Montag, 27. Juni 2022
Ergüsse
ziegen, 21:03h
2022
Ich sammele seit Jahren Redezeiten. Hier ein paar Glanzstücke meiner Sammlung: Als Präsident Gamal Abdel Nasser im Sommer 1956 vor 300.000 Leuten auf dem Freiheitsplatz in Alexandria die Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft verkündete, tat er es nicht mit ein paar Sätzen. Er redete fast vier Stunden lang. 2009 übertrumpfte ihn Hugo Chavez erheblich. Dem damaligen Chef Venezuelas gelang es zur Feier des 10. Jahrestages seiner Präsidentschaft vor der Nationalversammlung in Carracas sieben Stunden lang zu sprechen. Damit stellte er sogar den Rekord Sinowjews ein, der laut einer Willi-Münzenberg-Biografie 1920 auf dem KPD-Parteitag in Halle ebenfalls sieben Stunden lang nicht müde wurde, den Delegierten die Unterwerfung unter die Komintern schmackhaft zu machen. 14 Jahre später begnügte sich Maxim Gorki auf dem Moskauer Schriftstellerkongreß mit drei Stunden, wie Gustav Regler im Ohr des Malchus erwähnt.
Freilich fielen diese enormen Redezeiten nicht erst in der Postmoderne wie Sturzregen vom Himmel. Aus Max von Boehns bissiger Modegeschichte ist zu erfahren, Edin-burghs »reformierter« Referend Forbes habe seine in die Kirche gezwungenen Schafe um 1670 mit Kanzelergüssen von fünf bis sechs Stunden zugeschüttet. Ich muß gestehen, bereits die Predigten einflußloser Theologen in nordhessischen Dorfkirchen als Folter empfunden zu haben, obwohl sie selten 20 bis 30 Minuten überschritten. Bald darauf konvertierte ich zur sogenannten Linken. Aber die Mißachtung des Fußvolks erwies sich leider als fraktionsübergreifend. Denn was hatte ich mir wohl auf den Demos oder Ostermärschen anzuhören? Richtig: ausführliche Ansprachen, die möglichst nicht eine der jeweils angesagten Phrasen und Schlagworte ausließen. Lesen Sie beispielsweise einmal die Grabrede nach, die Claussen/Leineweber/Negt 1970 ihrem tödlich verunglückten Genossen Hans-Jürgen Krahl hielten. Den Autounfall des 27jährigen SDS-Chefideologen oder das irrsinnige Verkehrswesen überhaupt übergehen die drei Nachrufer dabei mit aller ihnen zu Gebote stehenden Eleganz.
Über zeitgenössische Bundestagsreden kann ich nichts sagen, weil ich nie Fernsehen gucke. Wahrscheinlich haben sie den Nährwert von Tennisbällen oder Billardkugeln. Mein bevorzugtes Medium ist das gedruckte Wort. Um Zeitschriftenaufsätze oder Bücher lesen zu können, muß ich nicht auf den Marktplatz marschieren. Von der unverschämten Überforderung der Geduld und des Aufnahmevermögens von Zuhörern einmal abgesehen, hat selbst die vorbereitete mündliche Rede stets einen Zug der Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Im Grunde ächte ich alles, was Flüchtigkeit züchtet. Mit der digitalen Vernetzung, Presse eingeschlossen, erreichen wir bereits das Stadium der Auflösung des Geistes. Webseiten sind Wackelpuddinge, die unablässig Gestalt und Farbe ändern. Auseinander-setzung ist jedoch auf Feststehendes / Gegenstand / Widerstand angewiesen. Verflüssigung ist ihr Tod.
Ein Seitenstück zu Ansprachen, Talkshows und Blogs haben wir in den Berichten unserer sogenannten Untersuchungskommissionen. In kapitalistisch verfaßten Demokratien stellen solche Kommissionen bekanntlich ein unfehlbares Mittel dar, Aufklärung und Ahndung von Ungereimtheiten, Ungesetzlichkeiten, Schwerverbrechen im Wirken des Staates und seiner Charaktermasken zu verhindern. Die Einrichtung eines Untersuchungsaus-schusses signalisiert zunächst: die Racheengel des Volkszorns krempeln die Ärmel auf – schon die halbe Miete. Wickelt man dann die Ärmel so allmählich wieder ab, daß auch die sitzfestesten FernsehzuschauerInnen im Laufe der 38. oder 122. Ausschußsitzung zu gähnen anfangen und sich milde gestimmt zu Bett begeben, steht der Schließung der Akten nichts mehr im Wege. Und jetzt kommt die Stunde der Ghostwriter. Sie haben den wohlfrisierten Müllhaufen aus Geschwätz anzufertigen, den der Ausschußvorsitzende der »Öffentlichkeit« als »Bericht« um die Ohren schlagen darf. Dazu nur ein naheliegendes Beispiel. Der im Sommer 2009 vorgelegte Abschlußbericht einer Bundestagskommission zur BND-Affäre war 3.500 Seiten dick – das ist von jedem flotten Journalisten im Nu gelesen. »Die Veröffentlichung einer 160-Seiten-Kurzfassung lehnten die SPD-Vertreter im Ausschuß ab«, schrieb Ossietzky damals. 160 Seiten kurz!
Was also macht der pfiffige Bürger oder Kritiker? Er über-fliegt die Kurzfassungen zwischen drei Ubahnstationen und pickt sich die ihm genehmen »Reizworte« heraus. Liegt die Kurzfassung online vor, geht das noch schneller, weil der Suchroboter Reizworte punktgenau in Raketengeschwindigkeit findet. Vor allem den eigenen Namen des betreffenden Bürgers oder Kritikers.
