Montag, 27. Juni 2022
Alle Kreter lügen
Um 2010


Ich will zunächst das Schauerdrama von der Luftbrücke und den Rosinenbombern streifen, das vor rund 60 Jahren in Berlin gegeben wurde. Es ist sehr beliebt. In einem fünfbändigen Brockhaus von 1971 hat es in einem Abschnitt über Berlins Geschichte die folgende Version. »Die gemeinsame Verwaltung der Militärbefehlshaber geriet seit 1947 in Schwierigkeiten, die sich 1948 seit der Währungsreform sowie dem Auszug der Sowjets aus dem Kontrollrat schnell verschärften. Am 24.6.1948 verhängten die Sowjets eine totale Blockade der W-Sektoren, die von den Amerikanern (Gen. Clay) durch Einrichtung der Luftbrücke (bis 12.5.1949) überwunden wurde. Die Spaltung wurde vollendet durch die gewaltsame Verdrängung des Magistrats aus Ost-B. (30.11.1948) und die dortige Konstituierung eines eigenen Magistrats.«

Somit hatten die bösen Kommunisten die Spaltung betrieben. Geht man im Internet etliche Treffer zum Suchbegriff »Luftbrücke« durch, liest man zu 95 Prozent nichts anderes, Wikipedia (Stand Mai 2009) einge-schlossen. Die vertragswidrige »Währungsreform« seitens der Westalliierten vom 20. Juni 1948 wird bestenfalls schöngeredet, meistens gar nicht erwähnt. Sie verstieß gegen das Potsdamer Abkommen; sie war die entschei-dende Spalterin. Da die sowjetischen BesatzerInnen befürchten mußten, Ostberlin werde von Unsummen entwerteter Reichsmark überschwemmt, sahen sie sich gezwungen, sämtliche Verkehrsverbindungen von und nach Westberlin zu sperren. Ihr Angebot, die Westber-linerInnen mit allen lebensnotwendigen Gütern zu versorgen, wurde selbstverständlich ausgeschlagen. Nahezu sämtliche Nachkriegsmaßnahmen der Westalliierten waren auf Spaltung, Antikommunismus und Schüren der Kriegshysterie angelegt, wie etwa Albert Norden in seinem Buch So werden Kriege gemacht! von 1950 nachweist. Ein neutrales Gesamtdeutschland mit der Hauptstadt Großberlin war nie erwünscht. Das heißt, die »Rosinenbomber« säten vor allem Zwietracht. Nebenbei erwies sich die Berliner Luftbrücke als mächtige Konjunkturspritze für westliche Flugzeugfabriken und Benzingroßhändler – und als »ein großes strategisches Übungsfeld«, das »alle früheren Erfahrungen mit der Luftversorgung im Krieg … völlig über den Haufen geworfen hat«, wie die Londoner Times im Februar 1949 jubelte. Laut Ralph Hartmann* wurde diese Einschätzung unter anderem vom Nazigeneral Hans Speidel geteilt, nachdem er sich in Konrad Adenauers »Sicherheits-berater« verwandelt hatte.

Kritische Darstellungen sucht man auch im Literatur-verzeichnis des Wikipedia-Artikels vergeblich – beispielsweise jenes Buch von Albert Norden, das 1968, überarbeitet und stark erweitert, schon in 4. Auflage erschien. Für Norden zeigen die Tatsachen, »daß alles Gerede über Blockade und Aushungerung der Westberliner bewußt Verleumdung, Erfindung und Provokation war. All die Beschränkungen, die die Westberliner damals ertragen mußten, die Verdunke-lungen und Stromsperren von 1948/49, die zeitweilige Massenarbeitslosigkeit« – all das gehe auf das Konto der westlichen Marschroute, nicht Verständigung sondern Konfrontation zu suchen. Trägt Norden zu dick auf? US-Präsident Truman skizzierte die Marschroute in seinem Mittsommerbericht 1948 ohne Zweifel verklausulierter. Norden zitiert von Seite 45: »Sollte die internationale Spannung nachlassen, dann würden wir unmittelbar auf die Probe gestellt werden, ob unsere Fabrikanten und Verteiler die Preise und Kosten schnell genug anpassen können, um Beschäftigung und Erzeugung ohne ernste Rückschläge aufrechtzuerhalten.« Im Klartext: wer die wirtschaftliche und soziale Krise und den Fall der Profitrate vermeiden will, muß emsig die internationale Spannung schüren. Frieden ist geschäftsschädigend.

