Sonntag, 26. Juni 2022
Die Last der eingebildeten Verantwortung
ziegen, 12:12h
2020
In den rund 25 Jahren, in denen ich mich nun schon als Verfasser mehr oder weniger öffentlicher Texte versuche, ist die Angst vor Fehlern und Beschuldigungen nie wirklich von mir gewichen. Allenfalls nimmt sie mich nicht mehr so oft in die Mangel, weil ich mit der Zeit meine Sorgfalt beim Nachforschen und meine Fertigkeiten beim Redigieren steigern konnte. Sobald ich jedoch über eine falsche Jahreszahl oder auch nur einen Schreibfehler in einem Text stolpere, den ich eigentlich für fertig hielt, durchläuft es mich heiß, als öle der Henker bereits die Guillotine. Muß ich gar feststellen, unnötigerweise eine für meine Argumentation eher unwichtige zeitgenössische Zeugin durch Namensnennung bloßgestellt zu haben, fällt das Beil. Das ist der sogenannte Vorauseilende Gehorsam. Ich habe gar keine leibhaftigen AnklägerInnen nötig.
Einem jungen Mann, der sich mit dem Gedanken an eine journalistische Laufbahn trug, riet ich deshalb einmal, er möge lieber die Finger davon lassen. Er habe sonst alle Aussichten, sich wöchentlich zweimal in die Nesseln zu setzen und mit 40 an Magengeschwüren oder Asthma zu ersticken. Das Publizieren sei ein selbstmörderisches Geschäft. Er dachte kurz nach, zuckte mit den Achseln und fragte mich lächelnd: »Kennst du etwa andere, weniger gefährliche Geschäfte? Diese Gefahren sind doch völlig normal, sobald einer auch nur ein bißchen Verantwortung übernimmt. Jede Woche stürzt irgendwo auf diesem Planeten eine Brücke ein – und der Angeschmierte ist der Architekt. Ein Elektriker installiert oder repariert einen Stromzähler unfachmännisch – und wandert, nachdem das ganze Haus abgebrannt ist, vor Gericht. Dein Töchterchen reißt sich auf dem Bürgersteig von dir los – und kommt unter ein Auto. Schuld bist natürlich du. In den Kirschkuchen aus der nächsten Bäckerei hat sich ein Kieselstein verirrt, der dir glatt eine Goldplombe knackt – deine Zahnarztrechnung geht an den Bäcker. Und so weiter.«
Ich konnte ihm nicht wirklich widersprechen. Das Problem der Sorgfaltspflicht und der persönlichen Verantwortlich-keit hat im Grunde jeder Mensch, solange er sich nicht hinter Atemschutzmasken, Befehlsgebern oder seinem eigenen dicken Fell verstecken kann. Gleichwohl drängen sich ein paar Fragen auf. Zum Beispiel: für wen oder was fühle ich mich eigentlich verantwortlich? Schließlich muß ich weder den Erwartungen eines Chefredakteurs noch den Anforderungen des Autoverkehrs oder der Kindererzie-hung genügen, denn ich habe kein Auto und keine Kinder. Aber ich habe Ideale. Sie heißen vor allem Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit. Ich kann in einem Text nicht verkünden, Hausfrau X. habe »unablässig« Geliebte empfangen, wenn sie, wie sorgfältige Nachprüfung ergibt, bestenfalls einen Geliebten jährlich empfing. Es wäre schlicht gelogen. Im übrigen dürfte ich mich, sofern ich mir die Unsauberkeit durchgehen lasse, nicht wundern, wenn Frau X. meine Falschdarstellung mit einer Verleumdungsklage beantwortet. Damit nähere ich mich der nächsten Frage.
