Montag, 20. Juni 2022
Musikfreizeit

Ein 2020 verfaßter, nach ihm benannter Kurzroman rankt sich um den Nordhessen Heinz Schlackendörfer, geboren 1925. Handlungszeit sind die 1960er Jahre. Jetzt macht sich der Karlskirchener Privatdetektiv in seinem zerbeulten VW-Käfer mißmutig auf den Weg zu einer Bad Wildunger Kurärztin und letztlich auch zu einer kurzen Laufbahn als Deutschrocksänger.


Zu allem Unglück hatte Schlackendörfer erst vorgestern eher zufällig von einer früheren Mitmusikschülerin (Geige) erfahren, ihr begnadeter, von allen geliebte »Impressario« Pedro sei bereits vor einigen Jahren unter die Erde gekommen, durch eine heimtückische, blödsinnige Erkrankung an Leukämie. Ihm verdankte Schlackendörfer die aufregendsten und besten Sommerwochen seines bisherigen Lebens. Bei seinem Tod war Pedro erst Mitte 50. Schlackendörfer hatte ihn aus den Augen verloren, weil der gelernte Kirchenmusiker bald nach dem unsanften Ende ihrer »märchenhaften« Musikfreizeit im Schwarzwald nach Lateinamerika abgetaucht war. Dort nahm ihn die Jazz-Szene natürlich mit offenen Armen auf, war er doch, insbesondere als Kontrabassist und Arrangeur, unbestreitbar ein As. Obwohl Vessel, die nahe Bezirkshauptstadt an der unteren Fulda, Nazi-Hochburg gewesen war, hatte es Pedro geschafft, unter dem Deckmantel kirchenmusikalischer Gemeindearbeit eine Bigband aus begabten Jugendlichen, ja sogar Kindern aufzubauen, die sich hören lassen konnte – und tatsächlich war ihnen hin und wieder ein Auftritt vergönnt. Für das Programm, das sie auf der Musikfreizeit einstudieren wollten, war sogar eine Schallplattenaufnahme geplant. Der schwachsinnige und verbrecherische »Ostfeldzug« der Deutschen spielte sich ja offenbar in weiter Ferne ab. Sie saßen in Nordhessen, und die Musikfreizeit fand noch viel weiter südlich statt, eben im Schwarzwald. Sie reisten Anfang Mai 1940 an. Pedro hatte einem Pöhlburger Landgasthof ein Ferienheim abgequengelt, das weit außerhalb des Städtchens in einem Bergtal lag. Das umgebaute ehemalige Bauernhaus verfügte über Strom und Telefon, einen Quellbach und sogar einen alten Konzertflügel, den Pedro vor Anhub des »Schwarzwald-märchens«, auf Kosten seiner Kirchengemeinde, neu bespannen und stimmen ließ. Wie sich versteht, hatte ihr Impressario vorher auch noch zahlreiche Widerstände bei Vorgesetzten, Eltern und Vesseler Behörden zu überwinden. Rund 25 Jungens und Mädels für geschlagene vier Wochen unter einem Dach! Es sollten zwar nur drei werden, aber das ahnte noch keiner. Im dichten Tann verdächtig schräger Musik frönen, während das Vaterland unter Kriegsanstrengungen stöhnt! Schließlich begnügte man sich damit, Pedro eine streng linientreue BDM-Musik-Pädagogin beizugeben, die blondgelockte und recht strammbusige Lisbeth. Wen wundert es, wenn es Pedro nach dem Eintreffen im »dichten Tann« gelang, Lisbeth in wenigen Tagen sozusagen umzudrehen.

Auch Pedro, damals ungefähr in Schlackendörfers jetzigem Alter, also Ende 30, war kein Adonis. Er besaß jedoch eine unaufdringliche, gleichwohl ansteckende Selbstsicherheit und echten südländischen Charme, obwohl er in Deutschland aufgewachsen war. Entsprechend geschmeidig bewegte er sich. Köstlich sein verzücktes Augenverdrehen oder genüßliches Lippenschlecken, wenn einem oder einer eine bestimmte Phrase der Improvisation besonders gut gelang, während er selber am Baß ackerte oder an der Rampe lockend dirigierte. Er beherrschte auch mehrere Blasinstrumente und gab darin geduldig Unterricht. Jedes Strafbegehren und jeder Befehlston gingen ihm völlig ab. Und so ein sinnlicher Mensch wurde nun mit Mitte 50 vom Blutkrebs zerfressen, ein Skandal. Warum nahmen sich die feindlichen Zellen nicht lieber die strammen SA- und SS-Leute vor, von denen es ja gerade auch in Lateinamerika wahrlich genug gab? Aber Pustekuchen, die meisten von diesen Leuten liefen bis heute frei in der Gegend herum. Die ersten von ihnen waren Schlackendörfer bereits auf der Vesseler Polizeischule begegnet, als »Lehrkräfte«. […]