Man hat mich gelegentlich gefragt, woher ich die Überzeugung nähme, von Leuten wie Norden nicht ähnlich belogen und ausgetrickst zu werden wie von seinen Widersachern? Der Journalist und Historiker Norden war hoher SED-Funktionär gewesen. Meine Überzeugung stützt sich auf mehrere Gesichtspunkte. Zunächst kann Norden das, was er »die Tatsachen« nennt, erstaunlich gut belegen. Wer die Geschehnisse, Quellen und Zitate, die Norden anführt, bezweifelt, kann sie also mit Hilfe seiner Angaben überprüfen. Als ausgefuchster Journalist führt er dabei am liebsten gegnerische oder zumindest neutrale Aussagen ins Feld. Beispielsweise läßt er Trumans Eingeständnis von der Politikerin und Schriftstellerin Claire Booth-Luce unterstreichen, die zeitweilig US-Botschafterin in Rom war. Passend zwischen Berlin- und Korea-»Konflikt« sagt sie der großbürgerlichen Pariser Wochenschrift La Vie Francaise am 18. Februar 1949: »Unser Volk will weder Krise noch Krieg, aber wenn es wählen müßte, dann würde es den Krieg wählen.« Es wählte ihn in der Tat unzählige Male. Allein im 20. Jahrhundert dürfte nicht ein Jahr zu finden sein, in dem die Yankees nicht über irgendeinen Landstrich dieses Planeten oder wenigstens einen Quertreiber hergefallen wären. Immer wurden dabei schnöde Gründe wie Öl oder Bananen (United Fruit Company) als Wedel der Friedenspalme ausgegeben.

Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wird die eingefleischte nordamerikanische Kriegslüsternheit sogar von einem hochdekorierten Generalmajor der US-Marineinfanterie bezeugt, den Norden erstaunlicherweise nicht heranzieht. Dafür taucht er in Arthur Millers Erinnerungen auf.** Smedley D. Butler, Autor des Buches War is a Racket von 1935, erklärte schon zwei Jahre zuvor in aller Öffentlichkeit, während seines rund 33jährigen Militärdienstes, der ihn über alle Kontinente führte, habe er vornehmlich als »erstklassiger Muskelmann« oder »Gangster« für das Big Business, die Wall Street, die Banker gearbeitet. Was die Zeit nach 1945 angeht, müßte eigentlich schon Weiners CIA-Geschichte reichen, die jedem unvoreingenommenen Leser alle Illusionen über Außenpolitik und den Menschen schlechthin rauben wird, die er noch hat. Auf Seite 60 der deutschen Ausgabe (von 2008) ist zu lesen, die Idee mit der separaten Bonner Währungsreform habe niemand anders als Frank Gardiner Wisner ausgeheckt. Er war damals für die »verdeckten Operationen« der jungen CIA zuständig und zählte zu deren stärksten Männern. Angeblich endete er im Irrsinn und erschoß sich 1965 in seinem Jagdhaus.

Damit habe ich schon den zweiten Gesichtspunkt angesprochen: ich ordne die Vorfälle, die es zu beurteilen gilt, historisch und weltanschaulich ein. Paßt das, was uns Norden erzählt, in mein Vorwissen, empfiehlt er sich also bereits als Gewährsmann. Aber entblöße ich mich damit nicht als vorurteilsbeladen? Man kann es so nennen. Fast jeder Mensch – es sei denn, er zählt zu den Schwammigen, die sich nie festlegen, weil sie im Gehirn statt Rinde nur Schlamm haben – beurteilt das ihm Begegnende durch seine Brille, deren Fassung von Jahr zu Jahr immer klarer, oft auch unumstößlich wird. Weder von der dummdreisten Aggressivität der Eroberer des nordamerikanischen Wilden Westens noch von der Farce jener deutschen »Entnazifizierung«, die schon wenige Monate nach Kriegsende von den pferdehüfigen US-Besatzern und ihrem aus Eiche geschnitzten Adenauer ungefähr so eifrig blockiert wurde wie später angeblich Berlin durch die Bolschewisten, erfährt man ja zum ersten Mal bei Norden. Hinsichtlich der »Entnazifizierung« kann ich beispielsweise Wie wir wurden, was wir sind von Bernt Engelmann (1980) und die Erinnerungen von Heinrich Hannover (1999) und Günther Schwarberg (2007) empfehlen. Statt »vorurteilsbeladen« könnte man meine Haltung allerdings auch »parteilich« nennen. Das wäre ein dritter Gesichtspunkt. In allen Fällen, wo ich nichts oder noch zu wenig weiß, schlage ich mich instinktiv auf die Seite (der Darstellung) der Schwachen, Angegriffenen, Unterdrückten, Betrogenen. Zu diesen zählte in der Nach-kriegszeit auch die Bevölkerung der Sowjetzone/DDR. Sie wurde von den Westmächten um ein geeintes, entmilitarisiertes und neutrales Deutschland betrogen.

