Freitag, 24. Juni 2022
Wikipedia
2015


Um 2011 gab ich, als »Benutzer Datschist«, ein recht eingehendes Gastspiel bei der bekannten »Internet-Enzyklopädie«, die allmählich alle Suchmaschinen beherrscht und den Wissensbegierigen dieser Welt durchaus mammutmäßig auf den Köpfen herumtritt. Ich zog mir damals zahlreiche Rüffel und schließlich die Unlust zur weiteren Mitarbeit zu. Als ich einen Artikel über Lewis Mumfords Buch Mythos der Maschine angelegt hatte, kippte ein Tugendwächter beispielsweise meine beiläufige Feststellung, der nie zum Professor bestallte US-Autor sei beneidenswert belesen. Auf mein Nachhaken hieß es: »Woher weißt Du, daß ein Mumford-Kenner nicht zu dem Schluß kommt, naja, belesen ist er schon, aber beneidenswert sicher nicht, da kenne ich ungleich belesenere Schriftsteller und Forscher. Deine persönliche Einschätzung=Sicht der Dinge=Wertzuschreibung gehört also so nicht in den Artikel. Anders verhielte es sich, käme dieses Werturteil beispielsweise von Adorno. Dann hätten wir zu formulieren (soweit überhaupt wichtig für den Artikel): der laut Adorno beneidenswert belesene Mumford … und hätten diese Aussage mit einer Quelle zu belegen.«

In meinem neuangelegten Artikel über Jost Herbig, gestorben 1984, erlaubte ich mir die Bemerkung, im Vergleich zu den meisten Sachbuchautoren pflege der Kölner Herbol-Erbe (Farbtöpfe) und Kunstmäzen in seinen kulturgeschichtlichen Untersuchungen einen ausgezeichneten Stil. Auch dieses Urteil wurde umgehend gestrichen. Nachgehakt, erklärte mir der Zensor, meine Bemerkung habe nichts mit Herbigs sachlicher Leistung zu tun; so erfreulich eine anschauliche Sprache sein möge, sei eine Enzyklopädie doch nicht dafür da, Lobesworte für Stil zu vergeben. »Für diese Betonköpfe haben Inhalte keine Form«, knurrte ich damals insgeheim. »Für sie schweben sie in der Atmosphäre. Es sei denn, die Inhalte schmiegten sich der Form einer Baseballmütze, einer genormten Gitter-Palette oder eines jederzeit abrufbaren Artikelschemas an. Sie haben es auch nicht nötig, sich zur Lektüre eines Artikels und eines Buches des vorgestellten Autors verlocken zu lassen, denn sie lesen alles, was ihnen der Kanon verordnet, und sei es das Kölner Telefonbuch.« Was Wunder, wenn mir, grundsätzlicher formuliert, wiederholt mein »essayistischer« Stil vorgeworfen wurde. Auf der Diskussionsseite des von mir angelegten Artikels über Ernst Kreuders Buch Die Gesellschaft vom Dachboden mußte ich mir sogar sagen lassen, es handle sich dabei bestenfalls um einen »schlechten« Essay.

Ich will mich auf das Problem der Autoritätshörigkeit beschränken. Der hundertprozentige Wikipedia-Tugend-wächter – er kommt dem Ideal des bolschewistischen Kommissars nahe, den Orwell, Camus und Koestler so liebten – erwartet von jedem Wikipedia-Autor, jede Beschreibung zu opfern, für die er keinen »amtlichen« Beleg auftreiben konnte. Wie sich versteht, verkürzt das die Darstellung des Gegenstandes ungemein, zumal im Falle von Außenseitern wie Mumford, Herbig oder auch Walter Porzig. Auch bei diesem hatte ich mir, als Bearbeiter eines bereits vorhandenen Artikels, den Hinweis erlaubt, in seinem Werk Das Wunder der Sprache von 1950 lege er die Grundzüge der Sprachwissenschaft wohlgeordnet, verständlich und sogar genießbar dar – auf diesem Gebiet ja nahezu ein Novum; man führe sich nur einmal den Wikipedia-Artikel über Sprachwissenschaft zu Gemüte, falls man es über sich bringt. Obwohl ich in meinem Zusatz sogar eine Empfehlung einer »Autorität« beibringen konnte, nämlich aus dem Buch Wörter machen Leute (Neuausgabe München 1986) des langjährigen Leiters der Hamburger Journalistenschule Wolf Schneider, wurde mir auch dieses unsachliche Lob gestrichen. Und mehr noch. Zu den wenigen, nicht verhandelbaren Wikipedia-Unveräußerlichkeiten zählt neben der Neutralität des Artikels die Nachprüfbarkeit aller darin gemachten Angaben, was unter anderem bedeutet, nur Quellen zu verwenden, die im Zweifelsfall jedem zugänglich sind. Nun heißt es im Artikel über Porzig, er habe sich dieser und jener nationalsozialistischer Aktivitäten befleißigt, was auch belegt wird. Gleichwohl hielt ich den Hinweis für angebracht, in Porzigs erwähntem Hauptwerk – das ich schon dreimal gelesen hatte – fände sich keine Spur von »nationalsozia-listischem« Gedankengut. Auch das flog raus. Denn für diese Feststellung fehle der Beleg.

