Verschwörung der Gleichen wimmelt es nur so von Spitzeln. Unter dem »Direktorium« kommt es (um 1800) sogar zu einem Streik der Pariser Spitzel, weil sie nicht mehr in wertlosem Papiergeld entlohnt werden möchten. Sie pokern sozusagen um Judas' Silberlinge.
Entscheidender ist jedoch, daß es sich bei der Demokratie von vorne bis hinten um ein Spiel mit gezinkten Karten handelt. Jeder Politiker muß vor allem erlernen, wie man im Stillen Fäden zieht, wie man erpreßt, Fehler vertuscht, Wahlversprechen bricht und sich ausschließlich auf Kosten des Gegners profiliert. Vor den Kulissen macht er der sogenannten Öffentlichkeit zuliebe den »Schöndünster« (E. G. Seeliger), während er hinter ihnen Kuhhandel treibt. Nach dem bewährten Spion und Schriftsteller Victor Serge stellten hier die Bolschewisten keine Ausnahme dar. Statt Räterepublik Verrätertum. Wären alle gemeinschaftlichen Belange und Vorgänge – etwa Einkünfte, politische Absprachen, berufliche und militärische Pläne – transparent, bräche jedes Herrschaftssystem auf der Stelle zusammen. Herrschaft braucht Dunkelheit, viele Grauzonen – und jede Menge Feinde. Nur mit deren Hilfe kann die Marionettendemokratie jede Geheimhaltung und jede Schweinerei rechtfertigen. Hätte sie's nur mit freundlichen Bürgern und Nachbarn zu tun, wäre sie überflüssig. Doch dann könnten Heckler & Koch ihre Sturmgewehre nicht mehr nach Afghanistan oder Georgien liefern – und wohin dann mit all den Neid und Haß schürenden Lobbyisten, Politikern und Spitzeln? Wie sich versteht, müssen diese Feinde in den schwärzesten Farben gemalt werden. George Kennan galt nach 1945 als »größter Kreml-Experte« der US-Regierung. Auf diese Zeit des »Kalten Krieges« zurückblickend, stellte er laut Tim Weiner 1996 fest: »Aufgrund unserer Kriegserfahrungen hatten wir uns daran gewöhnt, einen großen Feind vor uns zu haben. Der Feind muß immer im Zentrum stehen. Er muß absolut böse sein.«
Zum 60. Jahrestag des ostdeutschen Ministeriums für Staatssicherheit bringt die Junge Welt ein Interview mit Werner Großmann und Wolfgang Schwanitz, den beiden letzten noch lebenden Stellvertretern des Ministers Erich Mielke. Ihre Äußerungen klingen selbstverständlich etwas anders als beispielsweise ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vom 26. April 2009, in dem der britische Historiker Tony Judt mit der Bemerkung zitiert wird, die DDR habe sich nicht vom mörderischen Hitlerfaschismus unterschieden, die Bezeichnung »Unrechtsregime« sei »verharmlosend«. Die Stasi habe »nicht nur die Funktion und Praxis der Gestapo, sondern viele ehemalige Gestapoleute und Informanten übernommen … Politische Opfer des neuen Regimes [der späteren DDR] wurden von Ex-Polizisten verhaftet, von Ex-Nazirichtern verurteilt und in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, die der neue Staat en bloc übernommen hatte, von ehemaligen KZ-Wächtern bewacht.«
Großmann und Schwanitz begnügen sich damit, solche gemeingefährlichen Verharmlosungen des deutschen Faschismus, die von einem als seriös geltenden Blatt verbreitet würden, Schwachsinn zu nennen. Man kann dem Schwachsinn Antworten der Bundesregierung vom 29. Januar 2008 auf Fragen der FDP-Fraktion entgegenhalten, die Großmann und Schwanitz zu Beginn des Interviews erwähnen. »Nach den Einstellungsricht-linien der Volkspolizei und des MfS war die Einstellung von NSDAP-Mitgliedern nicht gestattet.« Eine Stichprobenanalyse für den Mitgliederbestand des Jahres 1953 habe auch keine NSDAP-Mitglieder feststellen können. Auch die Beschäftigung von Polizisten und Geheimagenten des Dritten Reiches habe den Einstel-lungsrichtlinien widersprochen. »Daran hat sich die DDR-Staatssicherheit prinzipiell gehalten.« Gegenteilige Aussagen in älterer Forschungsliteratur seien anhand der BStU-Akten durchweg falsifiziert worden, mithin als »Irr-tümer« oder Fälschungen erkannt. Laut Schwanitz gab es noch nicht einmal ehemalige Wehrmachtsoffiziere im MfS.