Man könnte einwenden, ein auf Verständigung erpichter Mensch müsse damit rechnen, daß auch die Herrschenden oder ihre Sprachrohre zuweilen die Tatsachen, statt sie zu verdrehen, öffentlich anerkennen, also der Wahrheit verpflichtet seien. Damit wären wir bei einem vierten Gesichtspunkt. Meine Antwort lautet: rechnen Sie grundsätzlich damit, von jedem Menschen betrogen zu werden, allerdings insbesondere von Machthabern oder deren guthonorierten Sprachrohren. Dazu zählen laut dem Politikwissenschaftler Jörg Becker (Ossietzky 20/2009) seit Jahrzehnten auch PR-Agenturen. Allein in den jüngsten Balkankriegen der 90er Jahre waren Dutzende von ihnen engagiert. James Harff von der nordameri-kanischen Agentur Ruder Finn: »Es ist nicht unsere Aufgabe, Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.« Vielmehr gehe es darum, »Informationen auszustreuen und so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen, damit die Anschauungen, die mit unserer Sache im Einklang stehen, als erste öffentlichen Ausdruck finden. Schnelligkeit ist hier die Hauptsache. Wenn eine Information für uns gut ist, machen wir es uns zur Aufgabe, sie umgehend in der öffentlichen Meinung zu verankern. Denn uns ist klar, daß nur zählt, was einmal behauptet wurde. Dementis sind dagegen völlig unwirksam.« Als seinen größten PR-Erfolg bezeichnet Harff die Verwandlung der angeblich verfolgten bosnischen Muslime in Juden. So konnte der Westen den riesigen Antifaschismus-Bonus einheimsen, den ja 1999 auch Scharping/Fischer herbeilogen.

Das Niederschmetternde ist: man muß diese Verlogenheit offizieller Propaganda immer wieder entlarven, obwohl sie eigentlich längst bekannt sein müßte. Ich erinnere nur an ein Märchen aus dem Münchener Revolutionsjahr 1919, das Zeitzeuge Ernst Toller in seinem Buch Eine Jugend in Deutschland erwähnt: die Roten hätten den Leichen von gemeuchelten Gefangenen auch noch die Geschlechtsteile abgeschnitten und sie dann in Kehrichtfässer geworfen. Als man zwei Tage später wahrheitsgemäß erklärte, »in den Fässern hätten Fleischteile geschlachteter Schweine gelegen, niemand sei verstümmelt worden, hatte die erbärmliche Lüge ihre Wirkung getan.« Das Wüten der Weißen in München ist hoffentlich bekannt. Dergleichen Lügen sind heute, 100 Jahre später, kaum noch zu zählen. Dagegen stellen verklausulierte Bekenntnisse der jeweils Herrschenden, wie etwa von Truman, lediglich unumgängliche Ausnahmen dar; die Trumans haben das Problem, schließlich auch ihren Anhängern, Sprachrohrträgern und Kumpanen signalisieren zu müssen, wie der Hase laufen soll. Unverhüllter äußern sie sich unter Umständen lange nach den betreffenden Ereignissen in ihren Memoiren. Diese Äußerungen sind dann der Erziehung des verschlagenen Nachwuchses und der eigenen Eitelkeit geschuldet. Ungefähr dazwischen können wir ein Meeting ansiedeln, auf dem der designierte US-Außenminister John Foster Dulles schon im Januar 1949 vor Schriftstellern in Paris eingestand, hätte man gewollt, hätte man sich mit den Russen in Berlin ohne Zweifel ins Benehmen setzen können, statt die »Rosinen-bomber« anzuwerfen.* Man wollte ersichtlich nicht.

