Donnerstag, 16. Juni 2022
Der Sturz des Herkules
2022

Unser allgemeiner Umsturz fand bekanntlich im Sommer 2021 statt, nachdem ein Clübchen aus beherzten Deutschen den damaligen Bundesgesundheitsminister entführt hatte. Der kleinere fand letzte Woche statt – sieben Jahre darauf. Der nordhessische Bezirk Kassel-West hatte endlich seinen Willen durchgesetzt, den Herkules abzureißen. Bis dahin war das Kunstwerk lediglich »mutwillig geschändet« worden, wie Dutzende von ausländischen Blättern oder Portalen zeterten. Beim rund 300 Jahre alten Herkules, bis 2021 »Wahrzeichen« der Stadt Kassel, handelt es sich um eine, mit Sockel, rund 11 Meter hohe Kupfer-Statue von knapp acht Tonnen Gewicht, die vom »Oktogon« und einer daraufgeklatschten Pyramide aus locker das gesamte Kasseler Becken beherrschte. Auf eine Mordskeule gestützt, war der Recke bereit, alles zu zertrümmern, was sich zu seinen Füßen unbotmäßig – zum Beispiel trotz Corona unmaskiert – in den Straßen oder auf den Fuldabrücken sehen ließ. Wenige Wochen nach unserer Revolution hatten sich immerhin ein paar unautorisierte, jedoch sportliche RepublikanerInnen gefunden, die die Pyramide mit Sprühdosen im Rucksack erklommen, um den Recken ringsum mit bald 100 roten Tupfern zu versehen. Seitdem konnte man denken, er habe die Röteln oder sei von den vereinigten Zieren-berger/Dörnberger Volksstreitkräften waidwund geschossen worden. Das »Oktogon«, ein klobiges, potthäßliches, nutzloses Bauwerk, krönt in gut 500 Meter Höhe den langgestreckten Habichtswald. Was künftig mit ihm geschieht, steht noch in den Sternen. Hauptsache, der Recke ist erst einmal weg.

Wie sich versteht, drohte uns damals wie heute die in Frankreich residierende UNESCO empfindliche »Sankti-onen«, am liebsten Beschuß durch Kurzstreckenraketen an. Sie hatte den Herkules nämlich schon 2013 zum »Weltkulturerbe« erklärt. Der Beschluß mit dem Abriß kam von der Bezirksleitung Kassel-West im Einvernehmen mit der hessischen Landesleitung – aber wer sich das Gekeife aus Paris und Malmö anzuhören hatte, das war ich. Man hatte mich im Sommer 2021 zur General-sekretärin des neuen Rhein-Oder-Bundes gewählt, kurz ROB. Die vergleichsweise kleine Bundeszentrale wurde just in Kassel-West eingerichtet. Wir sitzen ohne Zweifel nicht nur ziemlich genau in der geografischen Mitte des Bundesgebietes, sondern auch in einem wunderschönen Gebäude, aber ich muß doch sagen, der Blick aus den gen Habichtswald gelegenen Fenstern war eine unablässige Qual: da oben ragte er ins Himmelsblau, der nackte gerötelte Recke mit der riesigen Keule. Folglich brachen wir bei der Botschaft vom Abrißplan, die uns Bezirksrat Ed Grümmel im Januar persönlich überbrachte, in Jubel aus. Zufällig wurde ich schon zwei Monate darauf, im März 2028, auf meinen hartnäckig vorgetragenen Wunsch hin endlich – als oberste »Chefin« im ehemaligen Deutschland – abgelöst. Ich war allmählich doch etwas erholungs-bedürftig. Jetzt sitze ich in meinem Zimmer in der GO Dönchewäldchen und versuche mich an diesen Aufzeichnungen. Witzigerweise habe ich nun, wo er gefallen ist, den Ausblick des Recken übernommen. Mein Zimmerfenster geht nach Osten. An klaren Tagen kann ich, über die frühere Stadt Kassel hinweg, bis zum Hohen Meißner blicken.

Das Fest vom vergangenen Mittwoch war großartig. Ich spreche von dem Abriß. Selbstverständlich war allen klar wie Kloßbrühe, der Abriß hatte ein Festakt zu sein. Doch nur Moritz Tiegel, ein Schlosser aus der GO Kommune Niederkaufungen, hatte die umwerfende Idee, den Festakt als Tauziehen zu gestalten. Das Tau war ungefähr 400 Meter lang, womit es auch die berühmten, am Berg abfallenden Wasserspiel-Kaskaden unterhalb des Oktogons überbrücken konnte. An beiden Enden vielfach verzweigt, war es oben um die Statue verzurrt, unten jedoch, auf der großen Wiese zwischen Kaskadenteich und Schloß Wilhelmshöhe, zusätzlich mit querlaufenden Tauen versehen, die den Massen ein bequemes und wirksames Angreifen erlaubten. Nun hören und staunen Sie: Der Sender Sputnik und die beidenen Kasseler Bezirkslei-tungen schätzten die Anzahl der FestbesucherInnen, die sich im ganzen zum Tatort, also in den Bergpark Wilhelmshöhe begeben hatten, auf 250.000. An den Tauen selber standen oder hingen schätzungsweise knapp 10.000 Leute. Alle gutgelaunt, wie die Papageien gekleidet und wahrscheinlich begierig, einen Höllenlärm zu veranstalten. Gleichwohl durchbrach niemand die Anweisungen der OrdnerInnen und des Spielleiters. Der Spielleiter war Kurt Sommergut.

Man müßte ihn eigentlich kennen. Der begabte Schriftsteller, ein rotblonder Krauskopf Mitte 50, der mich (1,73) kaum überragte, war 2021 Mitglied jenes eingangs erwähnten beherzten Clübchens gewesen. Nun hatte er meinem persönlichen Drängen nachgegeben und für dieses Amt vorübergehend den Fuchsbau verlassen, den er seit einiger Zeit auf Usedom bewohnte. Es war natürlich Ferdinand Geudels ehemaliges Häuschen, in dem Sommergut schrieb, falls er nicht schlief. Geudels Motorjacht Augusta benutzte Sommergut nie. Sie diente seiner GO (»Freie Schule«) vorwiegend zum Fischen. Den Schulbetrieb gibt es selbstverständlich nicht mehr.

Die hessische Landesleitung hatte den Sender Sputnik gebeten, »exklusiv« für Filmaufnahmen und sämtliche Bild-Ton-Technik zu sorgen. Andere Sender waren nicht zugelassen. Wir selber, der ganze ROB, hatten sowieso keine mehr. Wir waren eher heilfroh gewesen, gleich in den ersten Wochen des neuen Bundes nach dem Geld auch die Rundfunk- und Fernsehanstalten zu verlieren. Die Landesleitungen machten sie dicht. Die bis dahin privaten oder behördlichen TV-Empfangsgeräte wurden nach und nach, soweit es ging, gegen Devisen ins umliegende Ausland verhökert. Sollten sie sich doch dumm und dusselig gucken! Dafür versorgten die Landesleitungen allmählich jeden GO-Gemeinschaftsraum mit großen Bildschirmen, die sich an jeden Computer oder Recorder anschließen lassen, sodaß hin und wieder gemeinsam Videos angesehen werden können. Das genügt uns vollauf. Um es aber gleich zuzugeben: wir verloren auch eine Menge ehemaliger deutscher BundesbürgerInnen. Nach meinen Unterlagen waren es rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung, die es vorzogen, die »Anarchie« zu verlassen. Ihre Autos, Hunde, Kreditkarten und Aktienpakete nahmen sie selbstverständlich mit. Unverblümt gesagt, waren wir damit über 13 Millionen Arschlöcher weniger. Der ROB hat jetzt »nur« noch knapp 70 Millionen RepublikanerInnen – immer noch zuviel. Mit Einbürgerungen sind die Bundesländer nach wie vor sparsam. Das »Wachstum« überlassen sie ihren Gartenbohnen, Wäldern und Säuglingen.