Doch all die bekannten, gebetsmühlenartig wiederholten Verleumdungen des »Unrechtstaats« DDR, seiner »maroden« Wirtschaft und so weiter reißen nicht ab. Sie folgen dem bewährten Muster Haltet den Dieb! Je schlechter ich die Gegenseite mache, umso besser stehe ich selber da, beispielsweise mit meinem von Nazis gegründeten BKA. Laut Schwanitz wurden nach der »Wende« im Rahmen eingehender Ermittlungen unsrer Justiz gegen mehr als 100.000 Ostdeutsche Verfahren eingeleitet. »Am Ende wurden 289 Personen verurteilt, davon 19 mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Unter diesen Verurteilten waren ganze 20 beim MfS. Zwölf erhielten eine Geldstrafe, acht eine Freiheitsstrafe, wovon sieben zur Bewährung ausgesetzt wurden. Es gab nicht einen einzigen nachweisbaren Fall von Mord, Folter, Zwangsadoption oder Einweisung in die Psychatrie – also kriminelle Vorfälle, von denen fortgesetzt behauptet wird, es habe sie gegeben.« Folgerichtig habe Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher, einst bei der Berliner Sonderstaats-anwaltschaft II mit jenen Verfahren beschäftigt, unmißverständlich erklärt: »Nach dem Stand der Ermittlungen ist eine Bewertung des MfS als kriminelle Organisation nicht mehr zu halten.« Die Summe von »Exzessen« sei nicht auffallend und nicht größer als in vergleichbaren Behörden der Bundesrepublik. Man stelle sich vor, Bild warte mit der Schlagzeile Mielke war in Wahrheit Waschlappen auf.
Gleichwohl räumen die beiden Stasi-Häuptlinge ein, ihre Behörde sei, vor allem nach innen gerichtet, oft falsch oder überzogen vorgegangen. »Das MfS wurde zum Vollstrecker einer verfehlten Sicherheitspolitik gemacht. Es hat objektiv dazu beigetragen, die Entfaltung der sozialistischen Demokratie und konstruktiver Kritik zu behindern.« Zuvielen Kritikern sei sofort die Feindschaft zum System unterstellt worden. Und eben diese Feindschaft konnte man sich nach den eigenen Worten der Häuptlinge nicht leisten. »Die meisten MfS-Angehörigen wollten einen anderen, einen besseren Sozialismus als den, den wir hatten.« Das kann man glauben oder nicht. »Aber das setzte voraus, daß der Sozialismus, den wir bereits geschaffen hatten, weiter existierte.« Ergo durfte am System nicht gerüttelt werden. Es durfte nicht in Frage gestellt werden. Warum eigentlich nicht?