Als Schlackendörfer Bad Wildungen verließ, hatte er, neben den drei 50-Mark-Scheinen seines Vorschusses, einen blank gewienerten Backenzahn in der Tasche. Die kleine Krake war ziemlich vereitert gewesen. Das Blut in dem Loch war gestillt. Draußen tropfte es von den Bäumen des Kellerwaldes. Prompt zogen wieder die Bilder vom Schwarzwaldhaus an ihm vorbei. Sie hatten damals sicherlich manchen Liebeskummer und einmal sogar dicke Mandeln unter ihrem Dach gehabt, aber an Zahnprobleme konnte er sich nicht erinnern. Insofern hätten sie also Glück gehabt. Dafür wurden sie bereits nach knapp zwei Wochen jäh in den Krieg hineingezogen, weil sich die regierenden Faschisten entschlossen hatten, ihre westlichen Nachbarn in wenigen Wochen, wie sich zeigen sollte, kurzerhand zu überrollen. Zwar tobten im Schwarzwald keine Schlachten, aber durch zwei einschnei-dende Ereignisse wurde die Musikfreizeit dennoch empfindlich gestört und schließlich verkürzt. Das war nicht nur wegen Jos Kummer und Eriks Schock ein Jammer. Jo hatte zum Beispiel einen Sack mit Saatkartoffeln aus dem Gasthofkeller gerettet, die sie demnächst gemeinsam, nach entsprechender Vorarbeit mit Spaten und Hacken, in bester Laune und selbstverständlich mit Gesang unter die Erde ihres Tales zu bringen gedachten. Ja, sie hatten sich bereits Visionen von einer Art Landkommune und einem Nest des Widerstandes hingegeben. Aber es sollte nicht dazu kommen.

Jo war als Folge des ersten Ereignisses zu ihnen gestoßen. Über Pöhlburg war versehentlich ein »eigener« Bomber abgestürzt, also einer der deutschen Wehrmacht. Er hatte auch offensichtlich Bomben an Bord gehabt, legte er doch halb Pöhlburg in Schutt und Asche. Die Explosionen hatten im Bauernhaus der Musikfreizeit Schlackendörfers Paukenschläge unterstützt; er wäre fast von seinem Schemel gefallen. Die oben erwähnte Geigerin fiel sogar in Ohnmacht – auf rund sieben Kilometer! Leider hatte es bei dem Absturz auch Jos Eltern und deren Gasthof erwischt. Jo selber hatte Glück gehabt, weil sie mit dem Hotelbus unterwegs gewesen war. Mit dem traf sie dann bei den Gästen im Bergtal ein.

Das zweite Ereignis führte nur zu zwei Toten, aber die hatten es in sich. Es bereitete sich zunächst innerhalb weniger Stunden durch mehrere Telefongespräche vor, die sich in ihrer Heftigkeit steigerten. Sie alle fanden zwischen Erik, ihrem 18jährigen Pianisten, und dessen Erzeuger statt, einem in Vessel stadtbekannten Faschisten. Für Erik war zu Hause ein Gestellungsbefehl der Wehrmacht eingetroffen, und nun pochte, ja brannte der Alte darauf, Erik habe dem auch Folge zu leisten. Erik dagegen fand das keinswegs. Er nannte den Krieg den »gröbsten Unfug des Jahrhunderts« und bezeichnete seinen Vater in ihrem letzten Telefonat wütend als »braunen Arsch mit Ohren«, ehe er um ein Haar den Wandapparat zerstörte, als er den Hörer auf die Gabel knallte. Jeder von ihnen gab sich Mühe, Erik zu bestärken und zu trösten. Doch es kam noch viel dicker. Keine 24 Stunden später stand der Vater leibhaftig bei ihnen auf der Matte! Sie hörten sein Auto, einen weinroten Adler Trumpf mit Klappverdeck, und rotteten sich an den Fenstern ihres im 1. Stock gelegenen Speise- und Probensaals teils ungläubig, teils kampfbereit zusammen. Es war gegen Mittag. Neben dem steuernden Vater saß Hörbig, ein wiederum in Pöhlburg stadtbekannter Nazi, der den Bomberabsturz offensichtlich überlebt hatte. Beide Männer trugen die braune SA-Uniform. Während Pedro geistesgegenwärtig nach unten zur Haustür lief, um sie, von innen, zu verriegeln, tauchte auch Kutte aus der Küche auf. Dazu sollte man vielleicht noch erwähnen: Jo hatte inzwischen von Bekannten einige Schußwaffen organisiert, was Kutte, der Spanienkämpfer [ein Freund von Pedro, jetzt als Koch an Bord], dazu nutzte, Interessierten Schießunterricht zu geben. Zu diesen Interessierten hatte auch Erik gezählt.