Ich komme auf Kurt Sommergut zurück. Wir hatten ihm, als Spielleiter, ein kleines Podest am Hang neben den Kaskaden zugewiesen. Sputnik hatte an rund 20 Stellen des Bergparks große Bildschirme und Filmkameras aufgebaut. So waren Kurts Anweisungen und seine abschließende, lediglich sieben Minuten lange Ansprache überall zu verfolgen, ohne daß er mit einer Lungenkraft ins Mikrofon brüllen mußte, die alle Laubsänger oder Goldhähnchen aus den Baumwipfeln gefegt hätte. Ganz im Gegenteil, er pflog einen sehr hübschen Plauderton. Als Herkules am Fuß des Oktogons auf dem Pflaster zerschellt war und die Leute noch auf der Wiese übereinander kugelten, hauchte er betreten: »Ich glaube, ihr habt es geschafft. Die Geißel des Kasseler Beckens ist hin.« Das löste allerdings vorübergehend ohrenbetäubenden Jubel aus. Dann kam Kurt zu seiner Ansprache, die ihm viel Gelächter einbrachte. Er sprach über Riesen und Zwerge. Er leitete sie jedoch mit folgenden Worten ein: »Liebe RepublikanerInnen, leider müssen wir hier schmerzlich einen Mitfeierer vermissen, der das Ganze, den ROB nämlich, mit Hilfe seiner Jacht Augusta überhaupt erst ermöglichte: meinen Freund Ferdinand Geudel aus Usedom. Er ist vor drei Jahren einer tückischen Krankheit erlegen. Sollte er noch Ohren besitzen, dürfte er jetzt hören, wie dankbar wir ihm sind …« Darauf erscholl erwartungsgemäß tosender Beifall. Am Ende der Ansprache gab Kurt die Musikveranstaltungen frei. Wir hatten ein Dutzend Bühnen im Park verteilt, die sich kaum ins Gehege kamen, sofern man die Lautsprecher-Regler nicht auf Orkanstärke drehte. »Die verschiedenen Musikgruppen sind ja im Programm ausgedruckt«, sagte Kurt. »Ich möchte aber eine herausheben, die sich schon mit ihrer Namensgebung verdient gemacht hat. Sie heißt nach einem nordhessischen Privatdetektiv und Deutschrocksänger, der 1966 in der Freien Inselrepublik Pingos durch ein saublödes Fremdverschulden tödlich verunglückte. Wir dürfen ihn wohl getrost zu den Vätern des neuen Landes Hessen zählen. Die neue Band heißt Schlackendörfer lebt …«

Das gab erneut anhaltenden Beifall. In Nordhessen ist der Name Heinz Schlackendörfer so gut wie jedem ein Begriff. Nun sprang Kurt von seinem Podest, herzte mich und ergriff meine Hand. Er mußte zu seinem Zug, weil er in Berlin von seinen alten Mitstreitern erwartet wurde. Ich hatte ihm versprochen, ihn (zu Fuß) zum Bahnhof Wilhelmshöhe zu begleiten. Als wir nach rund 20 Minuten unter das bekannte, mordshohe, auf vielen dünnen Pfeilern ruhende Vordach des Bahnhofs tauchten, äugte er verdrießlich hinauf und meinte: »Man könnte fast glauben, hier warte schon die nächste Abrißaufgabe auf euch, meine liebe Nele …« Lag er damit richtig? Ich bin noch unentschieden. Jedenfalls sah er dieses Vordach zum ersten Mal; wir dagegen schlurfen alle Tage einfach darunter durch.

2

Kurt hatte mich damals unter anderem auch deshalb für den Posten in der Zentrale vorgeschlagen, weil er wußte, ich stamme aus Kassel. Geboren 1978, wuchs ich im dörflichen Stadtteil Niederzwehren auf einem kleinen Bauernhof auf. Nach einem Grafikstudium in Braunschweig und Dresden geriet ich ins Fahrwasser der darstellenden Kleinkunst: ich wurde Pantomimin und Kabarettistin. Kurt lernte ich um 2010 in Berlin kennen. Ich trat gerade mehrmals im Mehringhof auf. Kurt ist vielleicht kein Herkules, aber seine Offenheit, seine Unverstelltheit sagten mir auf Anhieb zu, von seinen Texten einmal abgesehen. Und ich selber? Es gilt ja als unschicklich, sich selbst zu beschreiben. Ich führe deshalb ein paar Zeilen aus einem kleinen, von Kurt verfaßten Porträt an, das 2021 in der dritten Nummer der neuen ROP zu lesen war. »Die Frau mit den meistens ungekämmten Kokusnußfransen auf der Schädeldecke ist recht hochgewachsen, auch schlank; eine kräftige Nase und Hände wie Dreschflegel verhindern jedoch, sie mit einer Modepuppe zu verwechseln. Sie hat ein fröhliches Wesen. Aber neben ihrem Witz muß man vor allem ihr Organisationstalent rühmen. Es gibt kein Chaos auf Erden, vor dem sie die Segel striche, und deshalb ist sie für den neuen Kasseler Posten genau die Richtige.«

Das mehrstöckige Eckhaus an der Drusel stand 2021 überwiegend leer, weil die Mieten zu hoch gewesen waren. Ehe es vom Kreis Rammelsberg und der GO Wasseramsel in Beschlag genommen werden konnte, meldete die Landesleitung meinen Wunsch an, das Gebäude zum Sitz der Bundeszentrale zu erheben. Darauf gingen alle Beteiligten, die verbliebenen Mieter eingeschlossen, bereitwillig ein. Damit war das Gebäude »exterritorial«. Die GO Wasseramsel war nicht mehr für es zuständig. Restlos entvölkert, faßte das Gebäude sogar die mehr als 50 Büroschaffenden, die wir anfang noch waren – viel zuviel. Es gelang mir, die Zentrale in sieben Jahren auf 32 MitarbeiterInnen abzuspecken. Aber davon später mehr. Etwas abseits der Wilhelmshöher Allee gelegen, war es ein ruhiger, beinahe dörflich-beschaulicher Arbeitsplatz. Trotzdem hatte man den Bahnhof Wilhelmshöhe in wenigen Fußminuten erreicht. Wuchs mir das Chaos gelegentlich doch einmal über die braunen Fransen, rettete ich mich auf den noch näher gelegenen Rammelsberger Friedhof und ersuchte meine Schwägerin Hilde, die dort leider schon seit Jahren verwest, um Trost und neue Lebenskraft. Ich hatte sowieso die Grabpflege übernommen, da mein Bruder Georg inzwischen in einem südhessischen Kreis am Taunus Pferdezucht betrieb – »revolutionäre«, wie sich versteht. Das »Chaos« darf man nicht als Koketterie abtun. In den ersten Wochen und Monaten wurden wir in dem beschaulichen Winkel an der Drusel von derart vielen Aufgaben und Fragen, darunter auch Fluten von Anfragen per Mail oder Telefon, bestürmt, daß wir oft nicht mehr wußten, was wir eigentlich zuerst machen sollten. Letztlich lag der Schwarze Peter dann bei mir: meine MitstreiterInnen sahen mich verzweifelt an und erwarteten meinen »Befehl«, wie man wohl im früheren Bundeskanzleramt gesagt hätte. Also erteilte ich einen. Ging er dummerweise fehl, war es meine Schuld. Und meine Zerknischung hatte ich eben zu Hilde auf den Friedhof zu tragen.

Möglicherweise blicken ausländische LeserInnen bei den neuen »deutschen« Verwaltungsstrukturen noch nicht ganz durch. Hier ein Schnellkurs. Jedes Land im ROB ist das, was man früher einen selbstständigen Staat genannt hätte. Jeder Quadratzentimeter im Land ist Volkseigentum. Fundament eines jeden Bundeslandes sind die »Grundorganisationen«, kurz GOs. Jeder Republikaner muß irgendeiner GO angehören. Das gilt also auch für die MitarbeiterInnen der Bundeszentrale. Nur die GOs entscheiden darüber, wer überhaupt Landes- und damit auch BundesbürgerIn ist. Das schiebt aller Leitungs- und Behörden-Willkür den Riegel vor. Bei uns kann kein Erich Honecker einen Wolf Biermann ausbürgern – aber Biermanns Hamburger GO hätte es ohne Zweifel unverzüglich eigenhändig getan. Damit ist die Macht der GOs noch nicht am Ende. Sie wählen nämlich Jahr für Jahr sowohl die Bezirksleitungen wie die Abgesandten für die jeweilige Landesdelegiertenkonferenzen (LDK), überdies die dreiköpfige Redaktion der ROP (Rhein-Oder-Post) unmittelbar. Vorzeitige Abwahlen sind möglich. Dagegen werden die VertreterInnen des Landes für die Bundesleitung – heute nur noch zwei Personen je Land – von der LDK bestimmt. Die LDKs tagen in der Regel vierteljährlich.

