Dienstag, 21. Juni 2022
Kolkraben
ziegen, 13:39h
Um 2007
Wenke war keine Heuchlerin. Sie kam gar nicht auf die Idee, sich an dem Ausfall durchs Hoftor zu beteiligen. Ohnehin wußte jeder in der Kommune, daß sie mit Karsten eben wegen dessen Hund auf eher schlechtem Fuße stand. Dieser Hund war nun tot. Jemand hatte ihn am hellichten Mittag erschossen, als er, wie gewohnt, schier außer sich vor Wachsamkeit und Wut das geschlossene Hoftor besprang, um das Postauto zu verbellen. Der erste Schuß traf ihn in der Kehle, der zweite am Ohr. Die Kommu-narden stürzten aus dem Gutshaus, wo sie gerade zu Mittag aßen; die weiblichen natürlich auch. Das Postauto fuhr bereits durch die Senke aufs Dorf zu. Am Ulfensbach blühten Sumpfdotterblume, Brunnenkresse und Vergißmeinnicht.
Sie durchsuchten die umliegenden Hecken und Feldge-hölze, ohne einen Schützen zu entdecken. Nach einer halben Stunde kehrten sie um. Wenke und die Kinder standen am Gutsteich, wo die Hundeleiche jetzt im Gras lag, weil sie sonst das Hoftor nicht hätten öffnen können. Karsten sank auf die Knie und nahm Abschied von seinem Hund. Etliche Kommunarden, auch die Kinder, versuchten ihn zu trösten. Dann gingen sie ins Gutshaus zurück, wo die Reibekuchen kalt geworden waren.
So sehr sie sich auch die Köpfe zerbrachen, sie fanden zu keinem Verdacht. Und dann: Polizei oder keine Polizei? Hund oder nicht? Darauf lief es hinaus. Das Thema Hund war neuerdings ein Dauerbrenner auf dem Ulfenshof; alle paar Tage kam die Hundefrage auf den Tisch. Für Wenke war es höchst befremdlich, daß mehr oder weniger anarchistisch gesonnene Frauen und Männer auch nur erwägen konnten, vielleicht einen um Liebe und Befehle winselnden Sklaven in ihren Reihen zu dulden. Karsten hatte den Hund im Herbst mitgebracht; in wenigen Wochen würde Karstens Probezeit enden. Vermutlich sah er sich morgen schon nach einem neuen Hund um. Wie die Aktien standen, würde Karsten bleiben.
Wenkes Haltung war allerdings hinlänglich bekannt. Sie hielt sich aus der Debatte beim Mittagessen heraus, stellte bald ihren Teller auf die Durchreiche und verschwand in ihrem Zimmer.
Ihr war ein Verdächtiger eingefallen. Wie sie von der Bäckersfrau wußte, hieß er Leskoll – als Arbeitsloser ein Opfer der »Wende«, denn in Lübow war er Melker in der LPG gewesen. Er sah ziemlich verwittert aus, weshalb sein Alter schwer zu schätzen war; vielleicht war er Ende 40. Wenke kannte ihn nur flüchtig. Er wohnte jenseits der Senke, durch die der Ulfensbach floß, am Rande des Dorfes. Der Ulfenshof lag ähnlich einer baumbestandenen Insel in den Wiesen und Feldern. Von der Einfahrt aus waren es rund 1.000 Meter Luftlinie bis zu Leskolls heruntergekommenem Landarbeiterhäuschen, das sich auf der Anhöhe unter einer ausladenden Kastanie duckte. Vermutlich waren 1.000 Meter für zwei Kopfschüsse zu viel.
Wenke hatte Leskoll zuweilen seine Ziegen anpflocken oder Holzspalten gesehen, wenn sie mit dem Fahrrad ins Dorf fuhr. Ihr Verdacht rührte von ihrer einzigen Begegnung mit Leskoll her. Es war im Herbst gewesen, nachdem Karsten bereits zur Kommune gestoßen war. Sie durchstreifte den Ulfenswald nach Pilzen, weil sie damals die Küchenwoche hatte und weil ihre Soßen mit angebratenen frischen Pilzen sehr geschätzt wurden. Als sie den Ulfenswald auf dem Weg verließ, der durch die Senke zum Dorf führt, fiel ihr Blick auf Leskoll. Er stand mit verschränkten Armen auf dem Weg und äugte in die Kronen der mächtigen Eichen, die dort den Waldrand markieren. Nachdem sie ihn erreicht und gegrüßt hatte, nickte er zu den Eichenkronen hinauf und erklärte ihr nahezu begeistert:
»Sie sind sehr treu! Sie halten ein Leben lang zusammen!«
Wenke war natürlich verdutzt. Wie sich jedoch herausstellte, war nicht sie gemeint. Leskoll hatte sich vielmehr etwas unvermittelt auf die beiden Kolkraben bezogen, die in den Eichen hausten. Allerdings winkte er ab: im Moment seien sie gar nicht im Horst. Wenke nickte lächelnd. Sie hatte die Kolkraben schon öfter durch die Senke rudern gesehen, wobei sie seltsame, tiefe Laute von sich gaben, die mal gebellt, mal wie gehupt klangen.
