Montag, 20. Juni 2022
Deutsch lernen
ziegen, 11:30h
Um 2005
Falls Ihnen der Arzt zu einem Training Ihres Sammel-triebes geraten hat: es müssen nicht unbedingt Briefmar-ken, Bücher, Bierdeckel oder Belobigungsschreiben bereits anerkannter SchriftstellerInnen sein. Versuchen Sie's einmal mit Worten. Ich führe zu diesem Zweck seit über 20 Jahren eine Art Vokabelheft. Zwar hat es zuweilen die materielle Gestalt gewechselt, nie aber seinen Sinn verfehlt, nämlich meinen Wortschatz zu bereichern.
Der Gedanke kam mir um 1985 beim Ubahnfahren in Westberlin. Als Künstlermodell hatte ich fast täglich woanders anzutreten, darunter in den entlegensten Bezirken. So nutzte ich diese vielen unersprießlichen Fahrten in Gesellschaft von B.Z.-Lesern, Currywurst-Mampfern, Kopfhörer-Trägern zur Lektüre meines Vokabelheftes aus. Dabei brachte ich auch so manchen Fahrgast, der in mein Heftchen linste, zum Grübeln. Warum hat es nur eine Spalte? Warum liest er diese untereinander geschriebenen deutschen Worte, die keinen Zusammenhang erkennen lassen? Da folgen sich etwa: verpönt / kein Ruhmesblatt / beherzt / das Handwerk legen … Ist er vielleicht Agent?
Sie ahnen es bereits: in mein Vokabelheft trug ich sämt-liche Worte oder Redewendungen meiner Muttersprache ein, die mir noch nicht geläufig – die mir noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen waren. Ich stolperte über sie, nahm sie entzückt zur Kenntnis, verleibte sie auf der Stelle meinem Vokabelheft ein. Und so verfahre ich noch heute. Als veredelte Leseratte werde ich vor allem in vorzüglichen Büchern fündig. Doch auch der Alltag schenkt mir zuweilen ein Kleinod. So schnappte ich einmal in einem Biergarten vom Nachbartisch her die nüchterne Gegenfrage auf: »Was sollte daran ehrenrührig sein?«
Solche Entdeckungen versuche ich mir durch die beständige Lektüre meines Vokabelheftes einzuprägen. Bin ich hinten angelangt, fange ich wieder von vorn an. Einfaches Runterlesen hilft allerdings wenig. Jedes Wort ist durchzuspielen wie eine Etüde auf dem Klavier. Bilde mindestens drei Sätze, in denen dieses Wort den jeweiligen Glanzpunkt abgibt. Nehmen wir verstümmelt. Während wir in der U-Bahn, in einem Wartezimmer, im ICE nach Zürich sitzen, formulieren wir in Gedanken folgende Sätze. Aus dem Krieg kehrte ihr Vater verstümmelt zurück. Manche Leute verstümmeln ihre Sätze bis sie uns weismachen können, es scheine ein Rätsel darin auf. Die Verstümmelungen, die uns das Fernsehen beibringt, entziehen sich dem Tastsinn. Zugabe: Man predigt jedoch in taube Ohren.
Von Zeit zu Zeit, vorzugsweise an Weihnachten, pflege ich mein Vokabelheft neu anzulegen. Das heißt, ich übertrage nur solche Worte, von denen ich das Gefühl habe, ich hätte sie noch nicht genug gelernt. Zahlreiche andere Worte kann ich unter den Tisch fallen lassen – ich kann sie sozusagen auswendig. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt auf der Hand. Zum einen zwingt mich die Übertragung hinsichtlich meines gewußten Wortschatzes zur Rechenschaftslegung. Auf der anderen Seite schwillt mein Vokabelheft nie zu einer unlesbaren Schwarte an. Es ist im Gegenteil allmählich dünner geworden. Doch habe ich »objektiv« sicherlich eine Menge hübscher Worte im Sack. Man könnte sich deshalb fragen, ob ich so nicht große Gefahr liefe, meine Mitmenschen damit zu überhäufen, sie mundtot zu machen, gar zu erschlagen?
Sie wissen es längst: Der Sinn eines umfangreichen Wortschatzes liegt in der großen Auswahl, die er uns bietet. Von 15 verwandten Worten gibt es nur ein Wort, das in der gegebenen Situation angemessen und überaus treffend ist. Damit hält uns paradoxerweise gerade der umfangreiche, schillernde Wortschatz zum Abwägen, Haushalten, Sparen an. Wahrscheinlich sah das auch Erhart Kästner so, der gegen Ende seines Buches Aufstand der Dinge von 1973 bemerkt: »Ich wünschte, es würde sich nicht wie die Äußerung eines Verrückten anhören, wenn Einer (ich wäre auf seiner Seite) sagen würde: Es komme ihm nicht darauf an, möglichst viel, sondern möglichst wenig zu schreiben.«
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Falls Ihnen der Arzt zu einem Training Ihres Sammel-triebes geraten hat: es müssen nicht unbedingt Briefmar-ken, Bücher, Bierdeckel oder Belobigungsschreiben bereits anerkannter SchriftstellerInnen sein. Versuchen Sie's einmal mit Worten. Ich führe zu diesem Zweck seit über 20 Jahren eine Art Vokabelheft. Zwar hat es zuweilen die materielle Gestalt gewechselt, nie aber seinen Sinn verfehlt, nämlich meinen Wortschatz zu bereichern.