Die beiden SA-Leute stiegen aus und begehrten selbst-verständlich Einlaß, was ihnen jedoch verweigert wurde. So riefen sie nach Erik – sie wollten ihn mitnehmen, sie bestanden darauf. Daraus ergab sich zunächst einmal ein sich steigernder Wortwechsel. Dann zog es Pedro mutig vor, Erik und alle anderen aus der Schußlinie zu nehmen und sich, zwecks weiteren Verhandlungen, hinaus zu den beiden rabiaten Besuchern zu begeben. Die hatten aber »die Faxen« bald »dicke«, wie der Vater brüllte, und schritten zum Waffengebrauch. Der Vater zog seine Pistole, richtete sie auf Pedro und versicherte allen, die weiter hinten in den Fenstern lagen:

»Ich zähle bis 20! Wenn Erik dann noch nicht in der Haustür erscheint, schieße ich eurem lieben Musikpäda-gogen beide Hände zu Brei. Habt ihr mich verstanden?«

Das war durchaus der Fall. Während der Vater auch schon mit dem Zählen anfing, drohten bei einigen die nächsten Ohnmachten. Andere tuschelten aufgeregt miteinander, darunter Schlackendörfer. Nur Erik und Kutte hatten sich einen raschen Blick des stillen Einverständnisses zugeworfen – und waren davongestürzt, um zwei Gewehre zu holen. Sie luden sie im Laufen, während sie zurück-kehrten. Dann duckten sie sich an einer Fensterbank. Kutte schoß zuerst. Wahrscheinlich hatten sie sich insoweit abgesprochen. Er schoß dem Vater die Pistole aus der Faust. Sekunden später schoß Erik: auf Hörbig, der gerade nach seiner eigenen Pistole griff. Hörbig sackte zusammen und sank tot auf die Erde. Der Vater hatte sich inzwischen von seinem Schrecken erholt und rannte mit blutender Hand zu seinem Auto. Aber der Sohn kannte kein Erbarmen. Er hatte noch zwei Patronen im Lauf, und diese galten seinem Erzeuger. Der SA-Mann strauchelte, knallte verdreht gegen seinen aufstehenden Wagenschlag und glitt daran zu Boden. Für Sekunden stand eine jähe gruselige Stille im Tal, es war entsetzlich. Dann sank Erik auf den nächsten Stuhl und fing zu weinen an.

Die ersten, die wieder klare Gedanken fassen konnten, waren Kutte sowie ihr »Boß«, der leichenblasse Pedro, und Jo, die einzige Einheimische an Bord. Die Drei besprachen sich und handelten unverzüglich. Sie luden die beiden Toten mitsamt ihrer Pistolen in das Besucherauto, wendeten das Auto und fuhren, wie sie später schilderten, rund zwei Kilometer Richtung Pöhlburg, ehe sie in einer Kurve über einem Steilhang Halt machten. Dort täuschten sie einen bedauerlichen Unfall des auswärtigen Wagens vor. Sie ließen ihn abstürzen und beobachteten ihn, bis er nach einigen Purzelbäumen am Fuß des dort unbewal-deten Steilhangs aufschlug und in Flammen aufging. Dann kehrten sie auf Schleichwegen zum Bauernhaus zurück.

Glücklicherweise waren die Drei nicht ihrerseits beobachtet beziehungsweise verpfiffen worden. Zudem blieb es aufgrund des in Pöhlburg herrschenden Chaos' und der übrigen Kriegswirren bei einer lediglich flüchtigen Untersuchung des angeblichen Unfalls. Deshalb flog die Sache nie auf. Gleichwohl hielten es die übergeordneten Behörden für angebracht, auf den »tragischen« Vorfall mit dem vorzeitigen Abbruch der Musikfreizeit zu reagieren. Was Erik anging, konnte man eher von Tragikomik reden. Denn auf der einen Seite blieb ihm durch den Wegfall des Ernährers der Familie tatsächlich die Einberufung erspart. Andererseits hatte er jetzt eine hysterische Witwe und Mutter sowie seine Schuldgefühle am Hals. Pedro, dem er ja immerhin, wenn nicht das Leben, die Hände gerettet hatte, konnte ihm dummerweise nicht mehr lange beistehen, weil er selber zunehmend von den Nazis schikaniert und bedroht wurde. Er flüchtete nach Lateinamerika, wie bereits erwähnt. Auch Kutte und Jo zogen damals bald den Rückzug vor. Sie verkauften das Schwarzwaldhaus, gaben den Hotelbus mitsamt der gehorteten Schußwaffen an eine Untergrundgruppe weiter und setzten sich, zu Fuß, in die Schweiz ab. Was aus ihnen wurde, hatte Schlackendörfer nie erfahren.
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