Leskoll schien sein Interesse an den Raben schon wieder verloren zu haben. Sein zerfurchtes, von Bartstoppeln übersätes Gesicht nahm einen lauernden Zug an; dann nickte er auf Wenkes mit Pilzen gefüllte Spankörbe und erkundigte sich listig:
»Auch ein paar Knollenblätterpilze gefunden ..? Könnt ihr eurem Kommuneköter in den Napf mischen!«
Damit lachte er auf, ließ Wenke schroff stehen und verzog sich in den Wald.
Wenke weinte dem »Kommuneköter« nicht eine Träne nach. Anstelle der Postbotin hätte sie den Oberkläffer in der Tat längst vergiftet. Im Grunde hieß der Schuldige freilich Karsten. Es wäre ja ein Leichtes gewesen, dem Hund einzuschärfen, angesichts eines lärmenden, gelben Dinges, das sich mit großer Regelmäßigkeit vor ihrem Grundstück einfand, habe er sich mucksmäuschenstill zu verhalten. Dazu hätte es nur geringer, gezielter Züchtigung bedurft, worauf sich Karsten grundsätzlich durchaus verstand. Er führte sich ungeniert als der Herr seines Hundes auf, wobei er in der Kommune nur wenig angefochten war. Im Falle des Postautos hatte er aber eine Umerziehung seines Hundes mit einer Begründung von sich gewiesen, die Wenke so spitzfindig wie abwegig vorkam: Schließlich sei das ein Wachhund. Und wer garantiere ihnen denn, daß nicht eines schönen Mittags Polizisten oder Faschisten aus einem gelblackierten Auto sprängen?
Wenke begriff sich als Christin im Sinne der Bergpredigt, deshalb stand der gewaltsame Weg für sie außerhalb jeder Debatte. Weder gedachte sie AngreiferInnen – wenn es sie denn gäbe – mit Steinen zu bewerfen noch einen blutrünstigen Hund auf sie zu hetzen. Ging es aber allein darum, wachsame AlarmschlägerInnen auf dem Hof zu haben, brauchte sich die Kommune lediglich ein paar Gänse anzuschaffen. Diesen Vorschlag schob die Kommune seit Monaten vor sich her. Etliche Leute wollten Karsten auf keinen Fall verprellen.
Karsten war ein Arbeitstier. Vom Pflügen und Dielen-verlegen bis zum Baumfällen und Dachdecken beherrschte er ungefähr alles, was einem dabei behilflich sein konnte, nie zur Besinnung zu kommen. Ein richtiger Mann also. Wenke war längst klar, sie würde ihn niemals riechen können, mochte sich selbst der Gestank seines Köters aus seinen Klamotten und Poren verflüchtigen. Für den Fall, Karsten bliebe auf dem Ulfenshof, erwog sie sogar, sich dem ZEGG im Hohen Fläming anzuschließen. Diese »spirituell« orientierte Kommune umfaßte – mit Kindern – über 80 Leute, da fielen persönliche Antipathien wenig ins Gewicht.
Am späten Nachmittag holte Wenke ihr Rad aus der Scheune, um noch einmal ins Dorf zu fahren – vielleicht zum Bäcker, vielleicht zum Schreibwarengeschäft, das auch Poststation war. Zwar schloß sie ihr Fahrrad in der Tat vor dem Schreibwarengeschäft an; aber dann ging sie zu Fuß durch ein paar Nebenstraßen, um vor dem Landarbeiterhäuschen unter der mächtigen Kastanie einzutreffen. Der Hauseingang lag vom Ulfenshof abgewandt. Die Haustür war ähnlich verwittert wie Leskolls Gesicht. Über Schulterhöhe wies sie drei schmale, gelblich getönte und zudem genarbte Glasscheiben auf – ursprünglich jedenfalls, denn die mittlere Scheibe war durch eine Sperrholzplatte ersetzt worden. Eine Klingel entdeckte Wenke nicht. Sie klopfte – an die Sperrholzplatte. Hätte sie gegen Karstens Stirn geklopft, hätte es wahrscheinlich ähnlich geklungen.
Sie hörte Leskoll brummelnd durch den Hausflur schlurfen. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, lächelte Wenke und nickte anerkennend.
»Alle Achtung! Die beiden Schüsse saßen … Der Hund war übrigens nicht mein Busenfreund … Auf welche Entfer-nung mußten Sie denn treffen? Doch nicht von hier?«
Leskoll hatte nur seine Augen verkniffen und sah sie nun länger so an, ohne etwas zu erwidern. Doch schließlich trat er mit einem Schmunzeln beiseite und nickte in den Flur.
Sie gingen in Leskolls Wohnküche, deren Tür noch aufstand. Sie wirkte zwar etwas schäbig, war aber verblüffend aufgeräumt und sauber gehalten. Die beiden Fenster gingen auf die Senke. Nahebei waren Leskolls Ziegen und deren geducktes Stallhäuschen zu sehen. Auf dem Küchentisch lag ein geöffnetes Buch, das sich auf den Rand einer Schale mit Äpfeln stützte. Leskoll nahm wieder vor ihm Platz, tat aber dann das Lesezeichen hinein, um das Buch allmählich zuzuklappen, während er aus dem Fenster zum Ulfenshof starrte. Da er Wenke keinen Stuhl angeboten hatte, nahm sie den nächstbesten, der übereck zu Leskolls Stuhl stand. Dann wandte sie ihren Kopf und blickte ebenfalls über die Senke. Der Ulfenswald umgab und krönte die Senke fast wie eine grüne Mauer, die nur der Landstraße Durchschlupf gewährte.
