Mittwoch, 4. Mai 2022
Stille Hochzeit
2022


1968 zählte Ferdinand Geudel zu den Wortführern der nordhessischen Antiautoritären. In der Folge ist er nicht gerade umgefallen, wie die meisten seiner Zunft, aber um 2000 hatte ihn die Enttäuschung über das Schicksal zahlreicher Petitionen, Delegationen und Demonstrationen immerhin dazu bewogen, für oder gegen politische Bestrebungen künftig keinen kleinen Finger mehr zu rühren. Er setzte sich auch keineswegs die Anhäufung von Reichtum zum Ziel – nur lebte er inzwischen auf der Ostsee-Insel Usedom, da lag es doch nahe, sich eine kleine Motorjacht zu kaufen und mindestens die Hälfte seiner Freizeit auf dem Wasser zu verbringen. Geudels Jacht Augusta wird noch eine bedeutende Rolle in unserer Geschichte spielen.

Von Hause aus Zimmermann, später Student der Kunstpädagogik, war der hochgewachsene, schon damals leicht gebeugt gehende Mann mit der kräftigen Seeadlernase und der zurückgekämmten schwarzen Mähne nach der »Wende« zum Leiter einer auf Usedom eröffneten Freien Schule aufgestiegen. Sie nahm unweit vom Strand ein paar dreigeschossige rote Backsteinhäuser ein. Von seinen Schützlingen und Kollegen wurde Geudel verehrt, obwohl oder gerade weil er nichts mehr von Politik wissen wollte. Seine Zurückgezogenheit achteten sie. Dafür hatten sie schließlich eine Menge Narrenfreiheit. Geudel bewohnte ein Einfamilienhaus, das rund 300 Meter vom Schulhof entfernt lag. Zur See hin war es von einem hübschen Buchenwäldchen geschützt. Jenseits der Bäume lag Augusta in Geudels privater Anlegebucht. Auf der anderen Hausseite, gen Süden, gab es ein Gärtchen, dem Geudel vor allem seine Küchenkräuter verdankte. Eine Frau hatte das Einfamilienhaus nicht zu bieten, dafür jedoch einen Keller. Der ist sogar noch wichtiger als die Jacht.

Geudel brach seinen Schwur von der politischen Enthaltsamkeit, als er sich bereits im Ruhestand befand. Es war im Sommer 2020. In der von ihm mitbegründeten Freien Schule herrschte plötzlich »Maskenzwang«, wie er von seinen Küchenfenstern aus beobachten konnte. Er rieb sich ungläubig die Augen. Als er mit seiner Augusta zur Erholung eine Bootsfahrt auf der Oder unternahm, war es nicht anders. An jedem Landungssteg stieben die Leute auseinander, wenn er ihn ohne sogenannten Mund- und Nasenschutz zu betreten wagte. Die Leute hatten Angst, sich mit dem Corona-Virus anzustecken. Das mußte die »Pandemie« sein, die die Regierungen der Freien Welt ausgerufen hatten. Es war der reine Wahnsinn. Erfreulicherweise lernte der Schiffer jedoch in einer Kneipe in Lebus an der Oder einen bissigen Schriftsteller kennen, der kein Blatt vor den Mund nahm. Kurt Sommergut, ein rotblonder Krauskopf, deutlich jünger und kleiner als Geudel, kam aus Berlin. Jetzt machte er in Begleitung zweier Freunde, der Ärztin Meike Korsch und dem Spediteur Jupp Leiser, Urlaub an der Oder, obwohl die Obrigkeiten bereits »Reisebeschränkungen« erlassen hatten. Die Vier durften noch ohne Maske zuende essen, aber dann erteilte ihnen der Kneipenwirt Hausverbot. Geudel nahm seine neuen Bekannten mit auf die Augusta, wo sie erst einmal einen Kräuterschnaps tranken, um sich zu beruhigen. Dann spielten sie Doppelkopf und diskutierten die neue Weltlage, soweit es das Spielgeschehen zuließ.

In dieser Juninacht wurde die Idee mit dem Keller und der Entführung geboren. Die vier KartenspielerInnen verordneten sich strenge Konspiration, denn ob sie nun klappen würde oder nicht, die Sache war ein ziemlich dickes Ding. Als sich Sommergut, Meike und Leiser im kühlen Morgengrauen zu Leisers Möbelwagen begaben, in dem sie nächtigten, meinte just der Spediteur unter Händereiben, endlich habe man wieder einmal ein Ziel vor Augen. Die beiden anderen nickten begeistert, denn sie empfanden es ganz genauso.

2

Geudel kaufte gleich auf der Rückfahrt nach Usedom in verstreuten Baumärkten das Material ein, das er für sein neues Kunstwerk im Keller benötigte: vor allem Ziegelsteine erster, nämlich viel Schall schluckender Qualität, zwei stählerne Brandschutztüren, auch eine Rolle Schallschutzmatte, ferner Zement und noch ein paar Kleinigkeiten. Die Augusta lag recht tief im Wasser, als er in seine Bucht einlief. Zwei Tage verbrachte er damit, die Ware, teils mit Hilfe einer Karre, unauffällig durch das Buchenwäldchen zu schaffen. Als erstes hatte er übrigens die beiden schmalen, waagrechten Fensterhöhlen in seinem größten Kellerraum verschlossen, damit ihn niemand beobachten und belauschen konnte. Dann fing er mit dem Aufmauern an. Seine Haustür hielt er selbstverständlich verriegelt. Später verfuhr er, sobald er Feierabend machte, genauso mit der neuen Brandschutz-tür des Kellers. Er benötigte lediglich gut eine Woche, bis die Zelle im Keller vollendet war. Ihre gemauerten Wände und die dicke Balkendecke hatten beinahe ringsum ungefähr 50 Zentimeter Abstand zum restlichen Kellerraum. Man konnte also außen um die Zelle wandern, falls man Lust dazu hatte. Zur Kellertür hin gab es allerdings eine enge Schleuse, die zur Zellentür führte. Die einzige größere Schallbrücke stellte der Kellerboden dar, auf dem die Zelle stand. Darin lag freilich keine Gefahr, weil das Betonfundament des Hauses unmittelbar auf der an dieser Stelle unbelebten Erdkugel ruhte. Hier verlief auch das Kabel, das die Zelle mit Strom versorgte.

Das meiste Kopfzerbrechen hatte dem Ex-Zimmermann die Frage der Belüftung bereitet. Er hatte auf seiner Heimfahrt beinahe das gesamte aufgewühlte Stettiner Haff benötigt, um sich, am Steuer stehend, zu der einfachsten und sichersten Lösung durchzuringen: Er würde auf eine Lüftungsanlage verzichten. Das war lediglich mit der Unbequemlichkeit verbunden, die Zelle des Gefangenen (und seiner VerhörerInnen) mehrmals täglich, vielleicht sogar jede halbe Stunde, mit Hilfe der beiden geöffneten Brandschutztüren der Schleuse vom Haus her auf natürlich Weise zu belüften, dadurch nebenbei, der elektrischen Geräte wegen, auch zu kühlen. Wie sich versteht, mußte der ohnehin gefesselte Gefangene zu diesem Zweck jedesmal geknebelt werden, damit er nicht etwa um Hilfe rief, der Oberschurke. Falls es ein Mann sein sollte.

Schrie er bei geschlossener Schleuse um Hilfe, würde das Ergebnis im schlimmsten Fall lediglich seine Heiserkeit sein. Sie hatten es selbstverständlich ausprobiert. Spediteur Leiser hatte rund zwei Wochen nach Vollendung des Bauwerks eine private Motorradfahrt zu Verwandten in Greifswald zu einem Abstecher nach Usedom genutzt. Selbstverständlich hatte er seine Maschine bereits in Anklam geparkt, ehe er zur Insel und Geudels Schule hinauswanderte. Bei Geudel eingetroffen, hatte er zunächst Lobeshymnen im Keller angestimmt. Dann war er wieder nach draußen gegangen, um einen kleinen Gang um Geudels Einfamilienhaus anzutreten. Unterdessen brüllte sich Geudel in der verschlossenen Zelle für mehrere Minuten fast die Seele aus dem Leib. Aber Leiser hörte nichts davon. Das war der großartige »Schallschutztest«, auf den sie dann, schon wieder, einen Kräuterschnaps tranken.