Da es jedem System mißfällt – auch der Bonner oder Berliner Republik – in Frage gestellt zu werden, liegt meine Antwort auf der Hand. Es gab gar keinen Sozialismus. Vielmehr war das Motiv wie überall: Die Mächtigen möchten oben bleiben, die Steuermänner wünschen recht zu behalten, alle NutznießerInnen bangen um ihre Privilegien. Ein gutes oder reformierbares System hätte selbstverständlich gar keinen Anlaß, Angst vor Wühlarbeit und Umsturz zu haben. Es braucht nicht »geschützt« zu werden. Seine Sicherheit läge in der Dankbarkeit, der Offenheit, dem gegenseitigen Vertrauen aller, die es aufgebaut haben und tragen. Aber das räumen Großmann/Schwanitz lieber nicht ein. Vermutlich würden sie es noch nicht einmal begreifen. Deshalb stellen sie auch nie das »geheimdienstliche« Wirken ihrer Behörde nach außen in Frage. Für alle Geheimniskrämerei gilt ja, daß sie in offenen Gesellschaften oder Gruppen, in basisdemo-kratisch und durchschaubar organisierten also, völlig überflüssig, ja vergeblich wäre. Was will man da ausspionieren? Wenn alles am Schwarzen Brett hängt und jeder einen Safeschlüssel hat wie etwa in anarchistischen Kommunen? Wenn die Buchführung der Republik lückenlos im Internet steht, wie beispielsweise in Konräteslust? Wenn nichts verborgen oder verschleiert werden muß, weil niemand den Vorwurf zu fürchten hat, sich zu bereichern oder anderen Unrecht zu tun? Nein, »infiltriert« werden können nur Geheimbünde wie RAF, Al Qaida, Autonome – falls sie nicht sowieso von Agenten des kapitalistischen Staates inspiriert worden sind.
Die Ahnung, das weltweite geheimdienstliche Wirken brächte ungleich mehr Verderben als die bösen Umtriebe, die es (vorgeblich) einzudämmen suche, beschleicht einen nicht erst bei der Lektüre von Tim Weiners dickleibiger und belegreicher CIA-Geschichte, die nebenbei jedem Reformisten in Ersatz des dort befindlichen Brettes vor die Stirn genagelt werden müßte, damit er sie auch wirklich lese. Ein lediglich 60 Seiten starkes Kapitel aus dem 1995 erschienenen Sachbuch Tod in Berlin von Peter Niggl und Hari Winz genügt. Das Kapitel versucht den 1983 verübten Bombenanschlag auf das Maison de France und die Aktivitäten des berüchtigen »Topterroristen« Carlos und seiner MitstreiterInnen oder Konkurrenten zu beleuchten. Diese »schmutzigen« Aktivitäten blieben undurchsichtig genug, obwohl sie »offensichtlich unter den Augen fast aller Geheimdienste« des westlichen und östlichen Lagers stattfanden, wie Niggl und Winz belegen können. Auch das MfS war mit von der Partie. Es diente sogar als geduldetes Zwischenlager für die 24 Kilo Sprengstoff, die dann in dem Konsulatsgebäude am Kurfürstendamm explodierten (ein Toter, 23 zum Teil schwer Verletzte). Die »Abwehr« der ostdeutschen Kommunisten hatte lediglich taktische Bedenken – ansonsten war jedes Mittel im Kampf fürs gute Ziel gesegnet. Die anderen – PFLP (Palästina), Mossad (Israel), ETA (Baskenland), RAF, CIA – hielten es selbstverständlich genauso. Man unterhält Geschäfts-beziehungen zu Waffenhändlern* mit SS-Vergangenheit, verdient im Drogenhandel, setzt Agentinnen als Verführerinnen ein, spielt dem Gegner »trojanische Pferde« zu, jubelt ihm »Maulwürfe« unter, dreht Agenten um, erpreßt oder übertölpelt Richter, lügt den verantwortlichen Politikern die Hucke voll und so weiter, grad wie es in Tausenden von unterhaltsamen Romanen zu lesen ist. Übrigens wimmelt Weiners Buch von Beispielen dafür, daß die PolitikerInnen, US-Präsidenten voran, in der Regel die ernüchternden Wahrheiten auch gar nicht hören möchten. Sie wünschen ihr Bild von der Welt bestätigt – und wenn diese Trugbilder dann zerstäuben, ob in Wüstenreichen oder nicht, setzt es auch in den »Diensten« Ohrfeigen oder Leichen.