»Na wo denn wohl ..?« ließ sich Leskoll nach einigem Schweigen vernehmen. »Siehst du das schilfbestandene Wasserloch, das 100 Meter südlich von eurem Hoftor im Acker liegt? Da habe ich auf das Postauto gewartet. Ich stand bis zu den Knien im Wasser. Natürlich hatte ich meine Anglerstiefel an.«
Merkwürdigerweise machte es Wenke nichts aus, daß Leskoll sie duzte, obwohl sie immerhin schon 34 war. Nach einer Weile fragte sie zurück:
»Und warum? Was hatten Sie denn gegen unseren Köter?«
»Weil er Tag und Nacht wie ein Verrückter bellt!« Leskoll sah sie wütend an. »Das ist doch klar! Na sicher, daß er anschlagen muß, wenn Fremde kommen! Aber nicht wegen jeder Feldmaus und schon gar nicht beim Postauto! Da kriegt er ein paar Tritte in die Flanke, dann dämmert ihm schon, er hat die Schnauze zu halten!«
Leskoll unterbrach sich in seiner Tirade, indem er unwirsch abwinkte und das zugeklappte Buch befingerte. Es hieß Der farbige Brehm – offenbar eine populäre Ausgabe mit Fotos. Leskoll grinste, nahm einen Apfel aus der Schale und biß herzhaft hinein. Auch die Äpfel wirkten, wie Leskolls Gesicht, nicht mehr ganz glatt; vermutlich hatte er sie im vergangenen Herbst eingekellert. Nun tippte der Eigenbrötler auf den Buchdeckel und stellte kauend fest:
»Ein Hund ist kein Fuchs. Wir von der Menschensorte haben ihn mit Blindheit geschlagen. Wir müssen ihm also zeigen, wo's langgeht. Hast du einmal 20 Jährchen in einer LPG geschafft, statt auf 'Kommune' zu machen, wirst du wissen, was ich meine. Ohne die Führung bist du aufgeschmissen; am Ende ballerst du noch wild in die Gegend. Wie kriegst du deinen Tag herum? Das frage ich dich, Mädchen.«
Leskoll sah sie bohrend an. In Wenke stieg jäh ein verdammt mulmiges Gefühl auf. Vielleicht hatte sie sich übernommen. Sie schob bereits ihren Stuhl zurück, während sie sich für ihren eiligen Aufbruch mit dem drohenden Ladenschluß der Bäckerei entschuldigte. Dann wurde sie nur von dem Gedanken getrieben, unbehelligt zur Haustür zu kommen, was ihr auch durchaus gelang.
Leskoll war einfach sitzen geblieben. Er starrte aus dem Fenster, während er geistesabwesend über den Fuchs auf dem Buchdeckel strich. Wenige Minuten später sah er seine Besucherin, die auf ihrem rotlackierten Fahrrad vom Dorf aus in die Senke rollte. Rings um Wenke stiegen die Lerchen auf, denn die Sonne hielt bereits auf den Saum des Ulfenswaldes zu.
Wenke hatte heute kein Ohr für die Lerchen. Dafür war sie von ihrer Begegnung mit Leskoll zu aufgewühlt. Sie mußte mit jemand darüber sprechen. Ihre MitstreiterInnen aus der Kommune kamen allerdings nicht in Frage; es lag ihr fern, Leskoll zu verpfeifen und vielleicht zu gefährden. Dazu war ihr der Sonderling zu sympathisch. Gewiß, auf der anderen Seite flößte ihr Leskoll auch ein Gruseln ein. Sicherlich lagen Welten zwischen ihnen. In der Rolle eines Kommunarden war er ebenfalls kaum vorstellbar. Doch was dann tun mit ihm? Er hatte ja offensichtlich um Hilfe gerufen. Von der unseligen Zeit vor der »Wende« her mußte er zumindest eine Ahnung von Solidarität haben. Vielleicht zählte er bereits auf Wenke, zumal sie ein Geheimnis teilten.
Solche Erwägungen beherrschten auch das Telefon-gespräch, das Wenke nach dem Abendessen mit ihrer langjährigen Freundin Ulrike führte, die in Bremen wohnte. Ein handfestes Ergebnis wurde nur insofern erzielt, als Ulrike Wenke vorschlug, kurzentschlossen auf ein paar Tage bei ihr vorbeizukommen. Freiberuflich als Übersetzerin tätig, hatte Ulrike gegenwärtig nichts Dringendes zu tun. Auch Wenke konnte ihre Flechtarbeiten – sie setzte vor allem entsprechende Sitzmöbel instand – leicht verschieben. Sie sagte sofort zu.
Nachdem sie sich eine Zugverbindung herausgesucht hatte, vereinbarte sie mit Christian, sie am nächsten Morgen gegen 11 zum Bahnhof in Bad Kleinen zu bringen. Sie packte ihre Reisetasche und legte sich mit Claude Tilliers Onkel Benjamin ins Bett. Sie schlief erheitert und tief wie immer. Weder hörte sie im Morgengrauen vom Dorf her das Martinshorn, noch ahnte sie etwas von dem Verhängnis, das auf sie selber zukam.