Jede GO umfaßt ungefähr 100 Leute, Kinder eingeschlossen. Wechsel sind möglich. Rund 10 GOs (1.000 Leute) bilden einen Kreis, rund 100 Kreise (100.000 Leute) einen Bezirk – also beispielsweise GO Wasseramsel, Kreis Rammelsberg, Bezirk Kassel-West. Über den Bezirken gibt es nur noch das jeweilige Land, also etwa Hessen. Vor dem Umsturz hatte Hessen, um bei diesem Beispiel zu bleiben, 6,3 Millionen EinwohnerInnen. Inzwischen sind es nur noch 5,3. Vereinfacht betrachtet, gibt es also in diesem selbstständigen Bundesland rund 53 Bezirke. Da jeder Bezirk zwei Delegierte entsendet, hat die LDK, als oberstes Organ Hessens, rund 106 Leute, was (zuzüglich Landesleitung) für fruchtbare Erörterungen recht günstig ist. Die Führung als Gruppe heißt Landesleitung; deren einzelnes Mitglied Landesrat. Als »heimlicher Präsident« eines Landes gilt der Landes-schiedsrat. Hinter den Kreisen steckt zunächst der Gedanke, bei 800 oder 1.100 Leuten sind noch Vollver-sammlungen möglich, die weder Lautsprecheranlagen noch Sportpaläste benötigen. Somit sind auf unserer Kreisebene auch keine Delegierten, keine Vertretungen erforderlich. Es gibt immer nur einen Kreisschiedsrat als SprecherIn und Koordinator – des Dorfes, hätte man früher vielleicht gesagt. Aber der Kreis soll auch die unselige Kluft zwischen Dorf und Stadt zuschütten. Das ist der zweite Beweggrund. Der Kreis Rammelsberg beispielsweise wirkt heute ähnlich ländlich wie städtisch. Erklimmt man das Oktogon, um an Stelle des gestürzten Herkules' über die ehemalige Großstadt Kassel zu blicken, denkt man heute schon fast an eine Gartenstadt oder an eine Inselgruppe. Überall wurden gezielt bestimmte Bebauungen und Bestraßungen beseitigt, um zwischen den neuen Kreisen Licht, Luft, Bewuchs und sicherlich auch gewisse Pufferzonen zu schaffen. Ein paar größere Gebäude der Stahl- und Waffenschmiede Henschel/Thyssen stehen übrigens noch. Dort fuhr letzte Woche ein mit Kran bestückter Lastwagen vor, der die Trümmer des kupfernen Herkules anlieferte. Zum Ein- und Umschmelzen. Ich bin aber zur Stunde überfragt, ob er zu Pflugscharen oder zu Bratpfannen gemacht wird.

Falls Sie es noch nicht im Internet nachgeschlagen haben: der ROB besteht aus 14 Ländern. Bayern und Niedersachsen wurden 2021 bald geteilt; sie waren zu groß. Dafür wurden freilich die Stadtstaaten Berlin, Bremen und Hamburg aufgelöst. Das Saarland kam zu Rheinland-Pfalz. Damit bestand der Bund am Ende des Jahres 2021 aus 14 einigermaßen gleich großen Ländern. Die Zentrale in Kassel wird inzwischen, wie schon angedeutet, nur noch von je zwei Ländervertretern beschickt. Somit umfaßt sie 28 Abgesandte zuzüglich des von diesen berufenen Generalsekretärs sowie der dreiköpfigen ROP-Redaktion. Bis zum zurückliegenden März war der Generalsekretär eine Frau. Mein Nachfolger Leo Kramm hält es übrigens für keineswegs unwahr-scheinlich, die Zentrale in den nächsten sieben Jahren von 32 auf 18 zu drücken. Das ist eben in jedem Bereich unsere Generallinie: Verkleinerung, Entbürokratisierung, Stärkung der Eigenverantwortlichkeit aller RepublikanerInnen, GOs und Bundesländer.

In vielen ehemaligen Großstädten verhängten die zuständigen Bezirksleitungen Zuzugssperren. Von Ausnahmen abgesehen (zum Beispiel: mir), werden Zuzüge nur bei gleichwertigen Abzügen gestattet, nämlich aufs Land. Man muß also TauschpartnerInnen finden. Ich hoffe, die »Ausnahmen« empören Sie nicht. Wir sind kein Bund der Buchstabengläubigen oder Gesetzestreuen. Deshalb geben auch die vorgeschriebenen Mitglieder-zahlen, die ich genannt habe, lediglich Richtwerte. Wir sind beweglich. Es kommt immer auf die örtlichen Gegebenheiten, die personellen Kräfte, ja letztlich auf Dutzende von Umständen und Gesichtspunkten an. Rüde Mehrheiten zwecks Durchsetzung von Sonderinteressen können ja sowieso nicht zusammen gezimmert werden, weil auf sämtlichen Ebenen das Konsensprinzip gilt. Auch in dieser Hinsicht gibt es prompt wieder Ausnahme-regelungen. So gilt bei Ausschlüssen Konsens minus Eins. Ferner müssen die Länder, sobald ein Drittel der BundesbürgerInnen (per Internet) eine Umbildung der Bundesleitung verlangen, Außerordentliche LDKs einberufen. Verweigert das eine Landesleitung, bleibt nur der Weg, sie zu stürzen. Schließlich sind wir Revolutionäre. In der Regel werden sich wiederholt gerügte Bundesräte allerdings freiwillig ablösen lassen. Was soll man sich auch an einen Posten klammern, der weder eine Pension noch häufige Machträusche einbringt?

3

Hin und wieder hatten wir im ROB-Haus Besuch von ausländischen Diplomaten oder hohen Politikern. Einmal wagte sich sogar Emmanuel Macron zu uns, der fesche französische Staatspräsident, der sich wohl vor allem in seiner Eigenschaft als Mann für unwiderstehlich hält. Gleichwohl kam er mit Leibwächtern. Sie alle musterten uns – voran unsere Rätinnen, darunter ich – offensichtlich vor allem deshalb zugleich verstohlen und verunsichert, weil wir in diesen schäbigen Klamotten steckten und diese merkwürdigen »Schmuckstücke« trugen. Gemeint sind unsere Hundemarken, wie wir sie meist scherzhaft zu nennen pflegen. Es handelt sich um ziemlich schnöde, billige, immerhin jedoch geprägte Blechmarken am Faden oder am Band. Viele RepublikanerInnen tragen sie um den Hals, andere am Gürtel, manche in der Hosentasche, je nach Temperament und Einsatzbedarf. Schließlich bat mich Macron, damals Mitte 40, sogar um die Erlaubnis, meine am Hals baumelnde Marke näher zu untersuchen: er drehte sie mehrmals um und befingerte sie beidseitig ausgiebig. Man merkte, er platzte vor Neugier. Selbstverständlich klärte ich ihn höflich auf. Da schmunzelte er und meinte, Phantasie hätten wir offenbar reichlich. Vermutlich dachte er hinzu: Nur kein Geld.

Die Marken sind unsere GO-Ausweise. Sie sind nicht personalisiert, sehen aber bei jeder GO etwas anders aus. Die A-Seite zeigt nur das stilisierte Wappen der GO; die B-Seite eine kurze Inschrift, der Näheres zu entnehmen ist. Das Wappen meiner GO zeigt zum Beispiel einen beiderseits von Laubbäumen beschirmten Wall. Dergestalt wird eben das von ausgedienten Schützengräben durchzogene »Dönchewäldchen« angedeutet. Auf der Rückseite läßt sich entziffern: GO Dönchewäldchen – Kreis Dachsberg – Bezirk Kassel-West – Hessen. Diese Marken sehen bei allen Mitgliedern der betreffenden GO gleich aus. Sie sollen im Bedarfsfall die Berechtigung des Trägers nachweisen, sich in einem Depot mit Brötchen, Büchern oder Kleidern zu versorgen, die Bundesbahn zu benutzen oder einem randalierenden Ausländer notfalls einen Kinnhaken zu versetzen. Der Ausländer selber bekommt die Bücher oder die Bundesbahnreise nicht umsonst: er muß sie bezahlen.