Mit solchen Betrachtungen zieht man sich allerdings unweigerlich das Keulenwort Verschwörungstheoretiker aufs Haupt. Die Bösewichte verlangen nur zu gern von uns, an das Gute im Menschen zu glauben. Nach treuherziger Leseart zockelte der Pharao auf seinem Esel durch die Scharen der Bauersleute, die im Nilschlamm umherstocherten, und rief ihnen zu: »Männer und Frauen, ich habe Lust euch zu knechten, macht ihr mit!?« Brutus ließ den Cäsar zunächst die Schneide seines Dolches prüfen, bevor er diesen unter seinem Gewand verbarg. Fugger schlug seine Gewinn- und Schmiergelderwartungen neben Luthers Thesen ans Kirchenportal. Die Explosion des US-Schlachtschiffes Maine im Hafen von Havanna 1898 löste das Kriegsgeheul der Yankees sicherlich nur aus Versehen aus. Die kleinen Imbisse, die der schillernde Verleger Eugène Merle um 1930 in seinem bei Paris gelegenen Landschlößchen gab, dienten ausschließlich der Anbahnung erotischer Eskapaden. Merles Günstling Georges Simenon laut Steve Trussel: »Alles, was uns gesagt wurde, war falsch. Ich sah Direktoren von Zeitungen, Minister, manchmal sogar Ministerpräsidenten wie Édouard Herriot, mit ihren Augen zwinkern, während sie über all ihre Verschwörungen plauderten. Wie sie über die Ankündigungen und Erklärungen lachten, die sie anderntags der Presse aufbinden würden. In Avrainville erhielt ich meine Ausbildung auf der politischen Bühne. Es ekelte mich ein- für allemal an.«

Verständlicherweise hüten sich diese nie miteinander verschworenen Führungskräfte davor, ihre Aktivitäten an die große Glocke zu hängen. Deshalb finden auch die Preisabsprachen unserer Branchenführer und die Einigung des SPD-Vorstandes darauf, ob der Wähler eher von einem schleimigen Steinmeier oder einem pockennarbigen Müntefering hinters Licht geführt werden könne, in der Regel nicht in der jeweils beliebtesten talkshow statt. Dort bevorzugt man Phrasen und Ablenkungsmanöver. Eine prominente Ausnahme haben wir erstaunlicherweise seit 27. Juni 2010 in dem italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano. Er äußerte sich aus Anlaß des 30. Jahrestages eines Flugzeugabsturzes, der sich erst Jahre später als Abschuß erwies, aber ansonsten noch immer kaum aufgeklärt ist, weil zahlreiche Regierungen, Generalstäbe, Geheimagenten und Justizbeamte nach Kräften bemüht waren, eben dies zu verhindern. Es gebe »Spuren einer Verschwörung«, erkühnte sich Napolitano zu erklären, vielleicht sogar einer »internationalen Intrige«, und dies gelte es in Erinnerung zu rufen. 1980 war eine italienische Linienmaschine (Itavia-Flug 870) unweit der Insel Ustica, Sizilien, ins Mittelmeer gefallen; alle 81 Insassen kamen um. Ursache sei entweder ein Bruch der Douglas DC-9 wegen Materialermüdung oder eine in der Maschine explodierende Bombe gewesen, hieß es sofort. Dummerweise wurde später das Wrack gebor-gen. 1999 stellte der hartnäckige Untersuchungsrichter Rosario Priore in einer Anklageschrift unmißverständlich fest, die Angelegendheit sei zielstrebig verschleiert worden. In Wahrheit hätten sich damals im angeblichen »Unglücks«-Gebiet mehr als zwei Dutzend »Kampfflug-zeuge« wohl verschiedener Nationen getummelt.*** Nach der am meisten bevorzugten Theorie sollte eine Maschine abgeschossen werden, in der Gaddafi zu einem Staatsbesuch nach Polen unterwegs war; durch eine Verwechslung habe es dann aber die baugleiche italienische Linienmaschine mit den 81 Passagieren erwischt. Nebenbei gab es während der folgenden Jahre im Zuge der Aufklärung beziehungsweise Vernebelung etliche weitere Tote durch vorsorgliche Zeugenbeseitigung. Die »Abwehrkräfte« übertrafen wieder einmal die Autoren unserer Spionage-Reißer.