Sie betrifft meine Angst vor Beschuldigung und Verfolgung. Sie ist ohne Zweifel lästig und der Gesundheit abträglich – dabei wäre sie zumindest im Falle meines Publizierens völlig überflüssig, wie ich bereits angedeutet habe. Meine Fehler oder Irrtümer interessieren die Welt so wenig wie meine Stärken, falls vorhanden, und wie meine Texte überhaupt. Ich könnte verkünden, Merkel liege alle zwei Wochen bei Gates im Bett – es würde keinem auffallen, weil mich sowieso keiner liest. Vielleicht ist die Wahl meiner schlüpfrigen Beispiele nicht ganz zufällig. Die Angst Fehler zu machen hat sicherlich mehrere Gesichtspunkte. So fürchtet man die soziale Ächtung, das Angeprangert- und Ausgegrenztwerden. Aber sie ist auch Versagensangst, zumal beim Mann. Unterlaufen mir in meinen Texten zu viele Fehler und Irrtümer, bin ich der Liebe des Publikums nicht würdig. Für manche Autoren wäre freilich schon ein Fehler oder ein Irrtum zuviel. Denn sie möchten vollkommen sein. Angesichts ihrer vielen Unzulänglichkeiten, die sich auf den unterschiedlichsten Gebieten auswirken, ist dieses Begehren selbstverständlich ein schlechter Witz.
Wahrscheinlich paart sich ein grundsätzliches Vollkommenheitsstreben gern mit einer grundsätzlichen Neigung zur Ängstlichkeit. Was jedenfalls mich angeht, wäre es völlig zwecklos, das Publizieren aufzugeben, weil ich die Ängstlichkeit überall habe. Sie gehört zu meinem Naturell. Der Gram darüber, einen Bekannten ungerecht behandelt oder ihn fahrlässig verletzt zu haben, wiegt nicht schwerer und nicht weniger als der Gram, in einem Text versehentlich zwei Landeshauptstädte verwechselt oder eine wichtige Tatsache unterschlagen zu haben. Alles wirft mich auf die eigene Unzulänglichkeit zurück. Besonders viel Sozialgefühl spricht aus dieser Empfindung nicht gerade.
Ich lasse die Gedankenschwere fallen und weise den Laien im »freien« Publizieren noch auf ein pragmatisches Übel hin. Als SelbstverlegerIn oder BloggerIn ist man nämlich in der Regel auch frei von sachkundigen Ratgebern und Helfern. Man steht völlig allein. So kann ich mich beispielsweise weder auf Lektoren noch auf Korrektoren stützen. Was das bedeutet, dürften die wenigsten »Konsumenten« erahnen. Ich nehme stark an, im Laufe der letzten 15 Jahre habe ich allein für das Korrekturlesen eigener Texte und Buchmanuskripte ungefähr ein Jahr aufgewendet; ein ganzes Jahr voller Acht-Stunden-Tage nur fürs Korrekturlesen und Berichtigen, also vom Verfassen der Texte und Buchmanuskripte höflich zu schweigen. Und immer drohend und grinsend dabei, auf der Schreibtischlampe hockend, das Rechtschreibgespenst, weil man den reformierten Roboter nicht ins Haus gelassen hat.
Ungeachtet jenes Aufwandes hat man es als Korrektor seiner selbst natürlich auch deshalb verdammt schwer, weil man stets der eigenen Befangenheit unterliegt. Ihr ist kaum zu entkommen. Der Selbstkorrektor hat sich unablässig zu zügeln, also zum langsamen, genauen und kritischen Lesen der ihm längst bekannten Texte anzuhalten, die ihm übrigens nicht selten schon buchstäblich zum Halse heraushängen. Und am Ende hat er doch wieder soundsoviele Mängel übersehen.
In diesem Zusammenhang ist mir noch ein anderer Nachteil aufgegangen. Die Freunde eines Autors haben oft das Pech, dessen erste LeserInnen zu sein – und leider bleibt es dann häufig auch dabei. Das heißt, wichtige Verbesserungen, die er später noch vornehmen kann, pflegen ihnen zu entgehen. Hierin verbirgt sich nebenbei der einzige Vorteil, der einem Internet-Selbstverleger geboten wird: er kann seine Texte jederzeit ändern, berichtigen, streichen, ganz wie er es für richtig hält. In einer Buchausgabe wären all die Mängel, die ich mir schon geleistet habe, unerbittlich verewigt. In der Puppenfabrik-Bibliothek habe ich kürzlich mein eigenes, 2009 erschienenes Buch Der Fund im Sofa entdeckt – es kostete mich einige Überwindung, es nicht zu stehlen und in den nächsten Altpapier-Container zu werfen. Zum Glück suchen die Kommunarden ihre Bibliothek selten auf. Man sagte mir, der mit Abstand eifrigste Nutzer sei ich selber.