Im Juli 2010 veröffentlichte die Washington Post eine Studie über die Lage an der US-Geheimdienstfront, die einem ebenfalls sowohl das Gruseln lehren wie Gelächter bescheren konnte. Danach hat das Land der unbegrenzten Möglichkeiten 1.271 staatliche Organisationen nebst 1.931 Privatfirmen zu bieten, die sich der Terrorbekämpfung, der Inneren Sicherheit und dem Sammeln von Geheim-material widmen. Sie beschäftigen 854.000 Mitarbeiter-Innen. Die Stadt Washington weist nur 602.000 Einwoh-nerInnen auf. Allein die 16 offiziellen Spionagebehörden verfügten nach Schätzungen über einen Jahresetat von mindestens 40 Milliarden Dollar. In diesem kostspieligen und undurchschaubaren Dschungel seien Verschwendung, Pannen, Pleiten, Chaos programmiert. Es handle sich ohne Zweifel um einen Wildwuchs, der außer Kontrolle gerate, schlug das Blatt Alarm. Das hätte es eigentlich 2007 in seiner Rezension von Weiners CIA-Geschichte auch schon tun können. Aber wie sich versteht, verwahrte sich der gegenwärtige Geheimdienstchef David Gompert gegen solche unberechtigte Panikmache. Man erziele jeden Tag Erfolge – über die man nicht sprechen dürfe …
Ein gutes Jahr später feiern wir das 10jährige Jubiläum von 9/11.
* Nach Patrik Baab / Robert E. Harkavy: Im Spinnennetz der Geheimdienste, Frankfurt/Main 2017, bes. S. 63 und 202–10, mischte die DDR-Führung in den 1980er Jahren leider auch unbedenklich bei heimlichen Waffenlieferungen an Regierungen oder Milizen mit, die sie offiziell als »volksfeindlich« zu brandmarken pflegte, etwa Iran, Südafrika, Contras. Heiliger Zweck der betrüblichen Übung: Geld. Es ging um Zigmillionen – für den Aufbau des heimischen Sozialismus …
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Vergleichen wir die Undurchsichtigkeit der üblichen Marionettendemokratie mit dem abgegriffenen Eisberg, stellt das Heer der Spitzel, Agenten und Provokateure, die sich bei jeder Gipfelkonferenz und den sie begleitenden Demonstrationen auf die Füße treten, in der Tat nur dessen Spitze dar. Aber schon in dieser finden seit dem Altertum erstaunlich viele Arbeitsplätze Platz. Selbst Jesus wurde bekanntlich nicht aus doktrinären, vielmehr pekuniären Gründen verraten. Wie Bernt Engelmann erwähnt, hielten es deutsche Obrigkeiten insbesondere nach den Bauernerhebungen um 1525 für angebracht, ihren jeweiligen Einflußbereich mit einem Netz aus Spitzeln zu überziehen. In IIja Ehrenburgs lesenswertem Babeuf-Roman Die Verschwörung der Gleichen wimmelt es nur so von Spitzeln. Unter dem »Direktorium« kommt es (um 1800) sogar zu einem Streik der Pariser Spitzel, weil sie nicht mehr in wertlosem Papiergeld entlohnt werden möchten. Sie pokern sozusagen um Judas' Silberlinge.
Entscheidender ist jedoch, daß es sich bei der Demokratie von vorne bis hinten um ein Spiel mit gezinkten Karten handelt. Jeder Politiker muß vor allem erlernen, wie man im Stillen Fäden zieht, wie man erpreßt, Fehler vertuscht, Wahlversprechen bricht und sich ausschließlich auf Kosten des Gegners profiliert. Vor den Kulissen macht er der sogenannten Öffentlichkeit zuliebe den »Schöndünster« (E. G. Seeliger), während er hinter ihnen Kuhhandel treibt. Nach dem bewährten Spion und Schriftsteller Victor Serge stellten hier die Bolschewisten keine Ausnahme dar. Statt Räterepublik Verrätertum. Wären alle gemeinschaftlichen Belange und Vorgänge – etwa Einkünfte, politische Absprachen, berufliche und militärische Pläne – transparent, bräche jedes Herrschaftssystem auf der Stelle zusammen. Herrschaft braucht Dunkelheit, viele Grauzonen – und jede Menge Feinde. Nur mit deren Hilfe kann die Marionettendemokratie jede Geheimhaltung und jede Schweinerei rechtfertigen. Hätte sie's nur mit freundlichen Bürgern und Nachbarn zu tun, wäre sie überflüssig. Doch dann könnten Heckler & Koch ihre Sturmgewehre nicht mehr nach Afghanistan oder Georgien liefern – und wohin dann mit all den Neid und Haß schürenden Lobbyisten, Politikern und Spitzeln? Wie sich versteht, müssen diese Feinde in den schwärzesten Farben gemalt werden. George Kennan galt nach 1945 als »größter Kreml-Experte« der US-Regierung. Auf diese Zeit des »Kalten Krieges« zurückblickend, stellte er laut Tim Weiner 1996 fest: »Aufgrund unserer Kriegserfahrungen hatten wir uns daran gewöhnt, einen großen Feind vor uns zu haben. Der Feind muß immer im Zentrum stehen. Er muß absolut böse sein.«