3

Schon für Rosa Luxemburg war Berlin (wie zuvor Paris) eine Hölle gewesen – vor über 100 Jahren. Die schiere Größe, das Gedränge, der Lärm, die schlechte Luft und dergleichen mehr sorgten für Kopfschmerzen und Trübsinn aller Art, beklagte sie in ihren Briefen wiederholt. Die Briefe standen, schön gebunden, in Sommerguts Bücherschrank. Aber er hatte in 10 Jahren nie den Absprung aus der deutschen Hauptstadt geschafft. Bei seinen Mitverschworenen sah es kaum anders aus. Spediteur Leiser schlich seit Jahren mit einem schlechten Gewissen durch die Gegend, weil er den Lkw-Verkehr stärken und dadurch umgekehrt die Bevölkerung schwächen half. Sie hatten in seiner Firma, die derzeit ein Dutzend Möbelwagen besaß, schon mehrere Unfälle mit Personenschäden gehabt. Genau genommen war es nicht Leisers Firma, vielmehr ein Genossenschaftsbetrieb. Jupp Leiser war nur der Geschäftsführer. Immerhin war die Belegschaft gut eingespielt. Sollte er sich demnächst einmal vorübergehend mehr der Entführung eines Hohen Tieres als dem Transport von Möbeln widmen, würde es gar nicht weiter auffallen.

Wer das Tier denn wäre? Und wann es hopsgenommen würde? Sie wußten es alle vier nicht. Geudel einmal ausgenommen, hatten sie manche Verbindungen in unterschiedlichsten Kreisen der Stadt und konnten von daher hoffen, früher oder später einen heißen Tip zu bekommen. Daneben zwang sich Leiser zur lückenlosen Verfolgung der lokalen Medien – was für ein grauenhaftes Geschwafel! Für die interne Verständigung hatten sie Meike als Schaltstelle bestimmt. Sommergut und Leiser waren zu bekannt. Möglicherweise wurden sogar die Telefone der beiden Kämpfer abgehört. Meike hatte ihre Praxis als Internistin schon vor rund zwei Jahren aufgegeben, nachdem ihr Patenonkel gestorben war und ihr überraschend eine Menge Geld hinterließ. Jetzt saß sie an einer Arbeit über die hygienischen Verhältnisse in Großstädten der »Dritten Welt«, mit der sie sich habilitieren wollte. In Sommergut hatte sie sich erst im vergangenen Winter verliebt. Auf der Rückfahrt von der Oder kamen sie nebenbei darauf, es sei vielleicht dringlicher, wenn Meike eine Arbeit über die Fragwürdigkeit des Impfens einreichte. Nur würde man ihr dafür keinen Lehrstuhl geben. Das Impfen gegen ein vergleichsweise harmloses Grippe-Virus wurde bereits in großen Teilen der Welt zur erlösenden Staatsdoktrin erhoben. Eine wie immer kleine und radikale Minderheit meinte allerdings, es handele sich um eine genauso groteske wie geniale Strategie, um den längst drohenden Zusammenbruch der sogenannten Weltwirtschaft, wenn nicht zu verhindern, dann doch wenigstens zu verzögern und als meteorologisches Ereignis hinzustellen. Die eigentliche Seuche sei der Kapitalismus.

Die Geduld des neuen, nur heimlich so genannten Clubs »Stille Hochzeit« wurde auf eine harte Probe gestellt. Fast ein ganzes Jahr verstrich, ehe der erlösende Bote aus der Berliner Subkultur bei Sommergut auftauchte. Man blieb jedoch in dieser Zeit keineswegs untätig. Man machte sich mit vielen Details einer Entführung vertraut, arbeitete mehrere alternative Pläne aus, spielte einige Szenen sogar vor Meikes häuslicher Videokamera, ja sogar auf abgelegenen Straßen durch. Geudel bekam eine Pistole und übte sich in seiner schönen neuen Zelle im Nahkampf. Sommergut häufte schlagkräftige Fakten und Formulierungen an, die ihm vielleicht beim Verhör des Gefangenen nützlich wären. Meike, in vielen Fragen der neuen elektronischen Medien ohnehin bereits bewandert, löste das Problem, eine heikle Video-Datei online zu stellen, ohne dabei ertappt zu werden. Sie trieb zu diesem Zweck ein vorwiegend von arabischen Studenten besuchtes Internetcafe in Köln auf. Das waren, von Anklam aus, zwar rund 800 Kilometer Anfahrt mit der Eisenbahn, doch es würde die Spürhunde sicherlich erneut ablenken, wie schon die geplante Fahrt mit Leisers Möbelwagen. Sie mußten ihren Unterschlupf bei Geudel um jeden Preis schützen.

4

An einem Donnerstag im Mai des Jahres 2021 ging die Schelle an Sommerguts Wohnungstür. Es war »der schöne Bobby«. Sommergut freute sich, da er sowieso in einem Text steckengeblieben war, und umarmte den unerwarteten Besucher ausgiebig. Bobby hatte wohl inzwischen schon die 50 überschritten, war gleichwohl noch gertenschlank und glänzte keineswegs mit einer Halbglatze, vielmehr einer kühnen dunklen Haartolle. Sommergut brühte Tee auf. Vor Jahren hatte er Bobby einmal aus einer Messerstecherei in einer dunklen Gasse in Prenzlauer Berg herausgeholfen. Seitdem ging er gelegentlich in die Nachtbar, die Bobby und dessen Geliebtem gehörte. Obwohl sie sich nicht gerade häufig sahen, besaßen sie doch ein merkwürdiges Vertrauens-verhältnis. Bobby hielt den rotblonden Schriftsteller für seinen Lebensretter. Der Koch seiner renommierten Bar mußte jedesmal das Beste auftischen, das es gerade gab, und zusätzlich schüttete Bobby noch sein Herz vor Sommergut aus. Selbst über Politik sprachen sie zuweilen. Genau deshalb war Sommergut auch nicht verblüfft, als Bobby beim Teetrinken etwas unvermittelt sagte:

»Du meintest doch einmal, diese ewige Straflosigkeit der hiesigen Ministerriege ginge dir allmählich auf den Sack, mein liebes Kurtchen ..?«

Sommergut grinste und nickte nur.

»Na also … Gestern abend tauchte John mit seiner Mieze bei uns auf – du weißt schon, Erasmus John, der deutsche 'Gesundheitsminister'. Er hatte einen Tisch bestellt. Sie speisten also. Der Tisch stand zufällig hinten unmittelbar an der Balustrade jenes Podestes, auf dem ein paar technische Räume liegen, falls du es nicht weißt. Auf der anderen Seite dieser Räume verläuft der Toilettengang. Da die Klimaanlage schlecht lief, war ich einmal in dem entsprechenden Geräteraum nachsehen gegangen, ob die Einstellung noch stimmte. Plötzlich vernahm ich durch das kleine vergitterte Lüftungsfensterchen des Geräteraums Johns ölige Stimme. Er schien seiner Mieze irgendeine Wohltat schuldig zu sein. Ich linste hinaus. Nun erzählte er der Mieze, am Sonntag in einer Woche sei beim Grafen Soundso eine private Matinee, ob das nicht eine nette Sache wäre, da mal für ein paar Stunden auszuspannen? Den Namen des Grafen verpaßte ich dummerweise, weil gerade ein Weinglas von irgendeinem Tisch fiel. Aber dann sagte John: Der Graf feiert nämlich am Vortag seinen 60. Geburtstag, im kleinen Kreis. Die meisten Gäste reisen bereits am Samstag an, hat er mir erzählt. Doch für die eigentliche Geburtstagsfeier mußte ich ihm leider absagen, wegen der Ministerpräsidentenkonferenz, du weißt ja. Er beschwor mich also, wenigstens am Sonntag zu der Matinee zu erscheinen. Sie ist auf 1o Uhr angesetzt. Für mich ist das eine große Ehre, mein Schatz. Der Graf ist schließlich Hauptaktionär vom Klinikkonzern Schonkur. Und er hat ein entzückendes Jagdschlößchen. Es liegt keine 20 Kilometer vom Stadtrand direkt an der Rönne! Was sie, die Mieze, von solch einem Ausflug halte? Sie war sogar einverstanden, wenn sie auch mit ihrer dämlichen Ponyfrisur zur Bar nickte und maulte: Aber dann mal ausnahmsweise ohne diese öden Panzerknackertypen! Die treten einem ja fast auf die Füße und versauen einem jeden Schnappschuß mit dem Smartphone! Sie meinte Johns Leibwächter, die an der Bar hockten. John dachte nicht lange nach und sagte: Kein Problem, mein Schatz! Die freuen sich, wenn sie mal einen freien Sonntag kriegen. Niemand weiß ja, wohin wir fahren, da kann nichts passieren … Das war alles, mein lieber Freund – zieht man das Geschmuse mal ab, das unter meinem vergitterten Ausguck noch folgte. Ich beeilte mich mit der Klimaanlage und trollte mich wieder in unseren Gastraum.«

