Samstag, 25. Juni 2022
Querfeldein
Um 2007


In der Flur bei Korbach unterwegs, habe ich einen Zusammenstoß mit einem Menschen, den ich zunächst für einen Dorfrüpel halte. Er steckt in derber Bauernkluft. Auf die Tür eines kotbespritzten kleinen Jeeps gestützt, erwartet mich der vierschrötige Kerl an der Landstraße. Er hat beobachtet, wie ich mit meinem Fahrrad auf dem Buckel über einen schlammigen Acker stapfte, anschlie-ßend nicht nur den Stacheldrahtzaun zu einer Viehweide überwand, sondern auch einen verschlossenen Hochsitz streifte.

Mit dieser umwerfenden Beobachtung konfrontiert, fahre ich ihn an, ob er nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Er präsentiert einen Ausweis: Jagdaufsicht! Nun erklärt der Mann, möglicherweise sei ja an dem Hochsitz etwas nicht in Ordnung. Ich möge mich bitte meinerseits ausweisen. Und was ich in der Umhängetasche dort hätte?

Ich reagiere sofort so empfindlich und gereizt, daß mich der Ordnungshüter kaum noch für einen harmlosen Wanderer halten kann. Es entspinnt sich ein grotesker Streit. Ich bin sicherlich schon dutzendmal im Leben heilfroh gewesen, von solchem Aufruhr nicht in einen Totschlag zu stürmen, der mein Gewissen zertrümmert und mich ins Zuchthaus katapultiert. In diesem Fall ramme ich meinem Widersacher schließlich wutschnau-bend meinen Personalausweis unter die Nase, worauf er sich meinen Namen notiert und mich ziehen läßt.

Doch auf der Rückfahrt nach Korbach hacken Wanderfalken auf meinen schweißglänzenden Nacken ein. SchriftstellerInnen verfügen naturgemäß über eine blühende Phantasie. Vielleicht fehlt am Hochsitz die Leiter, weil sie einer zum Kirschenpflücken benötigte – und jetzt bist du es gewesen! Aber schlimmer noch. In deinen Erzählungen kommt ein betuchter Jäger zu Tode, weil der Hochsitz angesägt worden war. Wie willst du dich herauswinden, wenn sich zufällig ein frischer Einschnitt im Hochsitzpfosten mit deinem zum Beweismittel erhobenen Manuskript deckt? Und wurde nicht kürzlich in Gießen ein kleines Mädchen entführt und womöglich ermordet? Hast du Pech, findet sich der Leichnam des Mädchens in dem Hochsitz, den der Jagdaufseher gerade überprüft.

In dieser Verfassung hilft es wenig, sich das alte Sprichwort vorzubeten, der Ängstlich sterbe tausend Tode. Vielleicht läßt sich die Scharte zumindest in der nächsten Erzählung auswetzen. Lächelnd sich hinterm Ohr gekratzt und unschuldsvoll entgegnet: »Was ich in meiner Umhängetasche habe? Sie dürfen gern einmal hinein-greifen. Es ist nur ein tollwütiger Fuchs, der in seinen letzten Zuckungen liegt.«

Doch nach dem Mittagessen ging ich in die Offensive. Um mich unverkennbar zu machen, setzte ich mir trotz des warmen Wetters meinen grauen Filzhut auf und marschierte Richtung Amtsgericht, denn gleich gegenüber liegt die Polizeistation. Die wachhabenden Polizeibeamten werfen sich vielsagende Blicke zu, als ein offensichtlich schräger Vogel mit seltsamem Begehren an ihren Schalter tritt. Ich umreiße mein Streitgespräch mit dem Jagdaufseher. Nun klären sie mich bereitwillig darüber auf, die Jagdaufsicht habe tatsächlich gewisse polizeiliche Befugnisse. Das Recht, in ihrem Aufsichtsgebiet von einem Bürger zu verlangen sich auszuweisen, zähle dazu. Na prima – welcher Bürger weiß das schon? Ich dankte den Beamten und trollte mich.