Zunächst hatte Karsten im Morgengrauen bereits seine Rache verübt. Schuld daran war Wenkes Unvorsichtigkeit. Sie hatte nicht damit gerechnet, beim Telefonieren mit Ulrike belauscht zu werden. Das Telefon der Kommune stand in einem schmalen Zimmerchen neben der Gutshaustür, an das sich das Büro der Kommune anschloß. Die Verbindungstür pflegte stets aufzustehen; das Büro war unbesetzt gewesen. Im Hintergrund der am Hoffenster gelegenen Telefonecke barg das Zimmerchen jedoch ein separates WC, das nach wie vor für BesucherInnen vorgesehen war, denn es war abschließbar. Es stammte aus der Zeit vor der »Wende«, als das Gutshaus einen sogenannten Jugendwerkhof beherbergte, nämlich eine Besserungsanstalt für mißratene DDR-Jugendliche. Hatten sie tags auf den LPG-Äckern Kartoffeln oder Steine gelesen, durften sie abends Fußball spielen. Bei Führungen unterließ es die Kommune nicht, auf die Arrestzelle im Keller hinzuweisen. Zwei Glasbausteine mit einem Luftschlitz zur Decke erhellten sie. Die handspannendicke Stahltür hätte für den Tresorraum der Bausparkasse Wüstenrot genügt. Für besonders ketzerische Sünder ließ sich sogar der eiserne Bettrost hochklappen und an der Wand anschließen. Dann hieß es buchstäblich, die Nacht durch zu stehen.
An diesem Abend saßen allerdings weder der Kreissekretär der Wismarer SED noch der Vater einer Kommunardin auf dem Besucherklo, vielmehr Karsten. Als Kommunarde hatte er die WC-Tür gewohnheitsgemäß nicht verriegelt, sodaß an dem Drehriegel von außen frei zu lesen war. Aus diesem Grund wähnte sich Wenke beim Telefonieren mit Ulrike unter vier Ohren.
Nachdem sie das Telefonzimmerchen verlassen hatte, blieb Karsten länger als erforderlich auf der Kloschüssel hocken, bot sich der Ort doch wesensgemäß dazu an, dringend benötigte Pläne auszubrüten. Also Leskoll hieß der Schuft! Die Vogelscheuche aus der Bruchbude jenseits des Ulfensbaches! Man konnte die Bude natürlich kurzerhand anzünden. Freilich mußte das bei Dunkelheit geschehen. Dann lief Karsten allerdings Gefahr, auch den schnarchenden Leskoll auf dem Kerbholz zu haben, was selbstverständlich nicht in Frage kam. Mochte Karsten auch keine Zimperliese sein, den Unterschied zwischen Hund und Mensch machte er durchaus. Aber hielt Leskoll nicht Ziegen? Das war es.
Es liegt dem Erzähler fern, den arbeitslosen, etwas verschrobenen Einsiedler Leskoll zu verklären. Leskoll mochte sich für Kolkraben interessieren und hin und wieder sogar in einem »richtigen« Buch lesen – abends tat er regelmäßig, was sehr viele Menschen auf diesem verfehlten Planeten tun: er sah fern und trank sich dabei die Hucke voll. Leskoll bevorzugte Oettinger-Pils, gebraut in Schwerin, verschmähte allerdings auch ein paar Gläschen Klaren nicht. Im Ergebnis sank er stets zufrieden in sein Bett, um sich mehr oder weniger züchtigen Träumen hinzugeben.
Von daher überhörte Leskoll sogar das Martinshorn. Der Nachbar hatte die Ziegen schreien gehört, war ans Fenster gestürzt, hatte die Feuerwehr alarmiert. Diese konnte freilich nicht mehr viel ausrichten. Sie dämmte das Feuer ein; dann rüttelte sie – der Morgen graute schon – den Ziegenhalter aus seinem Rausch. Leskoll tappte hinaus, um die schwelenden Überreste seines Ziegenstalls und seiner fünf Ziegen zu beäugen. Nur mit Mühe gab er zu Protokoll, von nichts zu wissen. Zu diesem schlaf-trunkenen Zeitpunkt entsprach das durchaus der Wahrheit. Leskoll war sich noch nicht im klaren darüber, daß ein Hund offenbar fünf Ziegen wert war. Die Feuerwehr zog ab.
Leskoll brühte Kaffee auf. Er ließ sich an seinem Küchentisch nieder und starrte in die Senke, in der jetzt kein geduckter Ziegenstall mehr ausgespart war. Dabei wurde es hell über dem sanft gewellten Land. Plötzlich fiel es Leskoll wie Schuppen von den Augen. Das Mädchen! Es hatte ihm etwas vorgespielt, um ihn auszuhorchen und sein Grundstück auszukundschaften! Und dann schlug sie mit ihrer Dreckskommune zu. »Na warte, Früchtchen!« knurrte Leskoll und schenkte sich derart grimmig Kaffee nach, daß er den halben Küchentisch überschwemmte. Eine Viertelstunde später brach er auf.
Gegen 11 ließ Christian den Wagen an. Üblicherweise gingen MitfahrerInnen unterdessen über den Hof zum Tor, um es zu öffnen und dann auch hinter dem ausfahrenden Wagen wieder zu schließen. Aber dazu kam Wenke nicht mehr. Diesmal schaffte es Leskoll, der wie gehabt im Schilf stand, mit nur einem Kopfschuß. Nebenbei scheuchte der Knall die beiden Kolkraben auf, die sich für eine kurze Rast auf den hohen Eschen am Gutsteich niedergelassen hatten.