Der Gedanke kam mir um 1985 beim Ubahnfahren in Westberlin. Als Künstlermodell hatte ich fast täglich woanders anzutreten, darunter in den entlegensten Bezirken. So nutzte ich diese vielen unersprießlichen Fahrten in Gesellschaft von B.Z.-Lesern, Currywurst-Mampfern, Kopfhörer-Trägern zur Lektüre meines Vokabelheftes aus. Dabei brachte ich auch so manchen Fahrgast, der in mein Heftchen linste, zum Grübeln. Warum hat es nur eine Spalte? Warum liest er diese untereinander geschriebenen deutschen Worte, die keinen Zusammenhang erkennen lassen? Da folgen sich etwa: verpönt / kein Ruhmesblatt / beherzt / das Handwerk legen … Ist er vielleicht Agent?
Sie ahnen es bereits: in mein Vokabelheft trug ich sämt-liche Worte oder Redewendungen meiner Muttersprache ein, die mir noch nicht geläufig – die mir noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen waren. Ich stolperte über sie, nahm sie entzückt zur Kenntnis, verleibte sie auf der Stelle meinem Vokabelheft ein. Und so verfahre ich noch heute. Als veredelte Leseratte werde ich vor allem in vorzüglichen Büchern fündig. Doch auch der Alltag schenkt mir zuweilen ein Kleinod. So schnappte ich einmal in einem Biergarten vom Nachbartisch her die nüchterne Gegenfrage auf: »Was sollte daran ehrenrührig sein?«
Solche Entdeckungen versuche ich mir durch die beständige Lektüre meines Vokabelheftes einzuprägen. Bin ich hinten angelangt, fange ich wieder von vorn an. Einfaches Runterlesen hilft allerdings wenig. Jedes Wort ist durchzuspielen wie eine Etüde auf dem Klavier. Bilde mindestens drei Sätze, in denen dieses Wort den jeweiligen Glanzpunkt abgibt. Nehmen wir verstümmelt. Während wir in der U-Bahn, in einem Wartezimmer, im ICE nach Zürich sitzen, formulieren wir in Gedanken folgende Sätze. Aus dem Krieg kehrte ihr Vater verstümmelt zurück. Manche Leute verstümmeln ihre Sätze bis sie uns weismachen können, es scheine ein Rätsel darin auf. Die Verstümmelungen, die uns das Fernsehen beibringt, entziehen sich dem Tastsinn. Zugabe: Man predigt jedoch in taube Ohren.
Von Zeit zu Zeit, vorzugsweise an Weihnachten, pflege ich mein Vokabelheft neu anzulegen. Das heißt, ich übertrage nur solche Worte, von denen ich das Gefühl habe, ich hätte sie noch nicht genug gelernt. Zahlreiche andere Worte kann ich unter den Tisch fallen lassen – ich kann sie sozusagen auswendig. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt auf der Hand. Zum einen zwingt mich die Übertragung hinsichtlich meines gewußten Wortschatzes zur Rechenschaftslegung. Auf der anderen Seite schwillt mein Vokabelheft nie zu einer unlesbaren Schwarte an. Es ist im Gegenteil allmählich dünner geworden. Doch habe ich »objektiv« sicherlich eine Menge hübscher Worte im Sack. Man könnte sich deshalb fragen, ob ich so nicht große Gefahr liefe, meine Mitmenschen damit zu überhäufen, sie mundtot zu machen, gar zu erschlagen?
Sie wissen es längst: Der Sinn eines umfangreichen Wortschatzes liegt in der großen Auswahl, die er uns bietet. Von 15 verwandten Worten gibt es nur ein Wort, das in der gegebenen Situation angemessen und überaus treffend ist. Damit hält uns paradoxerweise gerade der umfangreiche, schillernde Wortschatz zum Abwägen, Haushalten, Sparen an. Wahrscheinlich sah das auch Erhart Kästner so, der gegen Ende seines Buches Aufstand der Dinge von 1973 bemerkt: »Ich wünschte, es würde sich nicht wie die Äußerung eines Verrückten anhören, wenn Einer (ich wäre auf seiner Seite) sagen würde: Es komme ihm nicht darauf an, möglichst viel, sondern möglichst wenig zu schreiben.«
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