Sommergut hatte mit wachsender Spannung zugehört. Jetzt schnalzte er übermütig mit den Fingern und sagte: »Sehr interessant, mein lieber Bobby. Ich danke dir! Aber den Grafennamen bekommst du nicht mehr zusammen ..? Macht nichts.«

Damit erhob er sich vom Sofa und ging zu einem großen Stadtplan, der mit Reißzwecken an die Rückwand eines Schrankes gepinnt war, der ins Zimmer ragte. Bobby folgte ihm.

»Na siehst du«, sagte Sommergut und deutet auf ein Flüßchen, das südlich der Stadtgrenze eingezeichnet war. »Das ist die Rönne. Besonders lang scheint sie ja nicht zu sein. Wenn da mehr als zwei oder drei Jagdschlößchen liegen, in denen in anderthalb Wochen der 60. Geburtstag eines Schonkur-Großaktionärs gefeiert wird, fresse ich einen Besen. Ich werde mich darum kümmern, Bobby!«

»Schön«, erwiderte Bobby und nickte zur Zimmertür. »Dann werde ich mich mal wieder verdrücken. Paul wartet auf mich.«

»In Ordnung, Bobby. Ich nehme ja an, du schweigst wie ein Grab ..?«

»Wie ein Grab ..?« erwiderte Bobby in gespielter Entrüstung. »Wie zwei Gräber, mein lieber Freund! Im Ernstfall müssen wir nebeneinander liegen …«

5

Nach mehreren, selbstverständlich verdeckt durchge-führten Ortsbesichtigungen und eingehendem Kartenstu-dium kannten Sommergut und Leiser den mutmaßlichen Tatort und die voraussichtlichen Fluchtwege schon fast wie ihre Westentasche. Für Meike war die Ortskenntnis weniger wichtig. Sie hatte vor allem die geeigneten Betäubungsspritzen zu besorgen – und die wirkten an jedem Ort gut, falls sie fachgerecht verabreicht worden waren. Eine andere Frage war natürlich, ob John und seine Mieze auch kommen würden. Das lag nicht in ihrer Hand. Sie würden sich vergleichweise früh am Tatort in Bereitschaft halten müssen, denn die genau Uhrzeit war ihnen ja ebenfalls unbekannt. Der Verfassungsschutz konnte vielleicht Sommerguts Telefon abhören – nicht dagegen Sommergut das von Herrn Minister John.

Erasmus John, Ende 40, von Hause aus Rechtsanwalt, glich einem etwas molligen, blonden Fuchs, dem irgendein Zirkusdirektor mehr aus Versehen den Aufrechten Gang beigebracht hatte. In die Gesundheitspolitik hatte er seine spitze Nase vor einiger Zeit nicht ganz zufällig gesteckt. Der weltweit operierende Pharmakonzern Bötzer hatte sich nämlich bereits von Johns Büro in juristischen Fragen beraten lassen, und dann hatte ihn Kanzlerin Merkel eben ins Kabinett geholt.

Der Name des märkischen Grafen tut wenig zur Sache. Das Betörendste an dessen Jagdschlößchen war im Grunde die Zufahrt: weil es die einzige war. Das ausgedehnte Grundstück lag, von vielen Uferbäumen gut abgeschirmt, in einer Schlaufe der Rönne. Man besaß eine eigene Brücke. Die schmale asphaltierte Zufahrtstraße führte über rund zwei Kilometer bis zur Landstraße. Auch die Zufahrt war teils von Obstbäumen, teils ganzen Hecken gesäumt, somit schwer einsehbar. Ringsum lagen Äcker. Gleichwohl konnte ein böswilliger Zufall einen Wanderer oder einen anderen Matineebesucher ausgerechnet in den falschen Minuten zur vorgesehenen »Unfallstelle« leiten, wo sie eigentlich ungestört zu sein wünschten. Für diesen Notfall mußten sie wohl oder übel den Abbruch des Unter-nehmens miteinplanen.

Leisers Möbelwagen hatte an der Unfallstelle ohnehin nichts zu suchen. Er sollte ungefähr drei Kilometer weiter im rückwärtigen Schatten einer großen Feldscheune lauern. Wie sich versteht, würde ihn Leiser im Lauf der Anfahrt ein wenig umdekorieren. Das bedeutete, den Firmennamen des Berliner Genossenschaftsbetriebes an mehreren Stellen mit Folien zu überkleben, die den Lkw als Eigentum eines Nürnberger Logistic-Unternehmens auswies, sowie entsprechend andere Kfz-Kennzeichen aufzuschrauben. Wenn überhaupt, wünschten die Clubmitglieder die Aufmerksamkeit der Polizei gen Süddeutschland zu richten.

Was Meike und Sommergut angeht, reisten sie am entscheidenden Sonntag ziemlich normal in Meikes 10 Jahre altem, sandfarben lackiertem VW-Golf an. Der Himmel war bedeckt, aber es regnete nicht. Sie parkten ihren Wagen nahezu versteckt unter blühenden Apfelbäumen, tauschten die Nummernschilder aus und ließen ihn darauf allein. Sie spazierten rund 200 Meter Richtung Landstraße zurück, um sich dann hinter einer altmodischen, schon halb verwitterten Streugutkiste im jungen Gras niederzulassen. Eine mannshohe Böschung in ihrem Rücken war zum Acker hin mit Sträuchern bestanden. Sommergut hatte einen kleinen Rucksack bei sich. Darin lagen hauptsächlich ein Feldstecher und zwei Pistolen. Es war erst kurz vor neun. Sie wußten, welche Privatwagen John und auch seine Mieze fuhren. Einen Rolls Royce würden sich die beiden ja wohl kaum für diesen heimlichen Ausflug mieten. Jetzt fing das zermürbende Warten an.

6

Nach knapp 70 Minuten bekam Sommergut Johns schwarzen Audi ins Glas. In dieser Zeit waren zwei Wagen an ihrer Streukiste vorbei zum Schloß gefahren: eine silbern lackierte Mercedes-Limousine und der Lieferwagen eines bekannten Berliner Party-Dienstes. Gottseidank war der Lieferwagen auch schon wieder vom Schloß zurückgekehrt. Jetzt brachten sich Meike und Sommergut nach einem erleichterten Ausatmen in Stellung. Was Meike betraf, ging sie rund 20 Schritte Richtung Rönne, legte sich plötzlich bäuchlings mitten auf die Straße und zerdrückte dabei auch noch ein Beutelchen mit Theaterblut. Ihre Gürteltasche mit der Pistole, den Spritzen und dünnen Fingerhandschuhen war von der Anfahrtseite her kaum zu sehen. Für diese Rolle hatte sie ihre ganze ärztliche Kaltblütigkeit zusammen zu raffen – schließlich war nicht auszuschließen, John bekäme einen Rappel und überführe sie kurzerhand mit seinem schönen schwarzen Wagen.