Zum 60. Jahrestag des ostdeutschen Ministeriums für Staatssicherheit bringt die Junge Welt ein Interview mit Werner Großmann und Wolfgang Schwanitz, den beiden letzten noch lebenden Stellvertretern des Ministers Erich Mielke. Ihre Äußerungen klingen selbstverständlich etwas anders als beispielsweise ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vom 26. April 2009, in dem der britische Historiker Tony Judt mit der Bemerkung zitiert wird, die DDR habe sich nicht vom mörderischen Hitlerfaschismus unterschieden, die Bezeichnung »Unrechtsregime« sei »verharmlosend«. Die Stasi habe »nicht nur die Funktion und Praxis der Gestapo, sondern viele ehemalige Gestapoleute und Informanten übernommen … Politische Opfer des neuen Regimes [der späteren DDR] wurden von Ex-Polizisten verhaftet, von Ex-Nazirichtern verurteilt und in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, die der neue Staat en bloc übernommen hatte, von ehemaligen KZ-Wächtern bewacht.«
Großmann und Schwanitz begnügen sich damit, solche gemeingefährlichen Verharmlosungen des deutschen Faschismus, die von einem als seriös geltenden Blatt verbreitet würden, Schwachsinn zu nennen. Man kann dem Schwachsinn Antworten der Bundesregierung vom 29. Januar 2008 auf Fragen der FDP-Fraktion entgegenhalten, die Großmann und Schwanitz zu Beginn des Interviews erwähnen. »Nach den Einstellungsricht-linien der Volkspolizei und des MfS war die Einstellung von NSDAP-Mitgliedern nicht gestattet.« Eine Stichprobenanalyse für den Mitgliederbestand des Jahres 1953 habe auch keine NSDAP-Mitglieder feststellen können. Auch die Beschäftigung von Polizisten und Geheimagenten des Dritten Reiches habe den Einstel-lungsrichtlinien widersprochen. »Daran hat sich die DDR-Staatssicherheit prinzipiell gehalten.« Gegenteilige Aussagen in älterer Forschungsliteratur seien anhand der BStU-Akten durchweg falsifiziert worden, mithin als »Irr-tümer« oder Fälschungen erkannt. Laut Schwanitz gab es noch nicht einmal ehemalige Wehrmachtsoffiziere im MfS.
Doch all die bekannten, gebetsmühlenartig wiederholten Verleumdungen des »Unrechtstaats« DDR, seiner »maroden« Wirtschaft und so weiter reißen nicht ab. Sie folgen dem bewährten Muster Haltet den Dieb! Je schlechter ich die Gegenseite mache, umso besser stehe ich selber da, beispielsweise mit meinem von Nazis gegründeten BKA. Laut Schwanitz wurden nach der »Wende« im Rahmen eingehender Ermittlungen unsrer Justiz gegen mehr als 100.000 Ostdeutsche Verfahren eingeleitet. »Am Ende wurden 289 Personen verurteilt, davon 19 mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Unter diesen Verurteilten waren ganze 20 beim MfS. Zwölf erhielten eine Geldstrafe, acht eine Freiheitsstrafe, wovon sieben zur Bewährung ausgesetzt wurden. Es gab nicht einen einzigen nachweisbaren Fall von Mord, Folter, Zwangsadoption oder Einweisung in die Psychatrie – also kriminelle Vorfälle, von denen fortgesetzt behauptet wird, es habe sie gegeben.« Folgerichtig habe Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher, einst bei der Berliner Sonderstaats-anwaltschaft II mit jenen Verfahren beschäftigt, unmißverständlich erklärt: »Nach dem Stand der Ermittlungen ist eine Bewertung des MfS als kriminelle Organisation nicht mehr zu halten.« Die Summe von »Exzessen« sei nicht auffallend und nicht größer als in vergleichbaren Behörden der Bundesrepublik. Man stelle sich vor, Bild warte mit der Schlagzeile Mielke war in Wahrheit Waschlappen auf.
