Mittwoch, 22. Juni 2022
Korbach
2002


In seinem vor Ort vielgelobten Standardwerk Korbach bringt es Wolfgang Medding fertig, sowohl den Streit zwischen den Stadtpfarrern Johannes Lycaula und Michael Jakobinus, die um 1550 die Fronten der Reformation in Korbach verkörpern, als auch die Verfolgung Korbacher Juden im »Dritten Reich« auf jeweils rund zwei Seiten darzustellen. Die Geschehnisse sind von der Zeitspanne her vergleichbar. Nur daß der Streit zwischen Lycaula und Jakobinus weder ein brennendes Haus noch auch nur einen Erschlagenen gekostet hat. Wogegen von rund 150 Bürgern jüdischen Glaubens, die während des »Dritten Reiches« in Korbach gemeldet waren, 60 vertrieben und 52 in Konzentrationslager verschleppt worden sind. Nur sieben haben das KZ überlebt.

Auch in anderen Fragen beweist Stadthistoriker Medding eine niederschmetternde Gewichtung. Was wir seit Marx und Engels »soziale Frage« nennen, hat Medding nie begriffen. Zur Einsicht ist es zu spät, denn es gibt in Korbach bereits eine Wolfgang-Medding-Straße. Der Geehrte sprach gern von seinem oder unserem deutschen Vaterland. Das große Ganze, das von selbstlosen Fürsten oder Bürgermeistern verkörpert wird, lag ihm am Herzen. Korbachs Wohltäter Dr. Paul Zimmermann räumt er – bei einem Gesamtumfang von 400 – allein anderthalb Seiten seiner Stadtgeschichte sowie ein großes Foto ein. Zimmer-mann war parteilos, stand aber den Sozialdemokraten nahe. Das Amt des Korbacher Bürgermeisters versah er lückenlos von 1927 bis 1945. Wie vielleicht nicht jeder weiß, wurden die Bürgermeister des »Dritten Reiches« nicht gewählt, sondern von oben eingesetzt. Gewählt wurde Zimmermann »erst« 1948 wieder – erneut ins Korbacher Bürgermeisteramt!

Zu Meddings 1955 erschienenem Geschichtsbuch schrieb er (als amtierender Bürgermeister) das Geleitwort. Man wird sich denken können, wie es ausfiel. Auch wird es kaum verblüffen, wenn Paul Zimmermann ebenfalls seine Ehrung im Korbacher Stadtbild gefunden hat. Neben einem Sportplatz wurde eine Schule für praktisch bildbare – oder: behinderte – Menschen nach ihm benannt. Eine schmerzende Geschmacklosigkeit oder Zynismus? Zu Zeiten, da Zimmermann als Bürgermeister eingesetzt und in eine schmucke, braune SA-Uniform gesteckt worden war, pflegte man in solchen Fällen bekanntlich von »minderwertigen« Menschen zu sprechen. Zehntausende von ihnen wurden in Deutschland umgebracht. Ließ Dr. Paul Zimmermann dies alles im Schlaf über sich ergehen? Verkroch er sich zu Hause hinterm Ofen, als Reichsbau-ernführer Darré und der SS-Fürst Josias aus dem nahen Arolsen die Korbacher aufhetzten? Als Hans Frese (Brems-klötze am Siegeswagen der Nation, 1989) in der im Conti-Verwaltungsgebäude untergebrachten SS-Sportschule krankenhausreif geschlagen wurde und Arbeiter wie Fritz Schulz (KPD) und Martin Mast (SPD) im Kerker verschwanden? Als die Korbacher Synagoge brannte?

Nach der 1988 vom Wiesbadener Hauptstaatsarchivar Wolf-Arno Kropat vorgelegten Untersuchung Kristallnacht in Hessen begannen die Pogrome in Kurhessen (und Magdeburg-Anhalt) nicht erst nach der Münchener Goebbels-Rede vom Abend des 9. November 1938, sondern bereits am Abend des 7. November. An diesem Abend wird die Kasseler Synagoge zerstört. Die Inszenatoren sind die Kasseler Gestapo und die Arolser SS – Josias grüßt. Dann wüten die Nazis in Bebra, Ziegenhain, Zierenberg und so weiter. Am Vormittag des 9. November fallen Arolser SS-Trupps bereits ins unweit von Korbach gelegene Städtchen Wolfhagen ein. Laut Kropat war es ein Kennzeichen der hessischen Pogrome, daß sie auch auf dem flachen Land tobten. 1989 machte sich eine Arbeitsgemeinschaft Spurensicherung mit der Broschüre Judenverfolgung in Korbach sehr verdient, wenn auch nicht gerade beliebt. Zu den wenigen Korbacher Zeitzeugen, die sich der Arbeitsgemeinschaft gegenüber zu äußern wagen, zählt Gustav Plutz. »Die Stimmungslage war allein schon vom System her aufgeheizt. Die Jüngeren glaubten, die Juden seien ein Pestbeutel, der ausgerottet werden müsse. Denn so war die Jugend erzogen. Ähnlich war die Stimmung, wenn die SA durch die Stadt zog und sang 'Ja, wenn das Judenblut am Messer spritzt, ja dann gehts nochmal so gut'. Dies läßt sich heute kaum noch beschreiben, weil es ein Unding ist. Aber dies ist geschehen, ich habe es selbst gehört. Und so ähnlich war auch die Situation bei der Synagoge …«

Synagoge und Schulhaus der Korbacher Juden lagen im Schatten der mächtigen, schönen Kilianskirche in einer Gasse, die wohl nach einer dort ansässigen Familie »Tempel« hieß und auch heute noch heißt. Die Kilianskirche dürfte geschwiegen haben, als Synagoge und Schulhaus in Flammen aufgingen. Nach Plutz' Bericht müssen sie zwischen 20.30 und 21.30 Uhr am Abend des 9. November angezündet worden sein, also noch immer vor Goebbels Münchener Hetzrede. In derselben Nacht kommt es zu gewalttätigen Übergriffen auf Wohnhäuser jüdischer BürgerInnen. Die ersten jüdischen Männer werden bereits nach Kassel oder Buchenwald verfrachtet. Die Zahl der Opfer nannte ich.

Immerhin wurde 1947 – Dr. Zimmermann war gerade abwesend, um sich von den Schrecken des »Dritten Reiches« zu erholen – auf dem Korbacher Judenfriedhof ein schlichter Gedenkstein aufgestellt, der sie allesamt mit Namen nennt. Die Zunamen Mosheim, Weitzenkorn, Löwenstern, Goldberg, Straus dominieren. Und Katz. Derweil turnt der Trauerschnäpper durch die grünenden Eschen, die den verwunschenen Friedhof über der Eisenbahnschneise beschirmen. Den einen ein Leben für die Katz; den anderen die Weihen der Buchdeckel.
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