Sonntag, 26. Juni 2022
Töpfersturm
Um 2010


Aufgrund eines überzeugenden Sanierungskonzeptes konnte der Buchhändler vor einigen Jahren den denkmalgeschützten Töpfersturm, der vom Friedhof her die Waltershäuser Altstadt überragt, vergleichsweise billig erwerben. Ein über 500 Jahre alter doppelgeschossiger Ring aus Sand- und Kalksteinen (Innendurchmesser sieben Meter) trägt ein spitzbedachtes Achteck aus Fachwerk, das nochmals zwei Geschosse bietet. Auf einem hübschen Ölgemälde des jungen Friedrich Holbein von 1884 ist die Wetterseite mit roten Biberschwänzen verkleidet; heute sind es ringsum graue Schieferschindeln. Wasseranschluß und Kamin waren vorhanden, denn der Töpfersturm wird seit Jahrzehnten zum Wohnen benutzt. Nachdem er noch ein Mehrfaches des Kaufpreises und viel Arbeit in den Innenausbau steckte, wohnt der Buchhändler – ein gelernter Schlosser – nun selber mietfrei dort.

Als erwerbsloser Hüttenbewohner kann ich ihn nur beneiden. An solchem Gemäuer würden sich die Gothaer Fallbeilmanager die Birnen einrennen oder zumindest anbrennen, ließe ich doch sofort eine Pechnase über der Vortreppe ein. Nach Südwesten genösse ich den Aufblick zum Schloß. Da es angestrahlt wird, könnte ich es die ganze Nacht hindurch kostenlos betrachten. Den Strom zahlt ja »die Stadt« – eine der tröstlichen kostenlosen Abstraktionen. Ins kupferfarbene Licht getaucht, wirkt das Schloß seltsam unbegreiflich: mal auf die Altstadt drückend, dann wieder unnahbar, wie entrückt. Als Buchhändler würde ich meiner Kundschaft weismachen, Kafkas Roman Das Schloß sei in der Waltershäuser Töpfersturmschreiberstube entstanden. Daher die Unzugänglichkeit, ja Ungenießbarkeit sowohl der darin geschilderten Residenz wie des ganzen Textes.

Gen Osten böte mir die Turmuhr der Stadtkirche kostenlos die Zeit. Schlüge sie jäh die letzte Stunde, wäre es kein Grund zur Panik. Die Flügeltür der Friedhofskapelle, wo sich öfter silbern lackierte Kastenlimousinen beim Be- und Entladen beobachten lassen, liegt keine 20 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Rechtzeitig ein Drahtseil gespannt, könnte ich von meiner Dachluke aus an einer Laufkatze in einer Kiste schaukelnd friedlicheren Zeiten entgegengleiten, ohne meine bestattungspflichtigen Anverwandten mit Taxe zu belasten.
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