Da könnte Kleinfritzchen prompt einwenden, auch diese Festellung ließe sich durchaus von jedem nachprüfen. Man müsse sich dazu nur das Buch ausleihen und es von vorne bis hinten durchlesen. Aber das will man den Artikellesern und den Administratoren natürlich nicht zumuten. Also soll man Adorno oder Dr. Soundso zitieren, der in seiner veröffentlichten Arbeit Z. genau dieselbe Feststellung getroffen hat – freilich auch nur als Behauptung. Wollte er sie nämlich beweisen, teilte er das Schicksal von Saddam Hussein, von dem Bush und Blair verlangten, er möge nachweisen, in seinem ausgedehnten Wüstenreich nicht ein Gramm Plutonium versteckt zu haben. Worauf beläuft sich also der Unterschied zwischen mir und dem Doktor? Eben: auf dessen Titel, dessen Ruf, dessen Autorität. Und das kommt mir als altem 68er natürlich sehr befremdlich vor. In meinen Ausgewählten Zwergen wimmelt es von anerkannten Persönlichkeiten oder Institutionen, die sich bei näherer Betrachtung als Schwatzbuden, Hohlköpfe oder Arschlöcher, jedenfalls fast immer als Lügenbolde entpuppen. Ich nenne stellvertretend nur den Historiker Dr. Helmut Kohl, den Außenminister und Auschwitz-experten Fischer, den Über-die-Mauer-Macher Wolf Biermann, das Wochenblatt Spiegel und jene Treuhand-anstalt, die Ostdeutschland in eine »blühende Landschaft« für äsende westliche Dinosaurier verwandelte.

Zu den Goldenen Kälbern der Wikipedia-Gemeinde zählt die sogenannte »Relevanz«. Es handelt sich dabei um den Popanz einer Gemeinde von Gläubigen. Zieht man nämlich die Quersumme der zahlreichen Wikipedia-»Relevanz-kriterien« (so ein gesonderter Artikel), ergibt sich Erfolg. Ein Autor steht in anerkannten Nachschlagewerken; ein Fuhrunternehmen betreibt mindestens drei Buslinien; ein Politiker ist hauptamtlich tätiger stellvertretender Bürgermeister; ein Sportler zählt zum Kader der Nationalmannschaft und so weiter. Nur solche erfolgreichen Dinge/Personen sind relevant. Der Erfolg, der hier gemeint ist, fußt wiederum auf den drei Säulen Popularität, Größe, Einfluß (mit den Unterabteilungen Macht und Geld). Diese Werte genießen breiteste Anerkennung; diese Werte repräsentieren das Normale; diese Werte sind die Norm. Damit entpuppt sich die Internet-Enzyklopädie selber als Säule des Bestehenden. Und um zu verhindern, daß jemand daran rüttelt, pocht man eben auch in allen »relevanten« Fällen auf jene bereits gestreifte »Neutralität«. Wir dürfen den britischen Labour-Politiker Jack Straw, der im betreffenden Artikel mit wunderschöner blauroter Krawatte auftritt, nicht als Fluchthelfer für Pinochet, Guantanamo-Knecht, Kriegstreiber gegen den Iran und somit als Schurken enttarnen, es sei denn, es stünde in einem anerkannten Nachschlagewerk – wie dem erwähnten Spiegel zum Beispiel … Wir dürfen den Wahn des Profisports und der Rüstungsproduktion nicht beim Namen nennen, denn dadurch würden wir Millionen von Arbeitsplätzen und ein paar Millionäre gefährden und uns auf Erden entspre-chend unbeliebt machen. Wir dürfen einen Literatur-kanon, der in zahlreichen Fällen Schöndunst als Erbauung und Nebel als Aufklärung ausgibt, nicht anpinkeln, bräche doch andernfalls das halbe Verlagswesen dieses Planeten zusammen.

Für mich gilt also nicht die Gleichung, das Zuverlässigste sei stets das breit Anerkannte. Ginge es nach mir, müßte deshalb auch die Zuverlässigkeit einer Quelle – darunter die eigene Beobachtung – von jedem Artikelschreiber in jedem einzelnen Fall neu erwogen werden. Aber sie müßte in seiner Verantwortlichkeit bleiben. Und genau hier liegt der Wikipedia-Hase im Pfeffer. Selbst bei anderen, herkömmlichen Enzyklopädien oder Fachlexika werden die einzelnen Artikel oft mit Namen gezeichnet. Mindestens gibt es verantwortliche Redakteure oder HerausgeberInnen. In der Wikipedia dagegen wird erklärtermaßen kollektiv=anonym gearbeitet. Es wäre auch widersinnig, mich für eine Äußerung zur Rechenschaft ziehen zu wollen, die jeder jederzeit ändern, entstellen, tilgen kann. Das »Mitmach«-Projekt Wikipedia zeichnet sich durch die »Flexibilität« aus, die ich schon immer an allen postmodernen Projekten geliebt habe. Das schließt die Schlitzohrigkeit ein, die persönliche Verantwortung auf die in den Artikeln angeführten Autoritäten abzuwälzen. Die sind natürlich unbelangbar. Das gleiche gilt günstigerweise für jene weißbärtigen, mit allen Wassern gewaschenen Wikipedia-Tugendwächter, die längst wissen, wie der Hase läuft – weil sie selbst die Strippen ziehen.
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