Wir haben uns nie eingebildet, unsere Hundemarken seien »fälschungssicher«, aber wir haben bislang auch noch keinen nennenswerten Mißbrauch festgestellt. Jede GO kann ihre Marken, wenn sie ausgehen, mit Hilfe einer kleinen, von Hand bedienbaren Presse selber nachprägen. Die Marken unterstreichen die Souveränität und die Bedeutung unserer GOs. Das Blech und die Druckformen (Stempel) beziehen die GOs aus bestimmten Metallfabriken des jeweiligen Landes. Für Hessen ist das eine Fabrik in Wetzlar. Nahebei, in Gießen, sitzt übrigens die hessische Landsleitung. In technischer Hinsicht wurde dieses vergleichsweise »primitive« System binnen weniger Wochen von einigen Mitarbeitern der ehemaligen Staatlichen Münze in Berlin entwickelt. Geld müssen die nicht mehr machen. Es gibt auch keine Bundesdruckerei für Personalausweise und diesen ganzen versklavenden und kostspieligen Krempel mehr. Die ehemaligen deutschen oder ausländischen Personaldokumente unserer RepublikanerInnen ruhen in den GO-Büros neben den Mitgliederlisten in immerhin verschließbaren Stahlschränken. Wozu sollten wir sie aufwecken? Ja, sicher, für Auslandsreisen. Da hatte ich in den sieben Jahren, neben der Marke, schon mehrere diplomatische Verwicklungen am Hals. Es hielt sich zum Glück in Grenzen, weil wir, seit dem Umsturz, auf Auslandsreisen nicht mehr sonderlich erpicht sind. Das Internet bringt uns auf Wunsch so gut wie jedes Land der Erde recht preisgünstig ins Haus. Auf den einträglichen Tourismus, der diesen Planeten schon beinahe erdrosselt hat, können wir getrost verzichten.

Vielleicht darf ich noch kurz verallgemeinern. Was einer Freien, nicht zu riesigen Republik in erster Linie »Sicherheit« gewährleistet, ist die soziale Nähe. In den GOs weiß jeder ziemlich gründlich, was er von dem anderen zu halten hat. Auch in den Kreisen und Bezirken kennt man sich zumeist, wenigstens vom Sehen her. Fremde Bösewichte fallen nahezu unweigerlich auf. Jeder Einheimische ist selbstständig und beherzt genug, um sie zur Rede zu stellen, ja notfalls festzunehmen. Wir haben es nicht nötig, Polizisten oder BerufsrichterInnen mit durch zu füttern. Anders ausgedrückt, wird eine Freie Republik nicht von Argwohn, vielmehr von Wellen des Wohlwollens getragen. Das Mißtrauen überlassen wir Leuten wie Macron, die im Interesse ihres Klientels aus Bankiers und Spießbürgern in jedem zweibeinigen Wesen, das die Nationalhymne nicht auswendig aufsagen kann, einen Schurken wittern. Die Partisanenführer in Kuba, Vietnam oder Nicaragua waren gewiß bekloppte Patrioten – aber eins hatten sie völlig richtig erkannt: du mußt im Volk wie der Fisch im Wasser schwimmen, dann bist du unüberwindbar. Das wäre also die Seite des Wohlwollens. Die andere wäre, daß es auch noch des geeigneten Volkes bedarf.

Fehlt noch ein Wort zu den vierbeinigen Hunden, die ja zum Teil als Wächter gelten. Auf sie haben wir ebenfalls liebend gern verzichtet. In ganz Hessen – auf 5,3 Millionen RepublikanerInnen, Säuglinge eingeschlossen – dürfte es keine 200 Hunde mehr geben. Kurt Sommergut schrieb schon vor Jahren nette Aufsätze oder Glossen über beziehungsweise gegen Hundehaltung. Ich beschränke mich deshalb auf vier Kerne der Argumentation. 1.) Hunde sind Sklaven. 2.) Hunde sind Militaristen. 3.) Hunde sind die Knutschkissen unbefriedigter ZweibeinerInnen. 4.) Hunde sind völlig nutzlos – soweit sie von IndianerInnen oder Indern nicht verzehrt werden – gleichwohl fressen sie jeder Volkswirtschaft die Haare vom Kopf.

4

Wer auf einem kapitalistisch und militaristisch ver-seuchten Planeten eine Freie Republik errichten will, kommt nicht umhin, zwei einschneidende Sofortmaß-nahmen zu ergreifen. Er muß das Volk bewaffnen und er muß das Geld abschaffen. Alles andere ist reformistischer Käsekuchen, an dem sich dann wieder mit Vergnügen in der Überredungskunst trainierte rotgrüne Schmarotzer-Innen laben werden. Zur Bewaffnung bedarf es vielleicht keiner langen Worte. Das sogenannte »Gewaltmonopol des Staates« war immer nur der Deckmantel für die Herrschaft der – übrigens nie »gewählten« – jeweiligen Eliten. Bei uns hat jede GO eine, gegen Kinder und RäuberInnen, gut verschließbare Waffenkammer. Zu ihr besitzt jeder Erwachsene der GO einen Schlüssel. Will er einen Aufstand wagen, kann er es tun. Bislang hatten wir im ganzen Bund lediglich einen einzigen Mißbrauch dieser Regelung. Das war in dem neuen Bundesland Franken: Ein Mann in meinem Alter drehte nach starken seelischen Belastungen durch und erschoß zwei Mitglieder seiner GO. So etwas läßt sich nicht verhindern – nicht auf diesem Planeten. Im übrigen leiten die Landes- und Bezirks-leitungen regelmäßig Wehrübungen an. Einige militärisch genutzte Flughäfen unterstehen der Bundesleitung. Zivilen Luftverkehr gibt es nur noch ausnahmsweise, etwa im Rettungsdienst.

Damit zum Geld. Das Geld ist seinem Wesen nach Tauschwert. Und es abzuschaffen, heißt vor allem, den Tausch abzuschaffen – und damit das Vergleichen von unzähligen einzigartigen Gütern und Leistungen, die gar nicht vergleichbar sind. Das Geld stutzt diese ganzen Phänomene auf eine unselige Meßbarkeit. Was aber haben ein Pilzomelett, ein Stück Blech für die Hundemarken und ein Telefongespräch Nele Schurznagels mit Macrons »Sicherheitschef« miteinander gemein? Richtig, gar nichts. Bei uns werden Güter und Leistungen (Aufgaben) nicht getauscht und bezahlt; sie werden ge- und verteilt. Man berücksichtigt dabei soweit wie möglich die Begabungen, Kräfte und Wünsche der RepublikanerInnen – und wenn es einmal durchaus keine Eier oder keinen Strom für das Omelett gibt, ißt man eben etwas weniger Ausgefallenes.

Mit der Abschaffung des Geldes bestehen gute Aussichten, nach und nach das unselige, weltweit verbreitete Quantitative Denken auszurotten. Sie gibt den Blick auf die Eigentümlichkeiten aller Dinge und Beziehungen wieder frei. Aber sie hat auch einen mehr pragmatischen Grund, der unter Umständen die ganze junge Republik retten kann. Dürften einheimische WidersacherInnen Geld anhäufen, klug verstecken (was mit Gebäuden und Ländereien schwerfällt) und vielleicht dazu im Ausland klug investieren, gewönnen sie dadurch ganz beträchtlich an Macht. Selbstverständlich würden sie es früher oder später in Agitprop, Agenten und Truppen oder Drohnen verwandeln. Auch deshalb darf es kein Geld mehr geben. Diese WidersacherInnen würden wohl kaum MitstreiterInnen finden, etwa PR-Leute und Leibgarden, wenn sie sie nur mit Rosenkohl und Hasenkeulen, mit Naturalien also entlohnen könnten. Aber etwas anderes als Rosenkohl und Hasenkeulen ließe sich eben in der neuen Republik nicht horten. Und die ganze Verteilung steht hier unter starker sozialer Kontrolle. Damit hätten wir jene schützende Nähe wieder. Daß die Nähe auch wieder für manche nervtötenden Reibereien sorgt, gestehe ich nur am Rande zu.