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In den rund 25 Jahren, in denen ich mich nun schon als Verfasser mehr oder weniger öffentlicher Texte versuche, ist die Angst vor Fehlern und Beschuldigungen nie wirklich von mir gewichen. Allenfalls nimmt sie mich nicht mehr so oft in die Mangel, weil ich mit der Zeit meine Sorgfalt beim Nachforschen und meine Fertigkeiten beim Redigieren steigern konnte. Sobald ich jedoch über eine falsche Jahreszahl oder auch nur einen Schreibfehler in einem Text stolpere, den ich eigentlich für fertig hielt, durchläuft es mich heiß, als öle der Henker bereits die Guillotine. Muß ich gar feststellen, unnötigerweise eine für meine Argumentation eher unwichtige zeitgenössische Zeugin durch Namensnennung bloßgestellt zu haben, fällt das Beil. Das ist der sogenannte Vorauseilende Gehorsam. Ich habe gar keine leibhaftigen AnklägerInnen nötig.
Einem jungen Mann, der sich mit dem Gedanken an eine journalistische Laufbahn trug, riet ich deshalb einmal, er möge lieber die Finger davon lassen. Er habe sonst alle Aussichten, sich wöchentlich zweimal in die Nesseln zu setzen und mit 40 an Magengeschwüren oder Asthma zu ersticken. Das Publizieren sei ein selbstmörderisches Geschäft. Er dachte kurz nach, zuckte mit den Achseln und fragte mich lächelnd: »Kennst du etwa andere, weniger gefährliche Geschäfte? Diese Gefahren sind doch völlig normal, sobald einer auch nur ein bißchen Verantwortung übernimmt. Jede Woche stürzt irgendwo auf diesem Planeten eine Brücke ein – und der Angeschmierte ist der Architekt. Ein Elektriker installiert oder repariert einen Stromzähler unfachmännisch – und wandert, nachdem das ganze Haus abgebrannt ist, vor Gericht. Dein Töchterchen reißt sich auf dem Bürgersteig von dir los – und kommt unter ein Auto. Schuld bist natürlich du. In den Kirschkuchen aus der nächsten Bäckerei hat sich ein Kieselstein verirrt, der dir glatt eine Goldplombe knackt – deine Zahnarztrechnung geht an den Bäcker. Und so weiter.«
Ich konnte ihm nicht wirklich widersprechen. Das Problem der Sorgfaltspflicht und der persönlichen Verantwortlich-keit hat im Grunde jeder Mensch, solange er sich nicht hinter Atemschutzmasken, Befehlsgebern oder seinem eigenen dicken Fell verstecken kann. Gleichwohl drängen sich ein paar Fragen auf. Zum Beispiel: für wen oder was fühle ich mich eigentlich verantwortlich? Schließlich muß ich weder den Erwartungen eines Chefredakteurs noch den Anforderungen des Autoverkehrs oder der Kindererzie-hung genügen, denn ich habe kein Auto und keine Kinder. Aber ich habe Ideale. Sie heißen vor allem Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit. Ich kann in einem Text nicht verkünden, Hausfrau X. habe »unablässig« Geliebte empfangen, wenn sie, wie sorgfältige Nachprüfung ergibt, bestenfalls einen Geliebten jährlich empfing. Es wäre schlicht gelogen. Im übrigen dürfte ich mich, sofern ich mir die Unsauberkeit durchgehen lasse, nicht wundern, wenn Frau X. meine Falschdarstellung mit einer Verleumdungsklage beantwortet. Damit nähere ich mich der nächsten Frage.