John bremste ungefähr in Höhe der Streukiste. Möglicherweise hatte ihm die Mieze schon besorgt den Arm getätschelt: »Erasmus, ich glaube, da liegt ne Verletzte!« Erfreulicherweise blieb sie aber starr im Audi sitzen. John dagegen stieg aus und äugte erst einmal argwöhnisch über den geöffneten Wagenschlag. Nun sprang Sommergut – in diesem Stadium der Unternehmung war er noch maskiert – mit gezogener Pistole hinter der Streukiste hervor und versicherte dem blonden, kurzärmeligen Fuchs mit den üblichen kinoerprobten Worten, wenn er Widerstand leiste, sei er auf der Stelle ein mausetoter Gesundheitsminister.

John stand tatsächlich der Mund auf. Schon versetzte ihm Sommergut einen Kinnhaken, den er mit Meike ausgiebig besprochen und geübt hatte. Während Meike, auch sie maskiert und jetzt in Handschuhen, bereits angelaufen kam, sackte John auf der Straße zusammen. Die Mieze schrie leise auf, behielt aber ansonsten ihre Starre bei. Sommergut schleifte John über zwei Meter von der Straße, um ihn kurzerhand gegen die Streugutkiste zu lehnen. Dann richtete er seine Pistole wieder auf die Mieze. Inzwischen war Meike zur Stelle, schon die erste Spritze in der Hand. Sie betäubte zunächst den Gesundheitsminister, dann seine Begleiterin. Sie warteten noch einmal kostbare 30 Sekunden. Die Mieze erschlaffte bereits in ihrem Sicherheitsgurt. Johns Kopf fiel zur Seite. Jetzt rannte Sommergut die 200 Meter zurück, um den Golf zu holen. Unterdessen wendete Meike den Audi. Als Sommergut vor der Streugutkiste bremste, half sie ihm, John einzuladen. Sie sahen sich noch einmal hastig um, ob sie auch nichts Verräterisches verloren hätten. »Okay!« raunte Sommergut, puffte Meike in die Seite und fuhr mit seiner Beute davon. Meike folgte ihm mit Johns Wagen, die schlummernde Mieze auf dem Beifahrersitz.

7

Eigentlich war keine Überstürzung vonnöten. Die größte Gefahr lag in unliebsamen Zwischenfällen, und die waren durch Schnelligkeit kaum zu vermeiden. Man konnte nur beständig Ausschau halten und notfalls umdisponieren. Die beiden Betäubungsspritzen hatte Meike gut dosiert. Die Spritze für John würde mindestens zwei Stunden vorhalten, bei lediglich 80 Kilometer Autofahrt. Geudel hatte die Augusta in dem Oderknick hinter Bad Freienwalde am Ufer vertäut. Das hofften sie jedenfalls. Die Spritze für die Mieze hielt doppelt so lang vor, denn Leiser wollte das Püppchen erst bei Bayreuth aussetzen, für eine Wagneroper vielleicht. Das waren über 400 Kilometer mit dem behäbigen Möbelwagen. Der flotte schwarze Audi konnte leider nur im Huckepack mitfahren: als Frachtgut unter der Plane. Meike hatte ihn hinter der Feldscheune mit Hilfe einer von Leiser blitzschnell angebrachten Rampe aus Leichtmetall in den Möbelwagen gefahren. Dann hatte Leiser sie bis zu einem nahen Wäldchen mitgenommen, wo sie von Sommergut und dem Golf erwartet wurde. Sie drückte dem Spediteur ein Küßchen auf die Wange und stieg um. Leiser brach gen Süden auf.

Das Autoradio belehrte Leiser allerdings schon nach rund zwei Stunden darüber, daß man in Berlin einen Bundesminister vermißte. Nun, das war vielleicht auch nicht so tragisch. Anderntags entnahmen sie der FAZ, die Geudel merkwürdigerweise seit Jahrzehnten im Abonnement hielt, ein paar interessante Einzelheiten. Johns Staatssekretär hatte seinen Chef bereits um 11 wegen einer dringenden Frage auf dem Handy angerufen, doch das Handy blieb stumm. Darauf hatte der Beamte nachgeforscht. 30 Minuten nach dem Kontaktversuch verriet ihm Johns Gattin, wo er wahrscheinlich stecken würde, also beim Grafen in der Matinee. Die Gattin war nicht nachtragend.

Leiser setzte Frau Johns Nebenbuhlerin auf einem Rastplatz bei Bayreuth aus, nachdem er sich dort für ein paar Minuten unbeobachtet fühlte. Sie schlummerte noch. Er hatte den Wagen, in Handschuhen, nach ungünstigen Spuren abgesucht, wenn er es auch für übertrieben hielt, nach jedem Kopfhaar zu fahnden, das nicht der Mieze oder John gehört hatte. Die Folien und die Kfz-Kennzeichen wollte er erst in der Nähe von Berlin austauschen. Er nahm an, man würde den schwarzen Minister-Audi spätestens in einer halben Stunde entdecken und um- und umkrempeln. Etwas heikel war die Verunreinigungsfrage. Sie hatten sie neulich ausführlich erörtert. Schließlich war abzusehen, daß ihre beiden Opfer, schockiert, betäubt und durstig, wie sie waren, unbeabsichtigt mindestens etwas Wasser lassen würden. Sie fanden aber keinen Rat, wie dieser Beschämung, die ihnen fern lag, vorzubeugen wäre. Meike war lediglich so umsichtig, den Rücksitz ihres Golfs mit einem dicken saugfähigen Tuch auszulegen, ehe John, für alle Fälle zugedeckt, dort liegen und schnarchen würde. Eine Prise Gestank würden sie und Sommergut schon verkraften. Außerdem hatte sie Geudel gebeten, etwas Herrenwäsche aus Usedom mitzubringen.

Geudel schlug sich begeistert die rechte Faust in die linke Hand, als er um Mittag durch das Erlengesträuch am Ufer Meikes Golf erspähte. Sie hatten vereinbart, das Entführungsopfer als kleines Beiboot zu tarnen. Als solches trugen sie John zu viert an Deck. Man konnte ja nie wissen, ob ein neugieriger Radfahrer Argwohn schöpfen würde. Dann ging Meike allein zu ihrem Wagen zurück, um ihn in einem nahen Gehölz zu parken. Sie tauschte die Kennzeichen wieder aus und verschloß den Wagen, nicht ohne vorher das Tuch vom Rücksitz zu entfernen. Dann marschierte sie zu einem gleichfalls nahen Bootssteg, an dem Geudel sie an Bord nehmen wollte. Das muffige Tuch stopfte sie unterwegs in einen Abfallbehälter der hier zuständigen Naturschutzbehörde.

Kaum war die Augusta acht Kilometer stromabwärts gefahren, traf ein Auto mit Berliner Kennzeichen an dem Gehölz ein. Es gehörte zwei zuverlässigen jungen Freunden von Bobby, dem Urheber dieser ganzen Schweinerei. Sie hatten sich zu einem kleinen Sonntagsausflug bereit erklärt. Der eine Freund stieg aus und öffnete Meikes Golf mit einem Drittschlüssel. Er machte erst einmal Durchzug, weil es im Wagen stank; dann überführte er ihn, den Freund im Gefolge, nach Berlin. Dort stellte er ihn in Meikes Straße genau auf dem Platz ab, wo er fast immer zu stehen pflegte.