Gleichwohl räumen die beiden Stasi-Häuptlinge ein, ihre Behörde sei, vor allem nach innen gerichtet, oft falsch oder überzogen vorgegangen. »Das MfS wurde zum Vollstrecker einer verfehlten Sicherheitspolitik gemacht. Es hat objektiv dazu beigetragen, die Entfaltung der sozialistischen Demokratie und konstruktiver Kritik zu behindern.« Zuvielen Kritikern sei sofort die Feindschaft zum System unterstellt worden. Und eben diese Feindschaft konnte man sich nach den eigenen Worten der Häuptlinge nicht leisten. »Die meisten MfS-Angehörigen wollten einen anderen, einen besseren Sozialismus als den, den wir hatten.« Das kann man glauben oder nicht. »Aber das setzte voraus, daß der Sozialismus, den wir bereits geschaffen hatten, weiter existierte.« Ergo durfte am System nicht gerüttelt werden. Es durfte nicht in Frage gestellt werden. Warum eigentlich nicht?
Da es jedem System mißfällt – auch der Bonner oder Berliner Republik – in Frage gestellt zu werden, liegt meine Antwort auf der Hand. Es gab gar keinen Sozialismus. Vielmehr war das Motiv wie überall: Die Mächtigen möchten oben bleiben, die Steuermänner wünschen recht zu behalten, alle NutznießerInnen bangen um ihre Privilegien. Ein gutes oder reformierbares System hätte selbstverständlich gar keinen Anlaß, Angst vor Wühlarbeit und Umsturz zu haben. Es braucht nicht »geschützt« zu werden. Seine Sicherheit läge in der Dankbarkeit, der Offenheit, dem gegenseitigen Vertrauen aller, die es aufgebaut haben und tragen. Aber das räumen Großmann/Schwanitz lieber nicht ein. Vermutlich würden sie es noch nicht einmal begreifen. Deshalb stellen sie auch nie das »geheimdienstliche« Wirken ihrer Behörde nach außen in Frage. Für alle Geheimniskrämerei gilt ja, daß sie in offenen Gesellschaften oder Gruppen, in basisdemo-kratisch und durchschaubar organisierten also, völlig überflüssig, ja vergeblich wäre. Was will man da ausspionieren? Wenn alles am Schwarzen Brett hängt und jeder einen Safeschlüssel hat wie etwa in anarchistischen Kommunen? Wenn die Buchführung der Republik lückenlos im Internet steht, wie beispielsweise in Konräteslust? Wenn nichts verborgen oder verschleiert werden muß, weil niemand den Vorwurf zu fürchten hat, sich zu bereichern oder anderen Unrecht zu tun? Nein, »infiltriert« werden können nur Geheimbünde wie RAF, Al Qaida, Autonome – falls sie nicht sowieso von Agenten des kapitalistischen Staates inspiriert worden sind.