Sie betrifft meine Angst vor Beschuldigung und Verfolgung. Sie ist ohne Zweifel lästig und der Gesundheit abträglich – dabei wäre sie zumindest im Falle meines Publizierens völlig überflüssig, wie ich bereits angedeutet habe. Meine Fehler oder Irrtümer interessieren die Welt so wenig wie meine Stärken, falls vorhanden, und wie meine Texte überhaupt. Ich könnte verkünden, Merkel liege alle zwei Wochen bei Gates im Bett – es würde keinem auffallen, weil mich sowieso keiner liest. Vielleicht ist die Wahl meiner schlüpfrigen Beispiele nicht ganz zufällig. Die Angst Fehler zu machen hat sicherlich mehrere Gesichtspunkte. So fürchtet man die soziale Ächtung, das Angeprangert- und Ausgegrenztwerden. Aber sie ist auch Versagensangst, zumal beim Mann. Unterlaufen mir in meinen Texten zu viele Fehler und Irrtümer, bin ich der Liebe des Publikums nicht würdig. Für manche Autoren wäre freilich schon ein Fehler oder ein Irrtum zuviel. Denn sie möchten vollkommen sein. Angesichts ihrer vielen Unzulänglichkeiten, die sich auf den unterschiedlichsten Gebieten auswirken, ist dieses Begehren selbstverständlich ein schlechter Witz.
Wahrscheinlich paart sich ein grundsätzliches Vollkommenheitsstreben gern mit einer grundsätzlichen Neigung zur Ängstlichkeit. Was jedenfalls mich angeht, wäre es völlig zwecklos, das Publizieren aufzugeben, weil ich die Ängstlichkeit überall habe. Sie gehört zu meinem Naturell. Der Gram darüber, einen Bekannten ungerecht behandelt oder ihn fahrlässig verletzt zu haben, wiegt nicht schwerer und nicht weniger als der Gram, in einem Text versehentlich zwei Landeshauptstädte verwechselt oder eine wichtige Tatsache unterschlagen zu haben. Alles wirft mich auf die eigene Unzulänglichkeit zurück. Besonders viel Sozialgefühl spricht aus dieser Empfindung nicht gerade.
Ich lasse die Gedankenschwere fallen und weise den Laien im »freien« Publizieren noch auf ein pragmatisches Übel hin. Als SelbstverlegerIn oder BloggerIn ist man nämlich in der Regel auch frei von sachkundigen Ratgebern und Helfern. Man steht völlig allein. So kann ich mich beispielsweise weder auf Lektoren noch auf Korrektoren stützen. Was das bedeutet, dürften die wenigsten »Konsumenten« erahnen. Ich nehme stark an, im Laufe der letzten 15 Jahre habe ich allein für das Korrekturlesen eigener Texte und Buchmanuskripte ungefähr ein Jahr aufgewendet; ein ganzes Jahr voller Acht-Stunden-Tage nur fürs Korrekturlesen und Berichtigen, also vom Verfassen der Texte und Buchmanuskripte höflich zu schweigen. Und immer drohend und grinsend dabei, auf der Schreibtischlampe hockend, das Rechtschreibgespenst, weil man den reformierten Roboter nicht ins Haus gelassen hat.
Ungeachtet jenes Aufwandes hat man es als Korrektor seiner selbst natürlich auch deshalb verdammt schwer, weil man stets der eigenen Befangenheit unterliegt. Ihr ist kaum zu entkommen. Der Selbstkorrektor hat sich unablässig zu zügeln, also zum langsamen, genauen und kritischen Lesen der ihm längst bekannten Texte anzuhalten, die ihm übrigens nicht selten schon buchstäblich zum Halse heraushängen. Und am Ende hat er doch wieder soundsoviele Mängel übersehen.
In diesem Zusammenhang ist mir noch ein anderer Nachteil aufgegangen. Die Freunde eines Autors haben oft das Pech, dessen erste LeserInnen zu sein – und leider bleibt es dann häufig auch dabei. Das heißt, wichtige Verbesserungen, die er später noch vornehmen kann, pflegen ihnen zu entgehen. Hierin verbirgt sich nebenbei der einzige Vorteil, der einem Internet-Selbstverleger geboten wird: er kann seine Texte jederzeit ändern, berichtigen, streichen, ganz wie er es für richtig hält. In einer Buchausgabe wären all die Mängel, die ich mir schon geleistet habe, unerbittlich verewigt. In der Puppenfabrik-Bibliothek habe ich kürzlich mein eigenes, 2009 erschienenes Buch Der Fund im Sofa entdeckt – es kostete mich einige Überwindung, es nicht zu stehlen und in den nächsten Altpapier-Container zu werfen. Zum Glück suchen die Kommunarden ihre Bibliothek selten auf. Man sagte mir, der mit Abstand eifrigste Nutzer sei ich selber.
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