8

Nach Meikes Zustieg hatte die Augusta keine 150 Kilometer mehr vor sich. Somit war anzunehmen, sie würden noch vor Mitternacht zu Hause sein, falls alles gut ging. Die Kajüte der Motorjacht war natürlich kein Festsaal. Die beiden Doppelstock-Kojen waren für Ölsardinen angelegt, und zwischen ihnen klemmte ein schmaler, klappbarer Tisch. Als der Minister bald darauf erwachte, sah oder fühlte er sich mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Sommergut erklärte ihm:

»Ich kann sie Ihnen abnehmen, Herr John, damit sie sich umziehen und etwas essen können. Sollten Sie freilich Krach schlagen, haue ich Ihnen sofort den Pistolenknauf auf die Birne. Sie verstehen mich ..?«

John erwiderte nichts. Er blickte haßerfüllt in der engen Kajüte umher. Meike hielt sich ebenfalls mit der Pistole bereit, trug jedoch eine Kapuze und gab keinen Ton von sich. Während John aß, fügte Sommergut seiner Erklärung hinzu:

»Um Ihnen die schlimmsten Sorgen zu nehmen, Herr John: Es liegt uns fern, sie zu quälen. Ihre Gefangenschaft wird vorraussichtlich auch nicht lange währen. Sie werden in jedem Fall mit dem Leben davon kommen. Es geht uns lediglich darum, Ihnen ein paar Fragen zu stellen, die uns und womöglich auch der deutschen Bevölkerung auf den Nägeln brennen. Überdies dürfte Ihre Begleiterin gesund und schon wieder auf freiem Fuß sein. Ihre Privatange-legenheiten interessieren uns ohnehin nicht die Bohne.«

Nach dem Essen und einem Besuch des Toiletteneimers wurde John erneut gefesselt. Er lag auf der Seite in einer unteren Koje. Sommergut gähnte wiederholt und bat Meike, für einen kleinen Schlummer doppelt wachsam zu sein. Er streckte sich gegenüber aus.

Geudel war heilfroh, daß sich das Wetter einigermaßen gehalten hatte. Wind ging kaum. Natürlich stand Geudel in der Vorkajüte am Steuer. Da das Fenster der Verbindungstür verhangen war, konnte der Gefangene den Kapitän nicht sehen. Nach gut einer Stunde hatte Geudel schon Schwedt vor sich. Kaum lag die Stadt jedoch in seinem Rücken, sah er sich erschrocken um: Ein verdammt flottes Polizeiboot näherte sich! Es überholte die Augusta, gab das Zeichen zum Stoppen und drehte sogar bei.

Geudel hatte gleich nach vereinbartem Muster an die Verbindungstür geklopft. Er biß die Zähne zusammen und tastete heimlich nach seiner im Schulterhalfter steckenden Pistole. Jetzt hüpften zwei Uniformierte an Deck. Einer davon war weiblich. Blondgelockt. Sie war sogar die Wortführerin.

»Entschuldigen Sie bitte die kleine Störung. Sie sind der Kapitän? Dürften wir einmal Ihre Papiere sehen?«

»Selbstverständlich dürfen Sie. Was gibts denn, wenn ich fragen darf?«

Sie schenkte Geudel ein verschmitztes Lächeln, während sie seinen Kapitänsbrief eher flüchtig überflog. Dann nickte sie zum Ufer:

»In der Stadt haben so ein paar Witzbolde einen Geldautomaten geknackt. Wir suchen sie gerade. Ich hoffe, in Ihrer Kajüte stecken sie nicht ..?«

Geudel nahm seinen Brief entgegen und grinste. »Schön wärs ja! Dann bekäme meine Augusta endlich 20 PS mehr … Nein, da drinnen ruhen sich zwei Freunde von mir aus.« Er zwinkerte und fügte hinzu: »Ich glaube, die haben sich ein bißchen übernommen, wissen Sie ..?«

Sie stutzte, warf einen Blick durch den Türspalt – und grinste ebenfalls. »Ach so – ein Pärchen … Na, dann wünsche ich noch viel Vergnügen, Herr Geudel.«

Man tippte sich grüßend an die jeweilige Mütze. Die beiden Beamten hüpften auf ihr Boot zurück und ließen den Motor aufheulen. Sie fuhren Richtung Schwedt.

Geudel fiel ein Stein vom Herzen. Er wischte sich über die Stirn. Die Blondgelockte hatte ihm zwar gefallen; gleichwohl hoffte er, sie würde sich seinen Namen nicht allzulange merken. Und auch den von Augusta nicht. Jetzt gab er ebenfalls wieder Fahrt.

Kurz darauf hörte er in seinem Rücken die Verbindungs-tür. Meikes geduckter Kopf beglückwünschte ihn zu seiner Kaltschnäuzigkeit. Natürlich hatten sie in der Kajüte alles mitbekommen. Dem Gefangenen in seiner Koje hatten sie gleich nach Geudels Klopfzeichen einen Knebel in den Mund gestopft. Dann hatte Meike eine Decke über ihn geworfen und sich frech neben ihn gezwängt. Sommergut auf der anderen Kajütenseite hatte grinsend den Kopf geschüttelt und für alle Fälle seine Pistole entsichert. Aber nicht für John, vielmehr für Meike und sich selbst. Das hatten sie nämlich so vereinbart, Geudel eingeschlossen.

9

»Mein Name ist Kurt Sommergut, Herr John. Man hat mich mit der Gesprächsführung beauftragt. Wie Sie hier auf dem Kopf der jüngsten gedruckten FAZ sehen, schreiben wir Montag den 17. Mai 2021.«

Sommergut legte eine kleine Kunstpause ein. Sie saßen sich an einem kleinen Tisch in der künstlich beleuchteten Zelle gegenüber. Die FAZ lag zwischen ihnen. Sommergut konnte sich außerdem auf eine dünne Mappe mit Dokumenten und Notizen stützen. Jetzt nickte er zur Seite, wo Meike mit Kapuze hinter ihrer Videokamera stand, und fuhr fort:

»Die Filmaufnahmen bitte ich in Kauf zu nehmen. Möglicherweise werden wir sie zu unserer eigenen Rechtfertigung veröffentlichen. Daher zunächst die Frage: Können Sie sich beklagen, wir hätten Sie irgendwie gequält, Herr John? Oder gar gefoltert ..?«

John schwieg. Nach einem grimmigen Blick zur Kamera senkte er seinen Blick auf seine Handschellen, die er diesmal vorm Bauch tragen durfte. In dieser Haltung schwieg er weiter. Allerdings war er zusätzlich an die Lehne seines Stuhles gebunden. Sommergut trug seine Pistole unterm Hemd. Auch Meike war für alle Fälle bewaffnet. Geudel hatten sie dazu verdonnert, im Haus oder im Gärtchen unauffällig Wache zu schieben.

»Also gut«, seufzte Sommergut. »Nehmen wir einmal an, Sie wurden nicht gequält. Dann dürfen Sie aber bitte auch nicht mehr so furchtbar brüllen, wie eben bei unserem Eintritt in die Zelle. Ich versicherte Ihnen doch schon früher, die Zelle, unsere Schleuse eingeschlossen, ist absolut schalldicht. Sie werden nur heiser, Herr John. Können Sie sich das als Gesundheitsminister wirklich leisten ..?«

John blieb stumm, owohl er vermutlich kochte. Meike dagegen hätte fast das Bild verwackelt, weil ihr Sommerguts Hohn doch ein wenig unangemessen vorkam. Aber ihr Geliebter fuhr ungerührt fort:

»Sie werden mich vielleicht für einen Zyniker halten, Herr John. Dann frage ich Sie: steht es um den Maskenzwang, den das Kabinett Merkel und die sogenannte Ministerpräsidentenkonferenz erlassen haben, so viel besser? Ist das noch gesund, völlig gesunden Menschen solche juckenden und beengenden Filter ins Gesicht zu drücken? Und dann sogar Kindern? Sie haben ja sogar selber zwei schulpflichtige Kinder, wie wir gelesen haben. Finden die Ihre Masken toll?«

John zischte ohne aufzublicken: »Das geht Sie einen feuchten Kehricht an!«

»Hm«, erwiderte Sommergut rasch. »Es gibt aber inzwischen allein in Deutschland Hunderte von Medizinern, die öffentlich erklärt haben: Gegen Viren sind dergleichen Masken bestenfalls nutzlos. Für die TrägerInnen dagegen eher schädlich. Hat man in Ihrem Ministerium nie von solchen Warnungen gehört?«

Jetzt hielt John seinen Blick immerhin nicht mehr gesenkt. Er bellte: »Das sind doch alles AußenseiterInnen! Die wollen sich nur vor den Medien wichtig machen und irgendwie profilieren, weil sie das in ihrem beruflichen Alltag nicht schaffen!«

