Samstag, 18. Juni 2022
Jungschar
ziegen, 21:21h
Um 2007
Ihr Chef war Konrad F., ein dunkelhaariger, stets tadellos rasierter Mann, um 1960 in seinen Dreißigern. In der Regel leitete er auch die beliebten Sommerlager. Gab er zum Ausklang des Heimabends die nächsten Abenteuer heldenhafter Kinder zum Besten, blickte er selten ins Buch. Er erzählte stets im Stehen. Sein hoher Wuchs wurde nur ein wenig durch seine X-Beine gemildert. Die 30 oder 40 abgekämpften Knaben, die ringsum an den Wänden auf Stühlen oder Tischen saßen, hingen an den wulstigen Lippen ihres Idols. Ob sie ihn nun als »Maschinengewehr Gottes« oder nur als Ersatzvater nahmen – die Stellung eines CVJM-Jugendsekretärs ließ an Machtfülle nichts zu wünschen übrig. So einer konnte alles. Er konnte alle Mundorgel-Lieder auf der Klampfe schrubben, einem in seinem VW-Käfer die Beichte abnehmen, gar Nachlaß auf die Teilnahmegebühren des nächsten Sommerlagers gewähren. Beim Volleyball konnte er sich wohlweislich von einem sportlichen Praktikanten vertreten lassen.
Vor allem beherrschte er die Finte, beim Erzählen die Stimme ganz allmählich bis zum Flüstern abzusenken. Jeder wußte, gleich kommt's, aber niemand wollte es wahrhaben. Es war zu schön, wenn einem F.s jäh auftrumpfende Stimme das Herz in die Pantoffeln stürzen ließ. Unterwerfung war schön. Häuptling F. teilte Gruppen und Dienste ein, erkor sich Gruppenleiter und Ratgeber aus der Knabenschar. Alles wurde benotet. Wie schneidig wirkt das Spalier der angetretenen Gruppe, sind die Betten perfekt gebaut, die Zelteingänge umzäunt, sitzen die Halstuchknoten, welcher Rang wird bei Völkerball-schlachten oder Geländespielen erreicht. Da Skalpieren erst bei der Bundeswehr drankam, zählten wir nur die erbeuteten »Lebensfädchen«: unterschiedlich gefärbte Wollfäden, die dem Feind vom Handgelenk zu reißen waren.
Man ist verlockt, Einrichtungen wie Jungschar, Pfadfinder, Junge Pioniere, Sport- und Kaninchenzuchtvereine als Brutstätten kriegerischer Konkurrenz zu verdammen, träfe damit aber den Kern des Übels nicht. Er sitzt in der Erfindung »Mensch«. Kein Mensch kann Selbstsicherheit entwickeln, wenn ihm in seiner Jugend keine Möglich-keiten zum Ausloten seiner Kräfte, keine Bewährungs-chancen, kurz keine Grenzen geboten werden. Diese will er dann jedoch durchbrechen. In diesem reibungsvollen Widerspruch eine Balance zu finden, die kein verstörender Eiertanz wäre, hat schon Scharen von »alternativen« Pädagogen überfordert. Alle Ersatzangebote für Machtkämpfe langweilen und verdrängen nur. Sie schieben das Problem auf, bis der Erzieher für den 18jährigen, von Alkohol und Musik bedröhnten Autofahrer nicht mehr zuständig ist. Der Soziologe, SDS-Häuptling und Dörnberg-Referent Dieter Bott aus Homberg an der Efze wird dies vielleicht abstreiten; er spezialisierte sich (in Frankfurt/Main) auf Coaching im Fußballfan-Bereich. Später wirkte er in Düsseldorf. Aber der Mensch will keine Kugel aus Luft und Leder beherrschen; er will seinen Alten, seinen Widersacher, seinen Nebenbuhler zermalmen.
F. war insofern alternativ, als er instinktiv zur Peitsche Zuckerbrot gab. Im begehrtesten Fall nahm dieses die Form von gebratenen halben Hähnchen nebst Pommes Frites und Salat an, die seine jungen Mitarbeiter nach der offiziellen Nachtruhe im Dorfkrug verspeisen durften. F. und das Team der Jungenschaft würzten das Spätabendmahl mit Anekdoten und anzüglichen Witzen. Um das Niveau von VW-Betriebsrats-Fernreisen zu erreichen, gebrach es Jungschar und Jungenschaft bloß an Mädchen. Für mich erhoben sie sich jedoch alsbald wie Gazellen aus Kassels roten Aschenbahnen, denen ich wie ein Besessener meine nagelneuen Puma-Spikes gab. Ich geriet zwischen 15 und 17 in die Mühlen eines Karriere-Konfliktes. Sollte ich CVJM-Jugendsekretär oder Olympiasieger im Zehnkampf werden? Zeit- und Geldmangel ließen nicht zu, auf beides zu trainieren. Nebenbei war ich ja auch noch Schüler.
Von daher löste sich der Konflikt: die antiautoritäre Revolte erfaßte mich. Mit 17 sagte ich mich sogar vom Elternhaus los. Wir hielten uns mit Gelegenheitsarbeiten, notfalls auch Diebstählen über Wasser und rüttelten die Welt mit Gedichten und Flugblättern auf. Eine Zeitlang fand ich mit anderen Streunern Unterschlupf in der Wohnung eines verdienstvollen schnauzbärtigen Sozialarbeiters mit dem Vornamen Heinz. Er hatte fast so viele Cream- und Doors-Platten wie Büttenbender vom Dörnberg, der ihn öfter als Honorarkraft beschäftigte. Dann trieb ich eine sturmfreie, billige Dachkammer auf, die spätere Biografen wegweisend nennen werden. Sie lag unterhalb des Weinbergs (Villa Henschel) im Philosophenweg.