°
°
Wenke war keine Heuchlerin. Sie kam gar nicht auf die Idee, sich an dem Ausfall durchs Hoftor zu beteiligen. Ohnehin wußte jeder in der Kommune, daß sie mit Karsten eben wegen dessen Hund auf eher schlechtem Fuße stand. Dieser Hund war nun tot. Jemand hatte ihn am hellichten Mittag erschossen, als er, wie gewohnt, schier außer sich vor Wachsamkeit und Wut das geschlossene Hoftor besprang, um das Postauto zu verbellen. Der erste Schuß traf ihn in der Kehle, der zweite am Ohr. Die Kommu-narden stürzten aus dem Gutshaus, wo sie gerade zu Mittag aßen; die weiblichen natürlich auch. Das Postauto fuhr bereits durch die Senke aufs Dorf zu. Am Ulfensbach blühten Sumpfdotterblume, Brunnenkresse und Vergißmeinnicht.
Sie durchsuchten die umliegenden Hecken und Feldge-hölze, ohne einen Schützen zu entdecken. Nach einer halben Stunde kehrten sie um. Wenke und die Kinder standen am Gutsteich, wo die Hundeleiche jetzt im Gras lag, weil sie sonst das Hoftor nicht hätten öffnen können. Karsten sank auf die Knie und nahm Abschied von seinem Hund. Etliche Kommunarden, auch die Kinder, versuchten ihn zu trösten. Dann gingen sie ins Gutshaus zurück, wo die Reibekuchen kalt geworden waren.
So sehr sie sich auch die Köpfe zerbrachen, sie fanden zu keinem Verdacht. Und dann: Polizei oder keine Polizei? Hund oder nicht? Darauf lief es hinaus. Das Thema Hund war neuerdings ein Dauerbrenner auf dem Ulfenshof; alle paar Tage kam die Hundefrage auf den Tisch. Für Wenke war es höchst befremdlich, daß mehr oder weniger anarchistisch gesonnene Frauen und Männer auch nur erwägen konnten, vielleicht einen um Liebe und Befehle winselnden Sklaven in ihren Reihen zu dulden. Karsten hatte den Hund im Herbst mitgebracht; in wenigen Wochen würde Karstens Probezeit enden. Vermutlich sah er sich morgen schon nach einem neuen Hund um. Wie die Aktien standen, würde Karsten bleiben.
Wenkes Haltung war allerdings hinlänglich bekannt. Sie hielt sich aus der Debatte beim Mittagessen heraus, stellte bald ihren Teller auf die Durchreiche und verschwand in ihrem Zimmer.
Ihr war ein Verdächtiger eingefallen. Wie sie von der Bäckersfrau wußte, hieß er Leskoll – als Arbeitsloser ein Opfer der »Wende«, denn in Lübow war er Melker in der LPG gewesen. Er sah ziemlich verwittert aus, weshalb sein Alter schwer zu schätzen war; vielleicht war er Ende 40. Wenke kannte ihn nur flüchtig. Er wohnte jenseits der Senke, durch die der Ulfensbach floß, am Rande des Dorfes. Der Ulfenshof lag ähnlich einer baumbestandenen Insel in den Wiesen und Feldern. Von der Einfahrt aus waren es rund 1.000 Meter Luftlinie bis zu Leskolls heruntergekommenem Landarbeiterhäuschen, das sich auf der Anhöhe unter einer ausladenden Kastanie duckte. Vermutlich waren 1.000 Meter für zwei Kopfschüsse zu viel.
Wenke hatte Leskoll zuweilen seine Ziegen anpflocken oder Holzspalten gesehen, wenn sie mit dem Fahrrad ins Dorf fuhr. Ihr Verdacht rührte von ihrer einzigen Begegnung mit Leskoll her. Es war im Herbst gewesen, nachdem Karsten bereits zur Kommune gestoßen war. Sie durchstreifte den Ulfenswald nach Pilzen, weil sie damals die Küchenwoche hatte und weil ihre Soßen mit angebratenen frischen Pilzen sehr geschätzt wurden. Als sie den Ulfenswald auf dem Weg verließ, der durch die Senke zum Dorf führt, fiel ihr Blick auf Leskoll. Er stand mit verschränkten Armen auf dem Weg und äugte in die Kronen der mächtigen Eichen, die dort den Waldrand markieren. Nachdem sie ihn erreicht und gegrüßt hatte, nickte er zu den Eichenkronen hinauf und erklärte ihr nahezu begeistert:
»Sie sind sehr treu! Sie halten ein Leben lang zusammen!«
Wenke war natürlich verdutzt. Wie sich jedoch herausstellte, war nicht sie gemeint. Leskoll hatte sich vielmehr etwas unvermittelt auf die beiden Kolkraben bezogen, die in den Eichen hausten. Allerdings winkte er ab: im Moment seien sie gar nicht im Horst. Wenke nickte lächelnd. Sie hatte die Kolkraben schon öfter durch die Senke rudern gesehen, wobei sie seltsame, tiefe Laute von sich gaben, die mal gebellt, mal wie gehupt klangen.