»Zugegeben, Herr John: bis auf Ihren Ministersessel haben sie es nicht geschafft. Dazu folgendes. Neulich konnte man sogar in sogenannten seriösen Blättern lesen, das Ministerium John (BMG) habe sich im Frühjahr 2020, am Beginn der sogenannten Pandemie, eine krasse 'Überbeschaffung' an für Kliniken und Arztpraxen gedachten Schutzmasken geleistet. Dieser Posten habe sich auf immerhin knapp sieben Milliarden Euro belaufen. Damals seien die Masken gerade besonders teuer gewesen. Im Ergebnis saß das BMG noch ein Jahr darauf auf einem 'gigantischen' Berg aus Masken. Viele davon waren schon bei Lieferung qualitativ schlecht gewesen. So kamen Prüfungen und Rechtsstreitigkeiten hinzu, die noch einmal für mehrere hundert Millionen Kosten sorgten. Das erfreute natürlich auch die Zunft der Berater und Rechtsanwälte, aus der Sie ja selber kommen, Herr John. Was sagen Sie dazu?«

»Gar nichts«, erwiderte John schnippisch. »Diese Dinge laufen noch. Aber Sie wissen doch selber, die Medien bauschen gerne auf.«

»Sie sagen es, Herr John! Vor allem bauschen sie gerne, mit freundlicher Unterstützung des Bundespresseamtes, herkömmliche Grippewellen zu Pandemien auf, nicht wahr? Erinnern Sie sich vielleicht noch an die fürchterliche 'Schweinegrippe', die uns 2009 heimsuchte? Sie war heiße Luft, Herr John, eine Fata Morgana, ein großer Betrug, wie beispielsweise der Arzt und Gesundheitspolitiker Wolfgang Wodarg 2015 in einem Buch dargelegt hat. Unter anderem hatte die WHO zu dem Trick gegriffen, die Kriterien für eine Pandemie abzuschwächen, um eine solche überhaupt ausrufen zu können. Räumen Sie das möglicherweise ein?«

»Damit habe ich nichts zu tun. Damals war ich im Bereich Gesundheit noch gar nicht tätig.«

»Und als Sie dann Minister waren, hielten Sie eine Aufarbeitung dieser verfehlten Gesundheitspolitik, die allerdings zielstrebig die Interessen der Gesundheitsmafia bediente, für überflüssig?«

»Wo kämen wir hin, wenn wir immer wieder bei Adam und Eva oder bei Adolf Hitler anfangen wollten, Herr Schriftsteller! Was vergangen ist, ist vorbei. Wir haben nach vorn zu blicken!«

Angesichts dieser dummdreisten Geschichtsvergessenheit verschlug es Sommergut beinahe die Sprache. Er ermahnte sich freilich innerlich sofort, nicht vom Hölzchen aufs Stöckchen zu kommen. So nickte er und erwiderte:

»Also gut, Herr John. Soweit ich weiß, hat Ihr Ministerium rund 700 Bedienstete, die Chauffeure und Palastwächter vermutlich eingeschlossen. Die wollen schließlich auch alle leben, nicht wahr? Dazu stand für 2020 ein Jahresetat von 38 Milliarden Euro bereit. Im Aufgabenkatalog des BMGs liest man viel von Erhalt der 'Leistungsfähigkeit' und Steigerung der 'Wirtschaftlichkeit' – nur nicht der bereits erwähnten Gesundheitsmafia … Daneben muß man natürlich beim Nach-vorne-blicken auch an alte Freunde denken. In jenen Berichten über den Maskenberg hieß es nebenbei, ähnliche Fehlkalkulationen beziehungsweise Schiebungen seien auch noch mit anderen Schutzaus-rüstungen vorgekommen. Dadurch, wenn auch lediglich durch 'Vermittlung', soll allein die Tochter eines früheren Schatzmeisters Ihrer Partei, Herr John, 30 bis 50 Millionen an sogenannten Provisionen eingestrichen haben. Das ist fast zu obszön, um es zu glauben.«

»Davon weiß ich nichts!« bellte John. Dann beeilte er sich, abzulenken. »Vielleicht sollten Sie lieber einmal erwähnen, daß wir einen größeren Teil jenes Masken-Überschusses an Bedürftige verschenkt haben – verschenkt, Herr Sommer-gut! Was meinen Sie, wie sehr sich all diese Behinderten, Obdachlosen oder Hartz-IV-EmpfängerInnen gefreut haben!«

Sommergut lächelte. »Na sicher! Die wußten ja, die Masken sind sowieso schadhaft, da schlagen sie bei uns kaum durch …«

Der Minister rang nach Atem.

»Ja, richtig, Herr John. Es wird stickig in diesem hübschen Verhandlungssaal. Ich glaube, wir machen erst mal Pause und lüften den Stall. Zu diesem Zwecke müssen wir sie leider wieder vorübergehend mit Knebel und Augenbinde versehen.«

10

Während Geudel Wache schob, versäumte er es nicht, auch die jeweils neusten Rundfunknachrichten zu hören. Halb Europa war in hellster Aufregung. Unter der Fahndung hatten anscheinend die Berliner am meisten zu leiden. Über Südbayern standen mehr Hubschrauber als Habichte oder Turmfalken. Die Medien bemühten sich, eine Renaissance der RAF-Hysterie zu schüren. Diesmal machten sie die neue »Querdenkerfront« aus Impfgeg-nern, Russenfreunden, Grundgesetzanbetern, Neonazis und Neidhammeln aller Art als die mutmaßlichen DrahtzieherInnen aus. Viele Leute nahmen aber einfach nur an, ein paar gewitzte Köpfe wollten sich durch die Entführung ein fettes Lösegeld verschaffen. Alle tappten freilich noch am Dienstag im Dunkeln. Zwar waren bei Zeitungen oder bei der Kripo ein paar angebliche Bekennerschreiben eingegangen, doch sie waren offensichtlich gefälscht. Eine wirklich heiße Spur schienen die FahnderInnen noch nicht entdeckt zu haben.

11

»In der Impffrage liegen die Dinge sehr ähnlich wie in der Masken- und PCR-Test-Frage, glauben wir, Herr John. Die Tests verzerren grotesk. Und die Impfungen schützen häufig überhaupt nicht, richten vielmehr noch zusätzliche, völlig überflüssige Schäden an. In diesem Sinne haben sich ebenfalls Hunderte von Medizinern öffentlich geäußert, zum Teil auch in kritischen Büchern zur Medizin-geschichte, so etwa bei uns, in Deutschland, der Arzt und Autor Gerd Reuther. Hinter dem Impfwahn stehen einige verbreitete Irrglauben, wenn ich mir den Plural gestatten darf. Der erste Irrglaube betrifft selbstverständlich das bereits erwähnte Dogma von der 'Wirtschaftlichkeit'. Geht es der Gesundheitsindustrie gut, geht es auch uns gut, den Bürgern. Pustekuchen! Das staatlich abgesegnete Geschäft mit Angst einflößenden Massentests und nicht oder kaum erprobten Impfstoffen stellt 30 riesige Bohrinseln in den Schatten. Der Profit sprudelt unablässig. Aber das werden Sie vermutlich abstreiten, Herr John?«

»Wieso sollte ich ..? Leistung muß sich lohnen, Herr Sommergut. Die Forschungsabteilungen der Arzneimittel-betriebe schuften Tag und Nacht, um Hunderttausende von Mitbürgern gegen die Pocken oder eben gegen Corona zu wappnen, da haben sie ja wohl gute Gehälter verdient.«

Rechtsanwalt John hatte mit ungeahntem Bekennermut, ferner mit Inbrunst wie ein Vikar bei seiner Antrittspredigt gesprochen. Womöglich glaubte er sogar selber an seinen Sermon.