Die größten Lügenbolde dieses Planeten sind ohne Zweifel die Staaten und ihre sogenannten Organe, einerlei, wer gerade am Ruder steht. Sie verstecken Rüstungsausgaben in Haushaltsposten für Altkleidersammlungen, erklären PfandflaschenanglerInnen und Karteileichen zu ordentlichen Erwerbstätigen, richten in Nordafrika »Friedenslager« ein, die 500 eigene Soldaten nebst einer Landebahn für Kampfflugzeuge beherbergen. Hin und wieder kommt es freilich auch in solchen »Friedenszeiten« zu mehr oder weniger erzwungenen Geständnissen der amtlich bestallten Frisöre. Stuttgarts Innenminister Heribert Rech stellte kürzlich auf einer Veranstaltung in Gechingen fest, zöge er alle seine verdeckten ErmittlerInnen aus den NPD-Gremien ab, würde die NPD in sich zusammenfallen. Im Berliner sogenannten mg-Prozeß, bei dem es um die berüchtigte Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nach Paragraph 129 geht, mußte zunächst Verfassungsschutzchef Heinz Fromm eingestehen, die »Erkenntnisse« eines wichtigen Informanten und Belastungszeugen beruhten lediglich auf »Hörensagen«; damit hatten sie den Beweiswert von Luft. Dann mußte das BKA zugeben, zwei wortradikale angebliche mg-Aufrufe in dem linken Blatt Interim selbst verfaßt zu haben, um Leute auf die BKA-Webseite zu locken. Diese war als »Honigtopf« präpariert: in der Absicht, lüsterne Besucher identifizieren und vielleicht überführen zu können.

Ob Falle, Lüge oder sonst eine Täuschung, die Staaten greifen notwendig dazu, um die Herrschaft ihrer Eliten abzusichern. Ohne Betrug ist Herrschaft undenkbar. Denn wer läßt sich schon gern beherrschen? Also müssen die Funktionäre oder Sprachröhren »gute« Gründe für die jeweiligen volksfeindlichen Maßnahmen finden, und deshalb lügen sie. Lüge verwandelt sich in Legitimation. Allerdings sind die lieben Untertanen von der betrügerischen Neigung keineswegs frei. Denn wie alle Staaten, lügen auch alle Menschen. Ersetzen wir »Herrschaft« durch »Macht«, sind auch unsere kleinen alltäglichen Lügen inclusive Selbstbetrug einbegriffen. Der begnadete Erzähler Tschechow hatte dafür eine gute Nase. Seine Menschen leiden an der Öde, Verstricktheit, Gemeinheit – und Verlogenheit ihres Daseins. In den Erzählungen Die Dame mit dem Hündchen und In der Schlucht wird dies ausdrücklich thematisiert. Sie könnten erst gestern erschienen sein. Wenn die Statistik einmal nicht lügt, dann mit dem oft angeführten Befund, während einer zehnminütigen Konversation belögen sich 60 Prozent aller GesprächspartnerInnen bis zu dreimal. Ich lüge, um besser dazustehen als die anderen. Ich lüge, um meinen Vorteil zu wahren. Ich lüge, um mein Gesicht nicht zu verlieren. Ich bin darauf erpicht glaubhaft zu machen, ich lebte rechtschaffen. Das rede ich mir auch selber ein. Die Lüge ist das entscheidende Werkzeug der Selbstbe-hauptung, noch vor der physischen Gewalt.

So gerne sie sich selber etwas vormachen – daß sie das Lügen lieben, wissen die meisten Menschen durchaus. Vielleicht erklärt sich von daher zumindest teilweise die große Nachsicht, die sie ihren prominenten Lügnern entgegenbringen. 2006 erregte vorübergehend eine intern gehaltene, aber an die Öffentlichkeit gedrungene Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány Aufsehen. In einem »vulgären« Ton räumte der »Sozialist« darin ein, er und seine Partei hätten das Volk in den vergangenen Jahren und im Wahlkampf 2006 nach Strich und Faden belogen, um an der Macht zu bleiben; geleistet hätten sie so gut wie nichts. Es kam zu Krawallen, aber Gyurcsány blieb im Amt bis April 2009. Bei den Europawahlen im Juni gab es allerdings die Quittung: der offen reaktionäre Block, Faschisten eingeschlossen, erzielte sage und schreibe 70 Prozent. Der Fall illustriert das Ammenmärchen, »Sozialisten« seien das kleinere Übel