Leskoll schien sein Interesse an den Raben schon wieder verloren zu haben. Sein zerfurchtes, von Bartstoppeln übersätes Gesicht nahm einen lauernden Zug an; dann nickte er auf Wenkes mit Pilzen gefüllte Spankörbe und erkundigte sich listig:
»Auch ein paar Knollenblätterpilze gefunden ..? Könnt ihr eurem Kommuneköter in den Napf mischen!«
Damit lachte er auf, ließ Wenke schroff stehen und verzog sich in den Wald.
Wenke weinte dem »Kommuneköter« nicht eine Träne nach. Anstelle der Postbotin hätte sie den Oberkläffer in der Tat längst vergiftet. Im Grunde hieß der Schuldige freilich Karsten. Es wäre ja ein Leichtes gewesen, dem Hund einzuschärfen, angesichts eines lärmenden, gelben Dinges, das sich mit großer Regelmäßigkeit vor ihrem Grundstück einfand, habe er sich mucksmäuschenstill zu verhalten. Dazu hätte es nur geringer, gezielter Züchtigung bedurft, worauf sich Karsten grundsätzlich durchaus verstand. Er führte sich ungeniert als der Herr seines Hundes auf, wobei er in der Kommune nur wenig angefochten war. Im Falle des Postautos hatte er aber eine Umerziehung seines Hundes mit einer Begründung von sich gewiesen, die Wenke so spitzfindig wie abwegig vorkam: Schließlich sei das ein Wachhund. Und wer garantiere ihnen denn, daß nicht eines schönen Mittags Polizisten oder Faschisten aus einem gelblackierten Auto sprängen?
Wenke begriff sich als Christin im Sinne der Bergpredigt, deshalb stand der gewaltsame Weg für sie außerhalb jeder Debatte. Weder gedachte sie AngreiferInnen – wenn es sie denn gäbe – mit Steinen zu bewerfen noch einen blutrünstigen Hund auf sie zu hetzen. Ging es aber allein darum, wachsame AlarmschlägerInnen auf dem Hof zu haben, brauchte sich die Kommune lediglich ein paar Gänse anzuschaffen. Diesen Vorschlag schob die Kommune seit Monaten vor sich her. Etliche Leute wollten Karsten auf keinen Fall verprellen.
Karsten war ein Arbeitstier. Vom Pflügen und Dielen-verlegen bis zum Baumfällen und Dachdecken beherrschte er ungefähr alles, was einem dabei behilflich sein konnte, nie zur Besinnung zu kommen. Ein richtiger Mann also. Wenke war längst klar, sie würde ihn niemals riechen können, mochte sich selbst der Gestank seines Köters aus seinen Klamotten und Poren verflüchtigen. Für den Fall, Karsten bliebe auf dem Ulfenshof, erwog sie sogar, sich dem ZEGG im Hohen Fläming anzuschließen. Diese »spirituell« orientierte Kommune umfaßte – mit Kindern – über 80 Leute, da fielen persönliche Antipathien wenig ins Gewicht.
Am späten Nachmittag holte Wenke ihr Rad aus der Scheune, um noch einmal ins Dorf zu fahren – vielleicht zum Bäcker, vielleicht zum Schreibwarengeschäft, das auch Poststation war. Zwar schloß sie ihr Fahrrad in der Tat vor dem Schreibwarengeschäft an; aber dann ging sie zu Fuß durch ein paar Nebenstraßen, um vor dem Landarbeiterhäuschen unter der mächtigen Kastanie einzutreffen. Der Hauseingang lag vom Ulfenshof abgewandt. Die Haustür war ähnlich verwittert wie Leskolls Gesicht. Über Schulterhöhe wies sie drei schmale, gelblich getönte und zudem genarbte Glasscheiben auf – ursprünglich jedenfalls, denn die mittlere Scheibe war durch eine Sperrholzplatte ersetzt worden. Eine Klingel entdeckte Wenke nicht. Sie klopfte – an die Sperrholzplatte. Hätte sie gegen Karstens Stirn geklopft, hätte es wahrscheinlich ähnlich geklungen.
Sie hörte Leskoll brummelnd durch den Hausflur schlurfen. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, lächelte Wenke und nickte anerkennend.
»Alle Achtung! Die beiden Schüsse saßen … Der Hund war übrigens nicht mein Busenfreund … Auf welche Entfer-nung mußten Sie denn treffen? Doch nicht von hier?«
Leskoll hatte nur seine Augen verkniffen und sah sie nun länger so an, ohne etwas zu erwidern. Doch schließlich trat er mit einem Schmunzeln beiseite und nickte in den Flur.
Sie gingen in Leskolls Wohnküche, deren Tür noch aufstand. Sie wirkte zwar etwas schäbig, war aber verblüffend aufgeräumt und sauber gehalten. Die beiden Fenster gingen auf die Senke. Nahebei waren Leskolls Ziegen und deren geducktes Stallhäuschen zu sehen. Auf dem Küchentisch lag ein geöffnetes Buch, das sich auf den Rand einer Schale mit Äpfeln stützte. Leskoll nahm wieder vor ihm Platz, tat aber dann das Lesezeichen hinein, um das Buch allmählich zuzuklappen, während er aus dem Fenster zum Ulfenshof starrte. Da er Wenke keinen Stuhl angeboten hatte, nahm sie den nächstbesten, der übereck zu Leskolls Stuhl stand. Dann wandte sie ihren Kopf und blickte ebenfalls über die Senke. Der Ulfenswald umgab und krönte die Senke fast wie eine grüne Mauer, die nur der Landstraße Durchschlupf gewährte.