»Wenn aber die Wappnung der Bevölkerung so gut ist – warum haben dann Sie, der Minister, die Impfmafia ausdrücklich von aller Haftung für denkbare Impfschäden befreit?«

Ohne Seil hätte sich John wahrscheinlich sogar protestierend von seinem Stuhlsitz erhoben. Nur galt sein Protest nicht der Mafia. Er polterte:

»Das können die doch gar nicht allein schultern, Herr Sommergut! Bei Gesundheitsmaßnahmen dieser Kragenweite – die ja durchaus einige Risiken bergen mögen – muß man doch als demokratischer Staat mit der Industrie zusammen arbeiten! Im Grunde ist das doch schon fast Sozialismus, was wir hier in Deutschland unter Kanzlerin Merkel praktizieren. Politik und Wirtschaft sitzen im selben Boot des Volkswohls, ganz einfach. Das scheinen sogar die Rotgrünen unter Schröder/Fischer schon um 2000 geahnt zu haben, nur waren sie zu sehr an die ideologischen Scheuklappen ihrer Parteivölker gebunden. Prompt mußten sie dann gehen. Der Wechsel kam. Das ist eben Demokratie, Herr Sommergut.«

»Wahnsinn ..!« murmelte die Frau an der Videokamera in ihre Kapuze. Sommergut sah, wie die Kapuze ungläubig wackelte. Er mußte unweigerlich grinsen.

»Herr John, ich komme kurzerhand zu einem zweiten Irrglauben. Er hält technokratische und militärische Maßnahmen für das Allheilmittel gegen sämtliche Mißstände in der Demokratie, also auch in Gesundheitsfragen. Der Patient wird in sündhaft teure Durchleuchtungsröhren gestopft, die schon beinahe dem Genfer Teilchenbeschleuniger gleichen. Der Krebskranke wird mit Strahlen und Medikamenten bombardiert, als sei er in feindlicher Absicht vom Mars gefallen. Die Säuglinge werden mit 'Grundimpfungen' zugedröhnt, die einen Elefanten von den Beinen werfen würden. Tritt ein neuer, wenn auch weitgehend harmloser Grippeerreger auf, gedenkt man ihn umgehend 'auszurotten', als brächte er die schlimmste Beulenpest zurück. Übrigens weisen so manche Fachleute die meisten gängigen Geschichten über Seuchenverläufe als Märchen zurück. An der berühmten 'Spanischen Grippe' um 1920 zum Beispiel waren hauptsächlich weder Viren noch Spanier schuld; es waren die mit Krieg, Hunger und allem anderen Elend verbundenen furchbaren Lebensbedingungen auf diesem Planeten. Hat man Ihnen das in dem Schnellkurs Wie werde ich Gesundheitsminister etwa nicht verraten?«

John lachte höhnisch und winkte ab, soweit es ihm die Handschellen gestatteten. »Sie können viel quatschen, Herr Sommergut, solange Sie eine Pistole im Hemd und eine vermutlich kompaniestarke Leibgarde haben!«

Sommergut überging den Einwurf. »Die Alternative zu den technokratisch-militärischen Maßnahmen bestünde somit einerseits in der Verbesserung der Lebensbedingungen – das ist auch eine Frage der Ökologie. Andererseits bestünde sie darin, endlich wieder auf die Selbstheilungs-kräfte der Erkrankten zu setzen. Aber genau das wird seit Jahrhunderten zielstrebig unterbunden. Man möchte den Bürger so abhängig wie möglich von Ärzten, Arzneien, Maschinen und großangelegten 'Maßnahmen' haben.«

Da John nur beleidigt von der Kamera wegguckte und stumm blieb, fuhr Sommergut fort:

»Einen dritten Irrglauben kennen Sie vielleicht am ehsten als Autofahrer, Herr John. Zwar hat man schon einmal in der Zeitung gelesen, das demokratische Deutschland leiste sich Jahr für Jahr ein paar tausend Straßenverkehrstote und noch ungleich mehr Verletzte und Traumatisierte. Oder man hat in den Fernsehnachrichten ganz groß in Farbe gesehen, wie die Feuerwehr mit Schneidbrennern ein paar Leichen oder Schwerverletzte aus ihrem Personenwagen schält. Aber das ist ja nicht das eigene Pech. Vielmehr treffen die unglücklichen Verläufe immer nur andere, darin besteht dieser dritte Irrglaube. Man selber wird doch sehr wahrscheinlich stets Glück haben. Nehmen wir das Glück der 32jährigen Psychologin Dana Ottmann, von dem ich gerade erst gehört habe. Die Frau war in einer Rehaklinik in Löhne (bei Herford) angestellt. Sie ließ sich gegen Corona impfen. Anschließend wurde sie wieder von starken Kopfschmerzen heimgesucht, die sie aber ihrer Neigung zu Migräne anlastete. Wenige Tage später, am 9. März 2021, fand ihre Mutter Petra sie tot im Badezimmer. Am Monatsende ging Petra Ottmann an die Öffentlichkeit. Ihr zufolge hatte die Klinik 'einen gewissen Druck' auf das Personal ausgeübt. Dabei hätten doch 'kaum Erfahrungen' mit dem Impfstoff vorgelegen. Die Tochter hatte ihre Neigung zu Migräne durchaus angegeben, doch diese ist nach einem Befund der Universität Greifswald nicht für ihren jähen Tod verantwortlich. Vielmehr habe eine 'Immunreaktion' auf den Impfstoff stattgefunden, die zu einer Gerinnungs-störung mit Einblutung ins Gehirn geführt habe. Daran ist die junge Frau verreckt.«

12

Geudel hob erschrocken die Brauen und erstarrte. An der Haustür hatte es geklingelt. Es war am Dienstag gegen Mittag. Geudel bereitete gerade eine warme Mahlzeit für die derzeit vier HausbewohnerInnen zu. Er legte das spitze Fleischmesser beiseite und linste um den Vorhang des Küchenfensters.

Es war Hoffmann. Na gut – der 38jährige war Geudels Nachfolger als Schulleiter und wohnte auf demselbem Gelände. Er steckte wie immer in einem gutgeschnittenen Anzug. Aber warum kam er ausgerechnet jetzt? Dann bemerkte Geudel die Röhre, die Hoffmann etwas verdächtig halb hinter seinem Rücken verbarg. Möglicherweise war das weder Schultüte noch Maschinenpistole – sondern ein Blumenstrauß! Jetzt fiel es Geudel wieder siedendheiß ein. Er hatte ja heute Geburtstag! Er selber, Geudel! 70 sogar! Eine runde Zahl, da mußte Hoffmann ja auftauchen.

Geudel überlegte blitzschnell, ob hier im Erdgeschoß vielleicht etwas Verdächtiges herumlag. Wohl kaum. Ein Büstenhalter auf einem Wäscheständer wäre natürlich peinlich gewesen. Dann gab er mit dem Besenstiel das vereinbarte Klopfzeichen nach unten, in den Keller. Es bedeutete: Wohl keine Polizei, aber ein Hindernis. Vorläufig nicht mucksen!

Es kam wie erwartet. Hoffmann wedelte ihm die furchtbaren, viel zu frühen Gladiolen unters Kinn; Geudel bat ihn herein.

»Aber nur für einen Augenblick, mein lieber Geudel! Schließlich bin ich im Dienst. Und ich weiß ja, Sie sind der geborene Eigenbrötler, von Feiern halten Sie nicht viel.«

Damit lag er allerdings richtig. Geudel pflegte zumal seinen eigenen Geburtstag seit vielen Jahren nicht mehr zu »begehen«. Er überging ihn vielmehr. Im jüngsten Fall hatte er ihn sogar seinen Mitverschworenen gegenüber verheimlicht, hätte es doch ihre heikle Mission nur noch mehr verkompliziert. Jetzt hatte er den Salat.

Verständlicherweise ließ sich Geudel nicht anmerken, daß er in seinem Wohnzimmersessel wie auf glühenden Kohlen saß. Er hatte jenen uns schon bekannten Kräuterschnaps eingeschenkt. Hoffmann, ein sportlicher, braungelockter ehemaliger Waldorfschullehrer, war keineswegs humorlos. Er erkundigte sich nach der Augusta, verspottete ein paar Kollegen, die den »akuten Gesundheitsrummel« zu ernst nahmen, und dergleichen mehr. Plötzlich deutete er auf die FAZ vom Vortag, die wieder bei Geudel im Wohn- und Arbeitszimmer lag.