Die Ahnung, das weltweite geheimdienstliche Wirken brächte ungleich mehr Verderben als die bösen Umtriebe, die es (vorgeblich) einzudämmen suche, beschleicht einen nicht erst bei der Lektüre von Tim Weiners dickleibiger und belegreicher CIA-Geschichte, die nebenbei jedem Reformisten in Ersatz des dort befindlichen Brettes vor die Stirn genagelt werden müßte, damit er sie auch wirklich lese. Ein lediglich 60 Seiten starkes Kapitel aus dem 1995 erschienenen Sachbuch Tod in Berlin von Peter Niggl und Hari Winz genügt. Das Kapitel versucht den 1983 verübten Bombenanschlag auf das Maison de France und die Aktivitäten des berüchtigen »Topterroristen« Carlos und seiner MitstreiterInnen oder Konkurrenten zu beleuchten. Diese »schmutzigen« Aktivitäten blieben undurchsichtig genug, obwohl sie »offensichtlich unter den Augen fast aller Geheimdienste« des westlichen und östlichen Lagers stattfanden, wie Niggl und Winz belegen können. Auch das MfS war mit von der Partie. Es diente sogar als geduldetes Zwischenlager für die 24 Kilo Sprengstoff, die dann in dem Konsulatsgebäude am Kurfürstendamm explodierten (ein Toter, 23 zum Teil schwer Verletzte). Die »Abwehr« der ostdeutschen Kommunisten hatte lediglich taktische Bedenken – ansonsten war jedes Mittel im Kampf fürs gute Ziel gesegnet. Die anderen – PFLP (Palästina), Mossad (Israel), ETA (Baskenland), RAF, CIA – hielten es selbstverständlich genauso. Man unterhält Geschäfts-beziehungen zu Waffenhändlern* mit SS-Vergangenheit, verdient im Drogenhandel, setzt Agentinnen als Verführerinnen ein, spielt dem Gegner »trojanische Pferde« zu, jubelt ihm »Maulwürfe« unter, dreht Agenten um, erpreßt oder übertölpelt Richter, lügt den verantwortlichen Politikern die Hucke voll und so weiter, grad wie es in Tausenden von unterhaltsamen Romanen zu lesen ist. Übrigens wimmelt Weiners Buch von Beispielen dafür, daß die PolitikerInnen, US-Präsidenten voran, in der Regel die ernüchternden Wahrheiten auch gar nicht hören möchten. Sie wünschen ihr Bild von der Welt bestätigt – und wenn diese Trugbilder dann zerstäuben, ob in Wüstenreichen oder nicht, setzt es auch in den »Diensten« Ohrfeigen oder Leichen.
Im Juli 2010 veröffentlichte die Washington Post eine Studie über die Lage an der US-Geheimdienstfront, die einem ebenfalls sowohl das Gruseln lehren wie Gelächter bescheren konnte. Danach hat das Land der unbegrenzten Möglichkeiten 1.271 staatliche Organisationen nebst 1.931 Privatfirmen zu bieten, die sich der Terrorbekämpfung, der Inneren Sicherheit und dem Sammeln von Geheim-material widmen. Sie beschäftigen 854.000 Mitarbeiter-Innen. Die Stadt Washington weist nur 602.000 Einwoh-nerInnen auf. Allein die 16 offiziellen Spionagebehörden verfügten nach Schätzungen über einen Jahresetat von mindestens 40 Milliarden Dollar. In diesem kostspieligen und undurchschaubaren Dschungel seien Verschwendung, Pannen, Pleiten, Chaos programmiert. Es handle sich ohne Zweifel um einen Wildwuchs, der außer Kontrolle gerate, schlug das Blatt Alarm. Das hätte es eigentlich 2007 in seiner Rezension von Weiners CIA-Geschichte auch schon tun können. Aber wie sich versteht, verwahrte sich der gegenwärtige Geheimdienstchef David Gompert gegen solche unberechtigte Panikmache. Man erziele jeden Tag Erfolge – über die man nicht sprechen dürfe …
Ein gutes Jahr später feiern wir das 10jährige Jubiläum von 9/11.
* Nach Patrik Baab / Robert E. Harkavy: Im Spinnennetz der Geheimdienste, Frankfurt/Main 2017, bes. S. 63 und 202–10, mischte die DDR-Führung in den 1980er Jahren leider auch unbedenklich bei heimlichen Waffenlieferungen an Regierungen oder Milizen mit, die sie offiziell als »volksfeindlich« zu brandmarken pflegte, etwa Iran, Südafrika, Contras. Heiliger Zweck der betrüblichen Übung: Geld. Es ging um Zigmillionen – für den Aufbau des heimischen Sozialismus …
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