»Na wo denn wohl ..?« ließ sich Leskoll nach einigem Schweigen vernehmen. »Siehst du das schilfbestandene Wasserloch, das 100 Meter südlich von eurem Hoftor im Acker liegt? Da habe ich auf das Postauto gewartet. Ich stand bis zu den Knien im Wasser. Natürlich hatte ich meine Anglerstiefel an.«
Merkwürdigerweise machte es Wenke nichts aus, daß Leskoll sie duzte, obwohl sie immerhin schon 34 war. Nach einer Weile fragte sie zurück:
»Und warum? Was hatten Sie denn gegen unseren Köter?«
»Weil er Tag und Nacht wie ein Verrückter bellt!« Leskoll sah sie wütend an. »Das ist doch klar! Na sicher, daß er anschlagen muß, wenn Fremde kommen! Aber nicht wegen jeder Feldmaus und schon gar nicht beim Postauto! Da kriegt er ein paar Tritte in die Flanke, dann dämmert ihm schon, er hat die Schnauze zu halten!«
Leskoll unterbrach sich in seiner Tirade, indem er unwirsch abwinkte und das zugeklappte Buch befingerte. Es hieß Der farbige Brehm – offenbar eine populäre Ausgabe mit Fotos. Leskoll grinste, nahm einen Apfel aus der Schale und biß herzhaft hinein. Auch die Äpfel wirkten, wie Leskolls Gesicht, nicht mehr ganz glatt; vermutlich hatte er sie im vergangenen Herbst eingekellert. Nun tippte der Eigenbrötler auf den Buchdeckel und stellte kauend fest:
»Ein Hund ist kein Fuchs. Wir von der Menschensorte haben ihn mit Blindheit geschlagen. Wir müssen ihm also zeigen, wo's langgeht. Hast du einmal 20 Jährchen in einer LPG geschafft, statt auf 'Kommune' zu machen, wirst du wissen, was ich meine. Ohne die Führung bist du aufgeschmissen; am Ende ballerst du noch wild in die Gegend. Wie kriegst du deinen Tag herum? Das frage ich dich, Mädchen.«
Leskoll sah sie bohrend an. In Wenke stieg jäh ein verdammt mulmiges Gefühl auf. Vielleicht hatte sie sich übernommen. Sie schob bereits ihren Stuhl zurück, während sie sich für ihren eiligen Aufbruch mit dem drohenden Ladenschluß der Bäckerei entschuldigte. Dann wurde sie nur von dem Gedanken getrieben, unbehelligt zur Haustür zu kommen, was ihr auch durchaus gelang.
Leskoll war einfach sitzen geblieben. Er starrte aus dem Fenster, während er geistesabwesend über den Fuchs auf dem Buchdeckel strich. Wenige Minuten später sah er seine Besucherin, die auf ihrem rotlackierten Fahrrad vom Dorf aus in die Senke rollte. Rings um Wenke stiegen die Lerchen auf, denn die Sonne hielt bereits auf den Saum des Ulfenswaldes zu.
Wenke hatte heute kein Ohr für die Lerchen. Dafür war sie von ihrer Begegnung mit Leskoll zu aufgewühlt. Sie mußte mit jemand darüber sprechen. Ihre MitstreiterInnen aus der Kommune kamen allerdings nicht in Frage; es lag ihr fern, Leskoll zu verpfeifen und vielleicht zu gefährden. Dazu war ihr der Sonderling zu sympathisch. Gewiß, auf der anderen Seite flößte ihr Leskoll auch ein Gruseln ein. Sicherlich lagen Welten zwischen ihnen. In der Rolle eines Kommunarden war er ebenfalls kaum vorstellbar. Doch was dann tun mit ihm? Er hatte ja offensichtlich um Hilfe gerufen. Von der unseligen Zeit vor der »Wende« her mußte er zumindest eine Ahnung von Solidarität haben. Vielleicht zählte er bereits auf Wenke, zumal sie ein Geheimnis teilten.
Solche Erwägungen beherrschten auch das Telefon-gespräch, das Wenke nach dem Abendessen mit ihrer langjährigen Freundin Ulrike führte, die in Bremen wohnte. Ein handfestes Ergebnis wurde nur insofern erzielt, als Ulrike Wenke vorschlug, kurzentschlossen auf ein paar Tage bei ihr vorbeizukommen. Freiberuflich als Übersetzerin tätig, hatte Ulrike gegenwärtig nichts Dringendes zu tun. Auch Wenke konnte ihre Flechtarbeiten – sie setzte vor allem entsprechende Sitzmöbel instand – leicht verschieben. Sie sagte sofort zu.
Nachdem sie sich eine Zugverbindung herausgesucht hatte, vereinbarte sie mit Christian, sie am nächsten Morgen gegen 11 zum Bahnhof in Bad Kleinen zu bringen. Sie packte ihre Reisetasche und legte sich mit Claude Tilliers Onkel Benjamin ins Bett. Sie schlief erheitert und tief wie immer. Weder hörte sie im Morgengrauen vom Dorf her das Martinshorn, noch ahnte sie etwas von dem Verhängnis, das auf sie selber zukam.