°
°
Ihr Chef war Konrad F., ein dunkelhaariger, stets tadellos rasierter Mann, um 1960 in seinen Dreißigern. In der Regel leitete er auch die beliebten Sommerlager. Gab er zum Ausklang des Heimabends die nächsten Abenteuer heldenhafter Kinder zum Besten, blickte er selten ins Buch. Er erzählte stets im Stehen. Sein hoher Wuchs wurde nur ein wenig durch seine X-Beine gemildert. Die 30 oder 40 abgekämpften Knaben, die ringsum an den Wänden auf Stühlen oder Tischen saßen, hingen an den wulstigen Lippen ihres Idols. Ob sie ihn nun als »Maschinengewehr Gottes« oder nur als Ersatzvater nahmen – die Stellung eines CVJM-Jugendsekretärs ließ an Machtfülle nichts zu wünschen übrig. So einer konnte alles. Er konnte alle Mundorgel-Lieder auf der Klampfe schrubben, einem in seinem VW-Käfer die Beichte abnehmen, gar Nachlaß auf die Teilnahmegebühren des nächsten Sommerlagers gewähren. Beim Volleyball konnte er sich wohlweislich von einem sportlichen Praktikanten vertreten lassen.
Vor allem beherrschte er die Finte, beim Erzählen die Stimme ganz allmählich bis zum Flüstern abzusenken. Jeder wußte, gleich kommt's, aber niemand wollte es wahrhaben. Es war zu schön, wenn einem F.s jäh auftrumpfende Stimme das Herz in die Pantoffeln stürzen ließ. Unterwerfung war schön. Häuptling F. teilte Gruppen und Dienste ein, erkor sich Gruppenleiter und Ratgeber aus der Knabenschar. Alles wurde benotet. Wie schneidig wirkt das Spalier der angetretenen Gruppe, sind die Betten perfekt gebaut, die Zelteingänge umzäunt, sitzen die Halstuchknoten, welcher Rang wird bei Völkerball-schlachten oder Geländespielen erreicht. Da Skalpieren erst bei der Bundeswehr drankam, zählten wir nur die erbeuteten »Lebensfädchen«: unterschiedlich gefärbte Wollfäden, die dem Feind vom Handgelenk zu reißen waren.
Man ist verlockt, Einrichtungen wie Jungschar, Pfadfinder, Junge Pioniere, Sport- und Kaninchenzuchtvereine als Brutstätten kriegerischer Konkurrenz zu verdammen, träfe damit aber den Kern des Übels nicht. Er sitzt in der Erfindung »Mensch«. Kein Mensch kann Selbstsicherheit entwickeln, wenn ihm in seiner Jugend keine Möglich-keiten zum Ausloten seiner Kräfte, keine Bewährungs-chancen, kurz keine Grenzen geboten werden. Diese will er dann jedoch durchbrechen. In diesem reibungsvollen Widerspruch eine Balance zu finden, die kein verstörender Eiertanz wäre, hat schon Scharen von »alternativen« Pädagogen überfordert. Alle Ersatzangebote für Machtkämpfe langweilen und verdrängen nur. Sie schieben das Problem auf, bis der Erzieher für den 18jährigen, von Alkohol und Musik bedröhnten Autofahrer nicht mehr zuständig ist. Der Soziologe, SDS-Häuptling und Dörnberg-Referent Dieter Bott aus Homberg an der Efze wird dies vielleicht abstreiten; er spezialisierte sich (in Frankfurt/Main) auf Coaching im Fußballfan-Bereich. Später wirkte er in Düsseldorf. Aber der Mensch will keine Kugel aus Luft und Leder beherrschen; er will seinen Alten, seinen Widersacher, seinen Nebenbuhler zermalmen.
F. war insofern alternativ, als er instinktiv zur Peitsche Zuckerbrot gab. Im begehrtesten Fall nahm dieses die Form von gebratenen halben Hähnchen nebst Pommes Frites und Salat an, die seine jungen Mitarbeiter nach der offiziellen Nachtruhe im Dorfkrug verspeisen durften. F. und das Team der Jungenschaft würzten das Spätabendmahl mit Anekdoten und anzüglichen Witzen. Um das Niveau von VW-Betriebsrats-Fernreisen zu erreichen, gebrach es Jungschar und Jungenschaft bloß an Mädchen. Für mich erhoben sie sich jedoch alsbald wie Gazellen aus Kassels roten Aschenbahnen, denen ich wie ein Besessener meine nagelneuen Puma-Spikes gab. Ich geriet zwischen 15 und 17 in die Mühlen eines Karriere-Konfliktes. Sollte ich CVJM-Jugendsekretär oder Olympiasieger im Zehnkampf werden? Zeit- und Geldmangel ließen nicht zu, auf beides zu trainieren. Nebenbei war ich ja auch noch Schüler.
Von daher löste sich der Konflikt: die antiautoritäre Revolte erfaßte mich. Mit 17 sagte ich mich sogar vom Elternhaus los. Wir hielten uns mit Gelegenheitsarbeiten, notfalls auch Diebstählen über Wasser und rüttelten die Welt mit Gedichten und Flugblättern auf. Eine Zeitlang fand ich mit anderen Streunern Unterschlupf in der Wohnung eines verdienstvollen schnauzbärtigen Sozialarbeiters mit dem Vornamen Heinz. Er hatte fast so viele Cream- und Doors-Platten wie Büttenbender vom Dörnberg, der ihn öfter als Honorarkraft beschäftigte. Dann trieb ich eine sturmfreie, billige Dachkammer auf, die spätere Biografen wegweisend nennen werden. Sie lag unterhalb des Weinbergs (Villa Henschel) im Philosophenweg.
°
°