Zum Dritten sollte man auch noch an die gewaltigen Spekulationen und Schwemmen erinnern, die durch Geld und sogenannte Währungsreformen ermöglicht und liebend gern losgetreten werden. Bei dem allem kommt es auf die Form des Geldes überhaupt nicht an. Gold, Freigeld, Arbeitsgutscheine, Kryptowährungen, Regionalgeld – was haben mehr oder weniger »alternative« TheoretikerInnen nicht schon alles ausgetüftelt, um einen Generalangriff auf das Wesen des Geldes zu verhindern. Letztlich erweisen sie sich dadurch als die klassischen hilfreichen »Ärzte am Krankenlager des Kapitalismus« – das Wort (von 1931) wird meist dem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Fritz Tarnow zugeschrieben.

Vielleicht sollte ich als weitere wichtige Sofortmaßnahme auch noch die Abschaffung der Berufspolitik anführen, zumal sie mich selber stark betrifft. Gewiß lag in dem Generalsekretariat sieben Jahre lang meine Hauptbeschäftigung. Aber sie war so »ehrenamtlich« wie alles andere, was ich zusätzlich betrieben habe. Ich putzte den Saal und die Klos im GO-Haus, grub in unseren Gärten Disteln aus, ging mit unserem verkrüppelten 62jährigen Gustav auf die Dönche, entwarf das Plakat für das Sackhüpfen um den Rammelsberg, schrieb einige Satiren für in- oder ausländische Blätter und ließ mich sogar wiederholt von meiner eigenen Tochter beschimpfen, weil ich sie dereinst, auf dem Standesamt, als »Irawaddy Schurznagel« angemeldet hatte. Nun ja, Fehler macht man in jedem Bereich, da muß man keine Berufspolitikerin sein. Im Grunde haben wir im Lauf der Jahre die Berufe überhaupt abgeschafft. Kurt Sommergut schrieb einmal in der ROP: »Als Anarchist wünsche ich den freien, selbstständigen, vielseitig gebildeten und vielseitig geschickten Republikaner. Da kann ich keine Fachidioten oder Spezialisten gebrauchen, ob sie nun 'genial' sind oder nicht. Das gilt übrigens auch für Literaten, Maler oder Komponisten. Das ganze zivilisatorische Kunstschaffen ist eine völlig überdrehte Frucht der Trennung in Klassen und Erwerbstätigkeiten, freilich auch des Ruhmstrebens. Mit Vielseitigkeit in einer GO kann ich keinen Ruhm ernten. Aber Dankbarkeit, die von Herzen kommt.«

5

Man hat es sich vielleicht schon gedacht: Die beiden wesentlichen Aufgaben der Bundesleitung betreffen die Außen- und die sogenannte Sicherheitspolitik. Meinen »Höhepunkt« hatte ich in dieser Hinsicht gleich im Frühherbst 2021, als ich mit dem russischen Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow einen »Beistandspakt« abschloß, der noch zur Stunde in Kraft ist. Zur Unterzeichnung trafen wir uns an einem sonnigen Septembertag in Dresden, wo Lawrow Freunde hat, die er sowieso wieder einmal besuchen wollte. Eine gewisse Anspielung auf die fragwürdige verheerende Bombardierung der Stadt durch die Angelsachsen im Februar 1945 war natürlich bei dieser Ortswahl ebenfalls beteiligt. Über die Zeit der DDR und des (angeblichen) sowjetischen Sozialismus' sprachen wir lieber nicht. Jedenfalls sind sich alle Bundesräte darüber einig, daß sich der ROB ohne die Freundschaft mit Rußland sehr wahrscheinlich nicht hätte halten können. Da sich das Riesenreich zudem in finanziellen Fragen recht barmherzig zeigt, ist unsere Dankbarkeit groß. Soweit wir Außenhandel treiben, wickeln wir ihn nahezu ausschließlich über die im früheren Berlin sitzende Filiale einer Moskauer Bank ab. Unser schmales Goldguthaben liegt unmittelbar in Moskau. Die russischen Freunde nehmen es uns wohl kaum ab – dafür jedoch die Bewachung.

Eine dritte Aufgabe der Kasseler Zentrale gilt der Bundesbahn. In allen übrigen Bereichen werden zwar manche Richtlinien erarbeitet, aber es sind nur Empfehlungen: die Länder müssen sie nicht beherzigen. Das gilt auch für Einbürgerungswünsche, die naturgemäß oft zuerst an die Zentrale gerichtet werden. Die Zentrale leitet die Wünsche, ihrem Überblick entsprechend, nach hier oder dort, doch die vorgeschlagenen GOs und deren Länder können sie begründungslos zurückweisen. Andernfalls kommt es zur landesüblichen Probezeit. Aber wie ich schon einmal sagte, es ist nicht so einfach, bei uns Fuß zu fassen, weil wir trotz der ersten Fluchtwelle eher Zuviele als Zuwenige sind.

Wie sich versteht, kosten die beiden Hauptaufgaben ungeheuer viel Geschick und Nerven, wird der ROB doch nach wie vor fast ringsum angefeindet. In Malmö, Südschweden, bildete sich sogar bald nach dem Umsturz eine rotgrüne sogenannte deutsche Exilregierung, geführt von Schuster und Sierglock. In ihrer PR- und Wühlarbeit stützen sich die WidersacherInnen teils auf jene (Steuer-)Flüchtlinge, gern auch in der Schweiz, voran die enteigneten Konzernleitungen; teils auf so manche unzufriedenen ROB-BürgerInnen, die zunächst den Schwanz einzogen, also blieben. Wegen der Volksbewaffnung sind die letzteren aber, fürs Ganze, nicht wirklich bedrohlich. Was die Außengrenzen unseres Bundes angeht, ist eine lückenlose Überwachung gegen Angriffe oder Schleichhandel gottseidank weder möglich noch nötig. Hier schützt uns einerseits ein Mangel, nämlich an Geld oder sonstigen Wertsachen; andererseits die schon gestreifte Soziale Nähe. Man kennt sich eben in den Grenzgebieten – und man kennt sich in diesen selber auch gut aus. Noch weitergehend, möchte ich sogar behaupten: Die stärksten Waffen des neuen Bundes ergeben sich gerade aus seinen angeblichen Schwächen: Dezentralisierung, Basisdemokratie, Volksbildung, Offenheit=Nachvollziehbarkeit. Wenn jeder Bürger mitdenken und mitlesen kann, laufen Geheimdienstarbeit und Gehirnwäsche bald ins Leere. Selbstverständlich stehen alle Beschlüsse, Protokolle, Rechenschaftsberichte sämtlicher Leitungen im Internet. Was will man da noch ausspionieren oder verzerren? Daraus folgt, daß sich die rotgrünen Heerscharen vor allem auf dem Gebiet der Sabotage versuchen, beispielsweise gegen Server, Datenbanken, Stromnetze, Lieferanten. Aber es zeigt sich mittlerweilen doch, das bringt ihnen selbst im westlich gestimmten Ausland wenig Sympathie ein. Schließlich erweist es, sie stehen am Ende ihrer Argumente. »Sie trauern nicht Deutschland nach, vielmehr ihrem Machtverlust«, bemerkte dazu Kurt Sommergut erst vor wenigen Wochen in der ROP.

Um die ROP wurde anfangs länger gerungen. Viele hielten ein gedrucktes Organ des Bundes im Zeitalter des Internets für überflüssig, somit auch zu kostspielig. Die Journalistin Heike Söver, früher zeitweise bei der Wochenzeitung Freitag tätig, stellte aber in einem entscheidenden Artikel klar, ein solches Blatt sei gerade wegen des Internets nötig. Während Webseiten höchst manipulierbar und entsprechend unzuverlässig seien, habe man in der ROP ein »Flaggschiff«, das in der Tat unmißverständlich Flagge zeige. Einmal gedruckt, wisse jeder, woran er in einer bestimmten Frage sei. Diese Argumentation lag also genau auf der Linie der erwähnten Nachvollziehbarkeit. Da wir keine Rücksichten auf GeldgeberInnen und verwöhnte Kunden nehmen müssen, sind wir im übrigen auch mit der ROP beweglich. Der Umfang schwankt stark, je nach Erfordernis und Textangebot, und wenn sie einmal einen Tag »zu spät« erscheint, bricht unser Bund nicht gleich zusammen. Die wöchentliche Auflage, im Kasseler Pressehaus der ehemaligen HNA gedruckt, beträgt gegenwärtig rund 120.000. Das ist eher gering. Einige Tausend davon gehen an Abonnenten im Ausland. Wir selber benötigen nicht viel, kann das Blatt doch in unseren Kreisen und GOs durch viele Hände wandern, ehe es (im Winter) zum Anheizen der Zimmeröfen benutzt wird.