Zunächst hatte Karsten im Morgengrauen bereits seine Rache verübt. Schuld daran war Wenkes Unvorsichtigkeit. Sie hatte nicht damit gerechnet, beim Telefonieren mit Ulrike belauscht zu werden. Das Telefon der Kommune stand in einem schmalen Zimmerchen neben der Gutshaustür, an das sich das Büro der Kommune anschloß. Die Verbindungstür pflegte stets aufzustehen; das Büro war unbesetzt gewesen. Im Hintergrund der am Hoffenster gelegenen Telefonecke barg das Zimmerchen jedoch ein separates WC, das nach wie vor für BesucherInnen vorgesehen war, denn es war abschließbar. Es stammte aus der Zeit vor der »Wende«, als das Gutshaus einen sogenannten Jugendwerkhof beherbergte, nämlich eine Besserungsanstalt für mißratene DDR-Jugendliche. Hatten sie tags auf den LPG-Äckern Kartoffeln oder Steine gelesen, durften sie abends Fußball spielen. Bei Führungen unterließ es die Kommune nicht, auf die Arrestzelle im Keller hinzuweisen. Zwei Glasbausteine mit einem Luftschlitz zur Decke erhellten sie. Die handspannendicke Stahltür hätte für den Tresorraum der Bausparkasse Wüstenrot genügt. Für besonders ketzerische Sünder ließ sich sogar der eiserne Bettrost hochklappen und an der Wand anschließen. Dann hieß es buchstäblich, die Nacht durch zu stehen.
An diesem Abend saßen allerdings weder der Kreissekretär der Wismarer SED noch der Vater einer Kommunardin auf dem Besucherklo, vielmehr Karsten. Als Kommunarde hatte er die WC-Tür gewohnheitsgemäß nicht verriegelt, sodaß an dem Drehriegel von außen frei zu lesen war. Aus diesem Grund wähnte sich Wenke beim Telefonieren mit Ulrike unter vier Ohren.
Nachdem sie das Telefonzimmerchen verlassen hatte, blieb Karsten länger als erforderlich auf der Kloschüssel hocken, bot sich der Ort doch wesensgemäß dazu an, dringend benötigte Pläne auszubrüten. Also Leskoll hieß der Schuft! Die Vogelscheuche aus der Bruchbude jenseits des Ulfensbaches! Man konnte die Bude natürlich kurzerhand anzünden. Freilich mußte das bei Dunkelheit geschehen. Dann lief Karsten allerdings Gefahr, auch den schnarchenden Leskoll auf dem Kerbholz zu haben, was selbstverständlich nicht in Frage kam. Mochte Karsten auch keine Zimperliese sein, den Unterschied zwischen Hund und Mensch machte er durchaus. Aber hielt Leskoll nicht Ziegen? Das war es.
Es liegt dem Erzähler fern, den arbeitslosen, etwas verschrobenen Einsiedler Leskoll zu verklären. Leskoll mochte sich für Kolkraben interessieren und hin und wieder sogar in einem »richtigen« Buch lesen – abends tat er regelmäßig, was sehr viele Menschen auf diesem verfehlten Planeten tun: er sah fern und trank sich dabei die Hucke voll. Leskoll bevorzugte Oettinger-Pils, gebraut in Schwerin, verschmähte allerdings auch ein paar Gläschen Klaren nicht. Im Ergebnis sank er stets zufrieden in sein Bett, um sich mehr oder weniger züchtigen Träumen hinzugeben.
Von daher überhörte Leskoll sogar das Martinshorn. Der Nachbar hatte die Ziegen schreien gehört, war ans Fenster gestürzt, hatte die Feuerwehr alarmiert. Diese konnte freilich nicht mehr viel ausrichten. Sie dämmte das Feuer ein; dann rüttelte sie – der Morgen graute schon – den Ziegenhalter aus seinem Rausch. Leskoll tappte hinaus, um die schwelenden Überreste seines Ziegenstalls und seiner fünf Ziegen zu beäugen. Nur mit Mühe gab er zu Protokoll, von nichts zu wissen. Zu diesem schlaf-trunkenen Zeitpunkt entsprach das durchaus der Wahrheit. Leskoll war sich noch nicht im klaren darüber, daß ein Hund offenbar fünf Ziegen wert war. Die Feuerwehr zog ab.
Leskoll brühte Kaffee auf. Er ließ sich an seinem Küchentisch nieder und starrte in die Senke, in der jetzt kein geduckter Ziegenstall mehr ausgespart war. Dabei wurde es hell über dem sanft gewellten Land. Plötzlich fiel es Leskoll wie Schuppen von den Augen. Das Mädchen! Es hatte ihm etwas vorgespielt, um ihn auszuhorchen und sein Grundstück auszukundschaften! Und dann schlug sie mit ihrer Dreckskommune zu. »Na warte, Früchtchen!« knurrte Leskoll und schenkte sich derart grimmig Kaffee nach, daß er den halben Küchentisch überschwemmte. Eine Viertelstunde später brach er auf.
Gegen 11 ließ Christian den Wagen an. Üblicherweise gingen MitfahrerInnen unterdessen über den Hof zum Tor, um es zu öffnen und dann auch hinter dem ausfahrenden Wagen wieder zu schließen. Aber dazu kam Wenke nicht mehr. Diesmal schaffte es Leskoll, der wie gehabt im Schilf stand, mit nur einem Kopfschuß. Nebenbei scheuchte der Knall die beiden Kolkraben auf, die sich für eine kurze Rast auf den hohen Eschen am Gutsteich niedergelassen hatten.
°
°