Sicherlich hat der Wunsch der Welt, betrogen zu werden – wie es schon im Narrenschiff des Sebastian Brant von 1494 heißt – noch einige andere Gesichtspunkte. Wo Gewalt angeblich nur in Knüppeln oder Kanonen steckt, erscheint die Lüge als Kavaliersdelikt. Als sanftestes Kissen für unser Gewissen dient dabei die Unterschlagung, können wir uns doch in allen Fällen, wo wir »nur« etwas weggelassen haben, darauf zurückziehen, wir hätten ja gar nicht »direkt« gelogen. Der Zeitgenosse dankt es uns. Die Wahrheit möchte er gar nicht hören, weil sie zu unbequem wäre. Das schließt so manchen Politiker ein, der für frisierte Geheimdienstberichte dankbar ist. Durch Lügen, Fälschungen, Illusionen wird die Welt erträglicher. Vor der Ahnung, unsere spitzen Bemerkungen rissen beim Busenfreund alte Wunden auf, verschließen wir so gern die Ohren wie vor der Nachricht aus Sri Lanka, die elenden, eingezäunten und bewachten Flüchtlingslager für die vertriebenen Tamilen, die gegenwärtig systematisch nach Regierungsfeinden durchkämmt werden, firmierten offiziell als Wohltätigkeitszentren. Auch die oft gehörte Rechnung, im Schnitt bereite einem die Wahrheit mehr Ungemach als die Lüge, ist keineswegs abwegig. Lieber des Kaisers neue Kleider rühmen als mit dem Fingerknöchel auf seine Nacktheit pochen. Die Wahrheit nicht herauszu-fordern dient der beliebten Konfliktvermeidungsstrategie.

Die unbequemste Wahrheit ist übrigens die Botschaft, der Mensch sei sterblich; jeder von uns lebe auf den Tod zu. Wie sehr diese Botschaft deshalb verdrängt oder verharm-lost wird, ist bekannt. Aber auch das Eingeständnis, sie hätten sich über Jahrzehnte hinweg wie die größten Dummköpfe von ihren Obrigkeiten und Spiegeln »verarschen« lassen, wäre für die meisten Staatsbürger-Innen alles andere als angenehm. Wie stünden sie da, wenn sich plötzlich unwiderlegliche Beweise dafür fänden, 9/11 sei eine Kriegshandlung des US-Imperialismus gewesen? Da lassen wir die sich anschließenden Vertuschungsmanöver lieber unaufgedeckt. Wir wünschen eure Argumente nicht zu hören; sie machen uns Angst.

Hier bietet sich ein Streiflicht auf unsere Kinderstuben an. Was sehen oder hören wir da? Ein Trommelfeuer aus elterlichen Befehlen, das uns anpaßt. Zum Trost fürs Peitschen tischen uns die Erwachsenen als Zuckerbrot ihre verlogenen »Erklärungen« in Gestalt von Märchen, Horrorgeschichten, Ausreden, Verniedlichungen und erneuten Verboten auf. »Laß das, sonst werden dich Schwarzer Mann oder Außerirdische holen!« Gustav Regler rankt im Ohr des Malchus seine ganzen Kindheitserinnerungen um dieses Phänomen, das mit viel Angst verbunden ist. In der Kommunistischen Partei fand es Knirps Gustav später wieder. Der Verdacht, mit ihr in einen finsteren »Orden« geraten zu sein, kommt ihm während der 30er Jahre. Heuchelei, Mittel-zum-Zweck-Denken, Warnung vorm Gießen von wenn auch wahrem »Wasser auf die Mühlen des Feindes«, Geheimniskrä-merei, Inquisition auf allen Ebenen. 1935 wird auf Betreiben von Malraux, Aragon, Ehrenburg, Kolzow und vielen prominenten Liberalen in Paris ein Schriftsteller-kongreß im Geiste antifaschistischer Einheitsfront veranstaltet. Als Regler durch seine flammende Ansprache ungewollt das Absingen der Internationale durch das sich geschlossen erhebende Publikum hervorruft, wird er von Genossen wie Johannes R. Becher, Alexander Abusch und durch die Genossin Anna Seghers scharf zurechtgewiesen und als Saboteur beschimpft. Reglers Rechtfertigung auf der Zellensitzung, die Aktion sei doch spontan »aus dem Herzen heraus« erfolgt, nennt die Autorin des Siebten Kreuzes »sentimentalen Quatsch«. Parteivertreter Abusch, später zeitweilig DDR-Kulturminister, greift ihr unter die Arme: »Revolutionen haben nicht spontan zu sein … Wir sind in einer Periode der Tarnung. Wer die Tarnung aufdeckt, ist ein Konterrevolutionär.«