Neben der Sabotage griff das rotgrüne Schattenkabinett in Malmö selbstverständlich auch zu Verleumdungen. Die bis zuletzt schärfste Kampagne traf mich selber. Das war im Winter 2022/23. Da man in meinem bisherigen Liebesleben anscheinend nichts ausgrub, das sich Richtung Unzucht mit Minderjährigen oder dergleichen biegen ließ, benutzte man die Bildende Kunst als Hebel. Schurznagel habe in dem hübschen Gebäude des ROB in Kassel-Wilhelmshöhe eifrig wertvolle Gemälde oder Zeichnungen aufgehangen, die aus einstmals öffentlichen Sammlungen der inzwischen zerschachtelten Stadt Kassel stammten. Prunkstück der Raubkunst sei eine Lithografie von Henri de Toulouse-Lautrec, die selbstverständlich im Büro der studierten Grafikerin und Ex-Kabarettistin hinge: Sitzender weiblicher Clown, 1896. Diesen Befund konnten sie sogar mit mehreren Innenaufnahmen belegen. Und natürlich stimmte er. In Hessen war man damals bereits daran geschritten, die meisten Museen und ähnliche Kunsttempel als zu verfehlt und nebenbei viel zu kostspielig aufzulösen. Nur an den Herkules, das »Weltkulturerbe«, hatte man sich noch nicht getraut … Da wir Devisen nach der großen Kapitalflucht oder den entsprechenden Entschädigungszahlungen an Konzerne durchaus gut gebrauchen konnten, wurden die meisten Kunstwerke ins Ausland verscheuert. Einige der Kasseler Kunstwerke gingen aber auf Beschluß der Bezirke Kassel-West und Kassel-Ost just an die ROB-Zentrale, wobei jener Clown sogar ausdrücklich für mein Büro empfohlen worden war. Hessen oder Ex-SaarländerInnen, die diese Werke gern besichtigen oder fotografieren wollten, konnten das jederzeit tun.

Dieses Recht hatte eben auch der Agent genutzt, der Herrn Schuster und Frau Sierglock mit dem heißen Bildmaterial versorgt hatte. Das teils von der Drusel umflossene ROB-Haus mit den großen geschwungenen Jugendstil-Ladenfenstern im Erdgeschoß unterlag ja keiner wirklich ernst zu nehmenden Bewachung. An der Haustür mußte man klingeln. War der Besucher unbekannt, wurde er nach seinen Wünschen gefragt, mehr nicht. Wollte er eine Pistole ziehen oder schon vorher eine Bombe in die Ladenfenster werfen, konnte er es tun. Wie man sich denken kann, war auch diese Frage heftig erörtert worden. Als sich Leute aus dem Kreis Rammelsberg hartnäckig für eine Video-Überwachung des Eckgebäudes aussprachen, ließ ich mich sogar zu einer Drohung hinreißen: dann träte ich zurück. Andere beruhigten sich mit dem Gedanken, immerhin sei ja jede GO bewaffnet, also auch die Wasseramsel – notfalls werde man AngreiferInnen mit dem Gewehr in der Hand bis zum Herkules hinauf verfolgen. Das sind nach wie vor mehrere 100 Meter Steigung.

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Wer Außenaufnahmen des ROB-Hauses mustert, ist möglicherweise über die Abwesenheit jeglicher Botschaften erstaunt, »Kunst am Bau« eingeschlossen. Es wirkt durchweg gediegen, jedoch schmucklos. Selbst am Jahrestag des Umsturzes hängt man dort nicht ein Transparent zu den Fenstern heraus. Lediglich das steile Ziegeldach zeigt je nach der Langen Straße und zur Drusel hin die eingelegten, farblich etwas abgesetzten Buchstaben ROB. Von der unterhalb des Schlosses Wilhelmshöhe gelegenen Straßenbahnendstelle sind sie mit bloßem Auge zu lesen. In allen Bundesländern folgt man in der Frage der Verbilderung und Verschriftung des Öffentlichen Raumes, wenn auch unterschiedlich streng, jener Richtlinie, die auf der bekannten Freien Inselrepublik Pingos in der Ägais schon seit Jahrzehnten gilt. Kurt Sommergut hatte sie einmal, neben vielen anderen Anregungen, mitgebracht, als er, noch vor dem Umsturz, zu einer Lesereise eingeladen war. Man hatte den Berliner Schriftsteller gerade mit einem Sammelband verschie-dener, nun ins Englische übersetzten Prosaarbeiten vorgestellt. Nach der Richtlinie sollten es Freie Republiken verschmähen, die Freiheit ihrer Gebäude, ja ganzer Landschaften durch Plakatierungen aller Art einzuschnüren. Das verletze deren Eigentümlichkeit und fordere ihre Mißachtung als »Mitwesen« geradezu heraus. Möge den verantwortlichen Leitungsgremien jeder Baum, der durch Anschläge zum Botschaftenständer herabgewürdigt werde, auf die Birnen fallen, hieß es allen Ernstes in der Richtlinie.

Dummerweise hatte Kurt auf Pingos auch die Anregung empfangen, Kindern ab einem bestimmten Alter die Wahl eines neuen Namens freizustellen. Sie wird in unseren Bundesländern oft beherzigt. Der Name wird dann einfach in den Listen der GO des Kindes geändert – fertig, aus. Ich hatte mit dieser Gepflogenheit neulich hautnah und mit etwas Zähneknirschen zu tun, als mir nämlich meine (damals) 15jährige Tochter Irawaddy erklärte, diesen »Kotznamen« – Irawaddy, mal zu Ira, mal zu Waddy abgekürzt – wolle sie nicht mehr hören. Ich habe das oben schon angedeutet. Das wütende Mädchen marschierte gleich ins Büro der GO Dönchewäldchen und ließ Lisa Schurznagel eintragen. Jetzt kann sie niemand mehr mit der Hänselei »Hallo Irawaddy / wo steckt denn dein Pappi?« begrüßen. So war es ihr einst in der Schule ergangen.

Ich hatte den vom längsten Fluß Birmas abgeleiteten Vornamen aus dem 1954 erschienenen Roman Kamala Markandayas Nektar in einem Sieb gefischt. Ostberlin brachte 1956 zurecht eine deutsche Ausgabe heraus. Die Geschichte wird rückblickend von einer Frau erzählt, die mit 12 an einen Kleinpächter verheiratet worden war. Ihr erstes Kind wurde leider »nur ein Mädchen« – eben Irawaddy. Dann kamen noch fünf Söhne. Und der Fortschritt: in Gestalt einer Gerberei, die die ganze Gegend verpestete.

Meine Lisa, geboren 2009, hatte es ohne Zweifel besser, obwohl ihr die übliche mitteleuropäische Schulpflicht nur zum Teil erspart blieb. Unser Umsturz erlöste sie immerhin von der stumpfsinnigen Büffelei für ein sogenanntes Abitur. Unsere Alternativen zur herkömmlichen Schule setzen grundsätzlich auf Selbstorganisation, sehen freilich in jedem Bundesland etwas anders aus. Manche Länder schwören auf das Konzept der »Bildungsgruppen«, das schon vor rund 20 Jahren in Konräteslust, Thüringen, entwickelt wurde. Rheinland-Pfalz hat kürzlich sogar die Grundschulen abgeschafft. Das neue Bundesland Nordsee geht mit dem reizvollen Plan schwanger, für Kompakt-Kurse »Schulschiffe« einzusetzen, die jeweils für ein paar Wochen Ems, Weser und natürlich die Nordsee befahren. Kurt Sommergut hofft, man läßt bei diesen Schulfahrten die Behandlung des Themas Gorch Fock nicht aus.