Wichtiger war mir natürlich gewesen, sie hatten mich gesehen. Ich hatte also nichts zu verbergen. Weder eine gewilderte Feldmaus noch eine Mädchenleiche. Trotzdem ging mir der lächerliche Vorfall noch lange nach. Mir dämmerte, daß ich offenbar tiefsitzende Ängste und Schuldgefühle mit mir herumschleppte, die sich jeden zufälligen Furz aussuchen konnten, um ihn zu einem lebensbedrohenden Wirbelsturm aufzublasen. Die Ursachen dafür sind sicherlich in der Kinderstube zu suchen. Aber hier interessiert mich nur das Phänomen des Außenseitertums, das beharrlich für eine Fortschreibung der Ängste und Schuldgefühle sorgt. Warum?

Weil der Außenseiter aus der Norm fällt. Und es gibt nichts Schlimmeres, als eben aus der Norm zu fallen, vor allem, seit der Kapitalismus die Stanzmaschine, den Waschauto-maten und das stets das linke Ohr präsentierende Paßfoto erfunden hat. Dann bist du, bei deiner Lebensführung, unnormal – um nicht abnorm zu sagen. Stapft man etwa querfeldein, obwohl die rotgrüne Bundesregierung den Straßenbau fördert wie seit Hitler keiner mehr? Ist man etwa erwerbslos, während die Schulden des Staates im Tempo seiner Eurofighter steigen? Kommt man unrasiert und zerlumpt daher, wenn sich die ZerstörerInnen dieses Planeten vor den Fernsehkameras in makellosem Outfit präsentieren? Darf man nach dem Ausverkauf der DDR noch Marxist sein? Ist Verzweiflung zulässig in einer Welt des Schönen Wohnens und des Schönen Betrügens?

Allerdings macht die Norm zuweilen auch den Normierenden zu schaffen. In diesem Umstand könnte ein gewisser Trost liegen. Im selben Sommer (2001) staunte ich nicht schlecht, als mich aus dem Schaukasten der Lokalzeitung der Vorgesetzte einer Bott-Figur grüßte, die ich erst kürzlich erfunden hatte. Bei dieser Figur handelt es sich um den Kasseler Landrichter Horst Kallenbreuer – wie fast jedes hohe Tier auch Jäger. Bott ist ihm wegen eines waidwund geschossenen Wildschweins auf der Spur. Nun aber wurde Kallenbreuers Vorgesetzter – der Präsident des Kasseler Landgerichts also – ganz real verfolgt. Der Präsident hatte sich in betrunkenem Zustand auf einem Feldweg bei Schwalmstadt festgefahren. Plötzlich stand das hinter ihm gelegene Kornfeld in Flammen: der heiße Auspuff seines Wagens hatte es entzündet. Die Feuerwehr kommt angerast; bald darauf die Polizei. Der Täter kann nicht flüchten, denn er hat 2,37 Promille. Doch reicht seine Geistesgegenwart für den Versuch aus, einen Polizeibeamten zu bestechen. Damit endet die Posse zunächst: die Polizei nimmt ihn mit.

Wie sich dann in der Verhandlung herausstellt, ist der Angeklagte schon häufiger dabei beobachtet worden, mit kaum zu verhehlender Alkoholfahne durchs Kasseler Landgericht zu tappen – dessen Präsident er war. Laut Gerichtsreporter wirkt der Angeklagte angeschlagen und kränklich, verfolgt die Verhandlung fast reglos, den Kopf auf die Hand gestützt oder einfach gesenkt. Die Norm ist erdrückend. Ich kann mir gut vorstellen, wie dem Angeklagten zumute war. Oder wie er später – einstweilen vom Dienst suspendiert und einer Berufungsverhandlung entgegensehend – in seinem Häuschen oder in seiner Villa hockt. Er hat seine Haushaltshilfe ausbezahlt, die Vorhänge zugezogen und die Klingel abgestellt. Er könnte vor Scham in dem schönen, eichernen Parkett versinken. Er nimmt einen tiefen Zug aus der Wodkaflasche. Er trinkt auf all die Taugenichtse, die er schon verdonnert hat.
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