Viele Werdegänge, ob nach links oder rechts, deuten darauf hin, daß unsere Kleinen durch das lügenhafte Verfahren nicht besser, vielmehr an dieses Verfahren gewöhnt werden. Man startet oder schluckt dann auch »Rosinenbomber« oder einen »Aufbau Ost«. 1996 bekennt der damalige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD), in Wahrheit seien die fünf Jahre Aufbau Ost »das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche« gewesen, das es je gegeben habe. Man läßt die »Drohnen« ausfliegen, stellt im eigenen Keller »Honigtöpfe« auf, verrät den Freund, belügt die Gattin. Sie tritt an die Stelle unserer lieben Mami. Sperber erinnert in seinem Buch über Adler (von 1970) daran, wie rasch des Säuglings Hilfsschrei, der ihn ursprünglich vorm Hungertod bewahren soll, zum beliebten Erpressungs-mittel in völlig anderen Sachen wird. Das nennt man auf deutsch die Kunst der Verstellung. Nur mal kurz gebrüllt – schon schenkt uns Mami Aufmerksamkeit oder ein Überraschungsei oder auch nur die Genugtuung, uns als Machthaber fühlen zu können. Im zarten Knabenalter erlernen wir dann die Kunst der Auslegung. Reicht es nicht zu einer Laufbahn als PolitikerIn, können wir unsere kleinen Makel und Schandtaten wenigstens im Rahmen unseres Freundeskreises zu segensreichen Eigenschaften oder Handlungen umbiegen, indem wir sie »rationali-sieren«, wie es freudianisch heißt.

Sperber führt dafür ein köstlich schlichtes Musterbeispiel an. Frau A. will Freundin B. ein Stück der Resttorte anbieten, kann aber den Schlüssel zur Speisekammer nicht finden. Kaum ist B. mit vielen tröstenden Worten verschwunden, fällt A. wieder ein, wo der Schlüssel liegen könnte: sie verzehrt den Leckerbissen ohne Gewissens-bisse selbst. Für Anspruchsvolle hält Sperber eine andere Variante bereit. Nun wird die vergebliche Schlüsselsuche von Frau A. nur gespielt, weil sie gegen Gewissensbisse ob ihrer Eigennützigkeit und Niedertracht ausreichend geschützt ist. SkeptikerInnen gehen deshalb davon aus, alle unsere Bushs und Abuschs hätten auch die Suche nach dem Schlüssel zum Heil der Menschheit lediglich fingiert, um der irdischen Speisekammer möglichst nahe zu sitzen.

Mit Sperber erhebt sich hier ein letztes Problem: Hat man sich selbst betrogen – wie durchschaut man das dann selbst? Es handelt sich natürlich um das Problem unserer Befangenheit – die vom verbreiteten Glauben an »Willensfreiheit« geleugnet wird. Sperber empfiehlt, zum Zwecke des Durchschauens unserer selbst den Blickwinkel zu wechseln. Üben wir uns darin, die Warte anderer Menschen, ungewöhnlicher Meinung, kluger Bücher – kurz Distanz einzunehmen, stellen sich unsere Glaubensartikel und Selbstbilder oft in enthüllendem, tadelndem Licht dar. Allen Ergebnissen moderner Gehirnforschung fern, scheint Sperber davon überzeugt, diesen Spielraum zum Blickwechsel hätten wir und er genüge auch. Offenbar konnte ihn darin auch das berühmte klassische Schulbeispiel für Paradoxe oder Teufelskreise (Zirkelschlüsse) nicht beirren. Es ist die Aussage Alle Kreter lügen – geäußert von einem Kreter.

* Ralph Hartmann, »Historische Lappalien«, Ossietzky 14/2008
** Zeitkurven, Fischer-TB-Ausgabe 1989, S. 332 ff
*** Werner Raith am 2. September 1999 in der taz: https://taz.de/Neunzehn-Jahre-danach-Ustica-kommt-vor-Gericht/!1272861/

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