Davon abgesehen, daß sie von einem Liebhaber zum anderen stürzte, blieb Lisa einer frühen Neigung zum Handwerk treu. Derzeit gehört sie einer Tischlerei des Kreises Dachsberg an, die vor allem Fenster, Türen und Fußböden baut und einbaut. In unserer Gegend, hier am Osthang unterhalb des Habichtswaldes, sind noch viele Häuser sanierungsbedürftig, sofern sie nicht abgerissen wurden. Die Besiedelung ist nicht gerade betörend: Ein- bis Dreifamilienhäuser aus der Nachkriegszeit, mit einigen neumodischen angeblichen Perlen durchsetzt. Das Gemeinschaftshaus unserer GO (Dönchewäldchen) war vor 2021 die würfelig gestaltete Villa eines Zeitungs-verlegers. Ja, auch mir blieb Lisa treu. Wir bewohnen den Oberstock eines schnöden Zweifamilienhauses, das der GO-Villa schräg gegenüber liegt. Wir sind, mit Lisa, vier Frauen unterschiedlichen Alters. Unsere Küche benutzen wir im wesentlichen zum Kaffeekochen und Doppelkopfspielen, denn im GO-Haus residiert ein dreiköpfiger Küchenbetrieb, der alle GO-ler (oder Gäste) versorgt. Wir sind gegenwärtig 68 Erwachsene und 21 Kinder, ein paar sogenannte behinderte Menschen eingeschlossen. Hat man GOs, kann man 80 von 100 Bewahranstalten getrost schließen.

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Gestern gönnte ich mir in Begleitung von Lisa und Jochen, ihrem jüngsten Liebhaber, einen Ausflug mit dem altmodischen roten »Schienenbus«, der nun wieder, in manchen Windungen, von Kassel nach Korbach tuckert. Jochen wohnt in Korbach, gehört sogar der dortigen Bezirksleitung an. Die Fahrt ist ausgesprochen erholsam, zumal sich inzwischen unter den weidenden Schafen, Schweinen und Pferden keine Ozeandampfer großen Mähdrescher und auf der Autobahn nach Dortmund kaum noch sonstige Fahrzeuge blicken lassen. Am Himmel segeln Kolkraben oder Gabelweihen. BewohnerInnen früherer Dörfer winken eifrig. Die alte Hansestadt Korbach war einst Bahnknotenpunkt gewesen, erreichbar aus den Richtungen Marburg/Lahn, Warburg, Brilon und Wabern. Noch um 1970 konnte man sogar in D-Zügen geradewegs nach Frankfurt/Main, Hamburg, ja sogar Amsterdam reisen. Dann schlugen die StillegerInnen zu, sodaß man schließlich, mit nahezu leergefegten Kurzzügen, nur noch nach Kassel gelangen konnte.

Man muß sich das einmal vor Augen halten. Zahlreiche mühsam und kostspielig errichteten Dämme, Brücken und Bahnhöfe verrotteten über Jahrzehnte hinweg. Fast jeder erduldete, viele förderten es. Aber dann kamen wir. Als ich von den ähnlich mühsamen und kostspieligen Wiederherstellungen unter dem zuständigen neuen hessischen Landesrat las, schimpfte ich einmal vor Zeugen: »Alle PolitikerInnen, die diesen groben Unfug betrieben oder gebilligt haben, sollte man sofort dahin schleppen und an die Hacken und Schubkarren binden! Und das für Monate!« – »Aber Nele, ich dachte, wir lehnen den Strafgedanken ab ..!« – »Ja, leider. Wir lehnen allerdings auch 100prozentige Gesetzestreue ab. Es müssen immer Ausnahmen möglich sein.« Dummerweise waren die Verantwortlichen aber schon durchweg friedlich gestorben. Die politische oder die heimatkundliche Literatur feiert sie als WohltäterInnen des Waldecker Landes.

Die Eisenbahn führt mich jetzt nach Halle. 2024 sorgte in ganz Mitteleuropa der Fall Löhnke für Aufsehen. Der Agent hatte sich als Maulwurf in eine sächsisch-anhaltische GO eingeschlichen, um eine Saalebrücke der Bahnfernstrecke Bebra–Halle sprengen zu können, während sie befahren wurde. Der Anschlag gelang. Zufällig gab es »nur« drei Tote und einige verschieden stark Verletzte. Zu den Toten zählte ein kleines Kind. Die Empörung im ganzen Bund war groß. Aber immerhin, Löhnke, ein schwedischer Staatsbürger, wurde enttarnt und festgesetzt. Schließlich gestand er die Tat sogar, obwohl er selbstverständlich nicht mißhandelt worden war. Er habe mit Wissen, wenn nicht sogar Billigung des rotgrünen Schattenkabinetts in Malmö gehandelt. Das dementierte selbstverständlich umgehend »aufs Schärfste«. Über Wochen tobten diplomatische Schlachten im Dreieck Kassel–Malmö–Stockholm. Ich betonte dabei wiederholt, es gehe nicht um die Bestrafung Löhnkes; bekanntlich habe man im ROB ohnehin die übliche Justiz abgeschafft; selbst auf sogenannte Entschädigung könnten wir getrost scheißen. Wir seien gern bereit, Löhnke unverzüglich auszuliefern, sofern sich die Rotgrünen in Malmö nur dazu herbeilassen könnten, ihren AnhängerInnen und Agenten von solcher kriminellen Wühlarbeit grundsätzlich abzuraten. Das Tauziehen war noch im Gange, als einigen Leuten im Osten, darunter die Eltern des getöteten Kindes, der Kragen platzte. Sie stahlen den Gefangenen im Morgengrauen aus dem GO-Keller im Bezirk Halle-Süd, wo er schmorte, und warfen ihn kurz darauf just von der halbzerstörten Saalebrücke aus in den Fluß. Da er gefesselt war, ertrank er selbstverständlich. Nun fischten sie seine Leiche heraus und begruben sie gleichsam im Schatten der Brücke am Ufer. Abschließend setzten sie einen Pfosten mit einem Schild, auf dem lediglich das Anschlagsdatum und der Name des Agenten stand. Jetzt schlugen die Wogen in Mitteleuropa erneut hoch. Ich erklärte im Namen der Bundesleitung: »Wir können die Aktion unserer ostdeutschen Genossen nicht begrüßen, aber wir verdammen sie auch nicht. Im ROB ist jeder Bürger allein seinem Gewissen verantwortlich. Hält er es für richtig oder unabdingbar, das zu üben, was die Scheinheiligen der herkömmlichen Richterroben- und Zuchthausstaaten Selbstjustiz nennen, kann er es tun, ohne sich dadurch Nachteile zuzuziehen. Wir betrachten den Fall Löhnke jetzt als abgeschlossen. Weitere diplomatische Bemühungen sind von Kassel nicht mehr zu erwarten.«

Ich halte es für angebracht, Sie noch mit einigen tiefer schürfenden Gedanken zum Thema Justiz bekannt zu machen. Der thüringische Schriftsteller Heinz Jäckel, damals selber Bürger der Zwergrepublik Konräteslust im Nessetal (bei Gotha), beobachtete 2010 ein sogenanntes »Öffentliches Forum« im dortigen Schloß, bei dem es um einen (angeblichen) Kindesmißbrauch ging. Der beschuldigte Genosse wurde weder »verurteilt« noch »freigesprochen« – der Fall blieb offen. Viele fanden die Verhandlung aber lehr- und hilfreich. Jäckel veröffentlichte anschließend auf zwei Seiten der Berliner Tageszeitung Junge Welt einen an diesem Fall aufgehängten Grundsatzartikel. Daraus im folgenden Abschnitt ein Auszug. Die Namen der Betroffenen sind von Jäckel benutzte Decknamen.