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Ich sammele seit Jahren Redezeiten. Hier ein paar Glanzstücke meiner Sammlung: Als Präsident Gamal Abdel Nasser im Sommer 1956 vor 300.000 Leuten auf dem Freiheitsplatz in Alexandria die Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft verkündete, tat er es nicht mit ein paar Sätzen. Er redete fast vier Stunden lang. 2009 übertrumpfte ihn Hugo Chavez erheblich. Dem damaligen Chef Venezuelas gelang es zur Feier des 10. Jahrestages seiner Präsidentschaft vor der Nationalversammlung in Carracas sieben Stunden lang zu sprechen. Damit stellte er sogar den Rekord Sinowjews ein, der laut einer Willi-Münzenberg-Biografie 1920 auf dem KPD-Parteitag in Halle ebenfalls sieben Stunden lang nicht müde wurde, den Delegierten die Unterwerfung unter die Komintern schmackhaft zu machen. 14 Jahre später begnügte sich Maxim Gorki auf dem Moskauer Schriftstellerkongreß mit drei Stunden, wie Gustav Regler im Ohr des Malchus erwähnt.
Freilich fielen diese enormen Redezeiten nicht erst in der Postmoderne wie Sturzregen vom Himmel. Aus Max von Boehns bissiger Modegeschichte ist zu erfahren, Edin-burghs »reformierter« Referend Forbes habe seine in die Kirche gezwungenen Schafe um 1670 mit Kanzelergüssen von fünf bis sechs Stunden zugeschüttet. Ich muß gestehen, bereits die Predigten einflußloser Theologen in nordhessischen Dorfkirchen als Folter empfunden zu haben, obwohl sie selten 20 bis 30 Minuten überschritten. Bald darauf konvertierte ich zur sogenannten Linken. Aber die Mißachtung des Fußvolks erwies sich leider als fraktionsübergreifend. Denn was hatte ich mir wohl auf den Demos oder Ostermärschen anzuhören? Richtig: ausführliche Ansprachen, die möglichst nicht eine der jeweils angesagten Phrasen und Schlagworte ausließen. Lesen Sie beispielsweise einmal die Grabrede nach, die Claussen/Leineweber/Negt 1970 ihrem tödlich verunglückten Genossen Hans-Jürgen Krahl hielten. Den Autounfall des 27jährigen SDS-Chefideologen oder das irrsinnige Verkehrswesen überhaupt übergehen die drei Nachrufer dabei mit aller ihnen zu Gebote stehenden Eleganz.
Über zeitgenössische Bundestagsreden kann ich nichts sagen, weil ich nie Fernsehen gucke. Wahrscheinlich haben sie den Nährwert von Tennisbällen oder Billardkugeln. Mein bevorzugtes Medium ist das gedruckte Wort. Um Zeitschriftenaufsätze oder Bücher lesen zu können, muß ich nicht auf den Marktplatz marschieren. Von der unverschämten Überforderung der Geduld und des Aufnahmevermögens von Zuhörern einmal abgesehen, hat selbst die vorbereitete mündliche Rede stets einen Zug der Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Im Grunde ächte ich alles, was Flüchtigkeit züchtet. Mit der digitalen Vernetzung, Presse eingeschlossen, erreichen wir bereits das Stadium der Auflösung des Geistes. Webseiten sind Wackelpuddinge, die unablässig Gestalt und Farbe ändern. Auseinander-setzung ist jedoch auf Feststehendes / Gegenstand / Widerstand angewiesen. Verflüssigung ist ihr Tod.
Ein Seitenstück zu Ansprachen, Talkshows und Blogs haben wir in den Berichten unserer sogenannten Untersuchungskommissionen. In kapitalistisch verfaßten Demokratien stellen solche Kommissionen bekanntlich ein unfehlbares Mittel dar, Aufklärung und Ahndung von Ungereimtheiten, Ungesetzlichkeiten, Schwerverbrechen im Wirken des Staates und seiner Charaktermasken zu verhindern. Die Einrichtung eines Untersuchungsaus-schusses signalisiert zunächst: die Racheengel des Volkszorns krempeln die Ärmel auf – schon die halbe Miete. Wickelt man dann die Ärmel so allmählich wieder ab, daß auch die sitzfestesten FernsehzuschauerInnen im Laufe der 38. oder 122. Ausschußsitzung zu gähnen anfangen und sich milde gestimmt zu Bett begeben, steht der Schließung der Akten nichts mehr im Wege. Und jetzt kommt die Stunde der Ghostwriter. Sie haben den wohlfrisierten Müllhaufen aus Geschwätz anzufertigen, den der Ausschußvorsitzende der »Öffentlichkeit« als »Bericht« um die Ohren schlagen darf. Dazu nur ein naheliegendes Beispiel. Der im Sommer 2009 vorgelegte Abschlußbericht einer Bundestagskommission zur BND-Affäre war 3.500 Seiten dick – das ist von jedem flotten Journalisten im Nu gelesen. »Die Veröffentlichung einer 160-Seiten-Kurzfassung lehnten die SPD-Vertreter im Ausschuß ab«, schrieb Ossietzky damals. 160 Seiten kurz!
Was also macht der pfiffige Bürger oder Kritiker? Er über-fliegt die Kurzfassungen zwischen drei Ubahnstationen und pickt sich die ihm genehmen »Reizworte« heraus. Liegt die Kurzfassung online vor, geht das noch schneller, weil der Suchroboter Reizworte punktgenau in Raketengeschwindigkeit findet. Vor allem den eigenen Namen des betreffenden Bürgers oder Kritikers.
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