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>>An Recht, Rechtsstaat, Rechtspflege, Rechtssicherheit glauben im Grunde nur Einfaltspinsel, die auf die Eindeutigkeit der Dinge bauen. In Wahrheit sind die Dinge natürlich so wenig eindeutig wie der Mensch und die von ihm erfundene Sprache. Wer zum Beispiel Gerlinde näher kannte, ließ sich von ihrem herrischen Zug nicht mehr blenden. Sie wäre ohne Zweifel gern die herausgeputzte Gutsherrin gewesen, hätte diese Rolle aber niemals ausfüllen können. Mit ihrem Draufgängertum übertünchte sie tiefsitzende Minderwertigkeitsgefühle. Ein Stolpern auf dem Hofpflaster ihrer GO konnte sie aus dem seelischen Gleichgewicht bringen. Stieß Anja versehentlich eine Blumenvase um, löste sie einen hysterischen Anfall ihrer Mutter aus. Doch zwei Stunden später, und Gerlinde war die Zärtlichkeit und Fürsorge in Person. Das Dumme war, man wußte nie, welche Seite wann zum Tragen kommen würde. Die Person Gerlinde war unberechenbar. Habe ich dagegen einen Paragraphen, der bestimmt, Totschlag sei verboten und werde mit mindestens fünf Jahren Haft geahndet, scheint die Sache klar zu sein.

Jedoch: stellt auch die Verabreichung von Gift einen Totschlag dar? Und wenn ich das tödliche Gift über Jahre hinweg in Form von Verachtung in das Herz meines Opfers träufele? Gar keine oder nur die Mindeststrafe? Der oben erwähnte schwarze US-Bürger Mumia Abu-Jamal schmort für eine angeblich im Handgemenge vorsätzlich begangene Ermordung eines Polizisten trotz erheblicher Zweifel an seiner Täterschaft seit 27 Jahren unter der Todesstrafendrohung – kein Richter nennt das Unrecht und Folter. Wir sprachen bereits davon, daß auch die Phänomene Gewalt und Gerechtigkeit nicht eindeutig sind. Ein »linker« Vater dreht seiner Tochter, Bodo Ramelow der Republik Konräteslust den Geldhahn zu – wer wollte da von Erdrosselung sprechen? Läßt der deutsche Oberst Georg Klein von seinem behaglichen Platz am Bildschirm aus ungefähr 100 afghanische Zivilisten bombardieren, ist es kein Mord oder Totschlag, weil es für eine gute Sache ist. Zweifel an der Güte verbittet sich »Verteidigungs-minister« Karl-Theodor zu Guttenberg. Ohrfeigen Sie einmal einen abgerissenen Obdachlosen, der ihren schönen Hund beschimpft! Es wird Ihnen nichts passieren. Aber ohrfeigen Sie einmal Guttenberg!

Hier prallt die Buchstabengläubigkeit des gesetzestreuen Bürgers auf die Machtverhältnisse. Es gibt keinen Paragraphen, den ich nicht so oder so auslegen könnte; bin ich aber machtlos, wird sich meine Version kaum durchsetzen. Dieses System der Rechtspflege funktioniert umso besser, je mehr es im Laufe der Zivilisation verkompliziert werden kann. Wissen und Winkelzüge haften magnetisch an den Platinuhren der jeweils herrschenden Elite, während der Indio nur seine Machete hat. Damit ist er dem Dschungel aus Paragraphen, Kommentaren und Ausnahmeregelungen nicht gewachsen. Dieser Dschungel erstickt jedes Bemühen um Gerechtigkeit im Keim, von seiner aberwitzigen Kostspieligkeit einmal abgesehen. Genau deshalb wurde er gepflanzt: er macht die Welt undurchschaubar und verbürgt Unmengen einträglicher Arbeitsplätze, vom Gerichtsdiener und Rechtsberater bis zum obersten Verfassungshüter.

Ein republikanisches Rechtswesen muß selbstorganisiert und egalitär sein wie die Republik auch sonst. Klappt das nicht, klappt die ganze Republik nicht. Ihre Verfassung genügt. Sie benötigt kein Gesetzbuch, denn jeder weiß, was gut und böse ist oder meint es jedenfalls zu wissen: darüber kann man sich verständigen. Während sich Gut und Böse stets gleich bleiben, liegt doch jeder Konfliktfall anders. Deshalb hat eine republikanische Schlichtung biegsam zu sein; sie erfindet das Recht ständig neu. Allerdings unterstellt sie dabei den wohlwollenden, gemeinnützigen Republikaner, während Cäsar, Krupp und Guttenberg den eigennützigen, auf Abwege sinnenden, Ränke schmiedenden, haßerfüllten Bürger unterstellen. Sie ernten, was sie säen. Die Republik benötigt keine Polizei, keine Erzwingungshaft, keine Strafe. Die soziale Ächtung erzwingt genug, falls es nötig sein sollte. Strafe beinhaltet den Vergeltungs- und Sühnegedanken, den freie sterbliche Menschen ablehnen. In eine groteske Welt gepfropft zu sein, ist schon Strafe genug. Der Mensch, der gefehlt hat, soll nicht büßen; er soll es in Zukunft besser machen. Das Gefängnis macht ihn schlechter.

Der einzige Sinn einer Freiheitsstrafe unter republikanischen Bedingungen könnte der Schutz der Gemeinschaft vor eingefleischten Übeltätern sein, beispielsweise Kinderschändern, Vergewaltigern, Totschlägern. Doch zum einen wird man diese Sorte in der Republik kaum antreffen, sofern diese nicht unablässig von außen mit Gift vollgepumpt wird. Zum anderen ist es in krassen Fällen immer noch besser, dem notorischen Übeltäter in Selbsthilfe das Handwerk zu legen, als ihn einer staatlichen Züchtigungsmaschinerie zu überantworten. Deren Gewaltmonpol wäre das weitaus größere Übel. Es wäre also vorzuziehen, den betreffenden Menschen zu verjagen, zu verprügeln, notfalls auch zu töten. Das hätten die betroffenen RepublikanerInnen persönlich und eigenhändig zu tun. Damit bliebe auch die Verantwortung für ihr Tun (und infolgedessen beispielsweise ein schlechtes Gewissen) bei ihnen. So hielten es viele amerikanische Indianerstämme und viele Völker oder Gruppen vor ihnen. Wir dagegen delegieren unsere Verantwortung an die Züchtigungsmaschinerie und widmen uns dem Frühstücksei nebst Zeitung.<<

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Heute vormittag besuchte mich Leo Kramm, mein Nachfolger. Er wünschte einen bestimmten Ratschlag von mir und wollte ohnehin einmal sehen, wie ich hier so wohne. Er hatte trotz der beträchtlichen Steigung von der Langen Straße bis zum Dachsberg ein Fahrrad genommen. Da die Maisonne freundlich schien, verlegten wir die Erörterung bald auf die Dönche, die sich gleich am Ende unserer Seitenstraße über den ganzen Hang erstreckt, vom Habichtswald bis nach Niederzwehren. Das versteppte Gelände ist mit zahlreichen Gehölzen durchsetzt, die vielen, teils seltenen Vögeln Unterschlupf bieten. Man findet aber auch das liebliche pinkfarbene Tausend-güldenkraut und manche einheimische Orchidee. Ich staunte wieder über Leos geschmeidiges Schlendern. Der eher massige, blonde Hüne, jetzt 37, hatte mich bereits auf dem Olgashof (bei Wismar) durch die Ruhe beeindruckt, die er ausstrahlte. Vor dem Kommuneleben war er, auch dies in Mecklenburg, als Gutsverwalter eines echten Grafen erwerbstätig gewesen. Ich schlug ihn dann für das Generalsekretariat vor. Jetzt erfuhr ich überdies, daß er ein wahres wandelndes Vogelbestimmungsbuch war. Er murmelte die Namen der jeweiligen Sänger oder Rufer, ohne überhaupt hinzugucken. Ein kurzes, etwas verschnupftes Flöten – »der Pirol«. Ein federndes Band aus hellen Tönen – »der Baumpieper«. Ein wie aus den Bachbinsen gepumptes schrilles Klagen – »der Wendehals«. Und so weiter. Dazwischen nickte er immer und zwinkerte mir aufmunternd zu – als ob ich seinen Posten als Generalsekretär eines unter Feinden und Problemen ächzenden Bundes übernommen hätte! Schließlich sagte ich bewundernd: »Wenn man die bei uns eingeschleusten Agenten so gut erkennen und entlarven könnte wie du die einheimischen Vögel, wären wir fein raus!« Das gefiel ihm. Erst schmunzelte er nur; dann bog er sich sogar vor Lachen. Wenig später gingen wir in die GO-Villa zum Mittagessen.
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