»Was halten Sie denn von diesem allerjüngsten Schrei, der Entführung? Oder geht das an Ihnen vorbei?«

Mein Gott, dachte Geudel. Vor Schreck und Verlegenheit griff er erneut nach der Kräuterschnapsflasche. Hoffmann sagte nicht nein. Geudel trank ihm zu und kratzte sich hinterm Ohr. Schließlich entschloß er sich zu einem Achselzucken:

»Solche Dinger kommen ja nicht zum ersten Mal in der BRD-Geschichte vor, Herr Hoffmann. Damit müssen Staaten, die letztlich vorwiegend aus Gewalt gestrickt sind, eben leben. Um als Schiffer zu sprechen: Wer Wind sät, erntet Sturm …«

Hoffmann nickte. Ein glühender Verfechter des Kapitalismus war er noch nie gewesen. Er fragte:

»Sie nehmen also an, es ist ein politisches Ding? Keine Erpressergeschichte wegen hier ..?«

Dabei rieb er Daumen und Zeigefinger in der Luft. Geudel nickte nun ebenfalls. »Es hat wohl nicht ganz zufällig ausgerechnet den Gesundheitsminister getroffen. Diese Burschen – falls es Männer sind – möchten womöglich ein Zeichen gegen die unaufhaltsame Vorherrschaft dessen nennen, was Kees van der Pijl, Michael Schneider und ein paar andere, von 1968 her kommende BeobachterInnen die 'internationale Geheimdienst-, IT- und Medien-Oligarchie' nennen.«

Hoffmann nickte – diesmal auch durchs Wohnzimmer-fenster zu seiner Schule: »Das ist durchaus möglich, lieber Kollege. Denkt man an die Zukunft unserer Schützlinge, kann einem ja wirklich schlecht werden … Aber ich muß jetzt wieder hinüber. Man tut, was man kann.«

Hoffmann erhob sich, und Geudel geleitete ihn nicht ohne Dankbarkeit hinaus. Dann ging er in die Küche und griff zunächst zum Besenstiel.

13

»Bekanntlich haben wir Sie am Sonntag vormittag vor dem Jagdschlößchen eines echten Grafen und echten Großaktionärs aufgegriffen, Herr John. Wir konnten Sie ja schlecht in der Dahlemer Villa aufsuchen, die Sie erst kürzlich erwarben. Laut FAZ hat Sie die Villa über vier Millionen Euro gekostet, und das renommierte Blatt behauptet sogar, die Veröffentlichung dieser Summe sei nach einem jüngsten, von Ihnen angestrengten Gerichtsurteil noch nicht einmal strafbar. Aber der Besitz der Villa scheint es auch nicht zu sein. Man liest überdies, schon vorher hätten Sie günstig von Pharma-Managern oder -Lobbyisten ein paar Wohnungen erworben, die diesen Herrschaften oder Damenschaften wiederum zu von Minister John kontrollierten höheren Posten verhalfen. Noch früher, um 2010, waren Sie selber Mitinhaber einer erklärten Pharma-Lobby-Agentur. Der Wust der Verstrickungen liegt also auf der Hand. Warben Sie übrigens für Wahlkampf-Spenden, dann zufällig über genau 9.999 Euro, müssen die Spendernamen doch erst ab 10.000 preisgegeben werden. Was könnten das wohl für freigiebige Demokraten gewesen sein, Herr John? Hartz-IV-EmpfängerInnen doch wohl kaum?«

John biß die Kinnladen aufeinander. Man merkte, er suchte krampfhaft nach einer glänzenden Ausrede. Doch er fand keine.

»Es geht mir jetzt weniger um den Zug der Bereicherung, Herr John, vielmehr um den der starken Abhängigkeit. Ist es nicht offensichtlich, daß Sie sich aufgrund dieser Verstrickungen und Begünstigungen nur als Erfüllungs-gehilfe der kapital- und einflußreichen Kräfte erweisen können, von denen Sie, ganz wie eine Marionette, am Bändchen geführt werden?«

»So ein Unfug!« platzte John heraus. »Ich bin von vielen tausend freien Bürgern in den Bundestag gewählt und dann von einer gleichfalls gewählten Kanzlerin ins Kabinett berufen worden. Wollen Sie das etwa leugnen?«

»Ich nicht gerade, Herr John. Aber der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer tat es am 20. Mai 2010. Da plauderte er mit Erwin Pelzig, dem Chef einer beliebten Unterhaltungs-Sendung des ARD-Fernsehens, über Demokratie. Der hohe Politiker wirkte etwas resigniert. Und da Pelzig nicht locker ließ, rutschte Seehofer mit leicht verlegenem Lächeln das Eingeständnis heraus: 'Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt; und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.' Sobald Sie frei sind, können Sie das von Ihrem Pressesprecher nachprüfen lassen, Herr John.«

Der Gefangene spuckte zur Kamera hin aus, immerhin auf den Teppich- und Schallschutzboden seiner Zelle, und schien entschlossen zu sein, keinen Mucks mehr von sich zu geben.

»Ich glaube, wir können zum Schluß kommen, Herr John. Ich möchte aber Seehofers Einsicht unterstreichen, die eigentlichen MachthaberInnen in dieser deutschen angeblichen Republik seien nicht gewählt worden. Sie stehen auch nie zur Debatte. Sie besitzen wie ganz selbstverständlich alle wichtigen Produktions- und Propagandamittel unseres Landes, müssen sich aber nie dafür rechtfertigen. Meistens verdanken sie ihren Macht verleihenden Reichtum Erbschaften, Spekulationen oder kriminellen Machenschaften. Ihre 'Leistung' besteht vornehmlich darin, schon immer zu den Begünstigten, kurz zur 'Elite' zu zählen. Wir, die EntführerInnen, zählen nicht dazu – aber nun sind doch auch wir einmal 'kriminell' geworden …

Sobald sich die Behörden entgegen kommend zeigen, werden wir Sie freilassen, Herr John. Schlafen Sie erst einmal gut.«

14

Während sich Sommergut ziemlich ausgelaugt in Geudels Schlafzimmer begab, setzte sich Meike an Geudels Computer und fertigte in nur knapp zwei Stunden eine genau 63 Minuten langeVideo-Datei an. Sie lud sie auf einen Stick und versenkte diesen in ihrem Büstenhalter. Das war gegen 16 Uhr. Dann färbte sie sich mit einem rasch wieder löslichen Mittel die Haare, zog sich fesch an, aß noch einmal tüchtig und ließ sich von Geudel per Augusta nach Anklam bringen. Sie ging zu Fuß zum Bahnhof. Kurz nach 21 Uhr traf sie in Köln ein. Sie suchte das schon erwähnte, zu diesem Zeitpunkt gut besuchte »arabische« Internetcafe auf und verdrückte sich nach 15 Minuten wieder. Jetzt wurde das Video per Link zu einem Filehoster, wo es geparkt war, in einem sogenannten Sozialen Netzwerk angeboten. Selbstverständlich war es bald schon wieder gelöscht – nach rund 20 Minuten. Aber inzwischen hatten es bereits, neben der Kripo, Dutzende von interessierten Mitbürgern auf den eigenen Computer heruntergeladen oder gar auf die eine oder andere kritische Plattform gestellt. Dieser Vorgang war unmöglich aufzuhalten. Schon um Mitternacht war halb Deutschland von dem Video überschwemmt. Bei zahlreichen führenden Polizisten, Politikern und Journalisten tobten die Telefone. Meike fuhr mit der Bahn nach Berlin, um zur Abwechslung wieder einmal im eigenen Bett zu schlafen. Vorher ging sie allerdings noch bei Leiser vorbei, um ihm den Erfolg der Zellenarbeit zu melden und ihm den Stick in die Hand zu drücken. Der knutschte die Ärztin ab und machte sich mit dem Stick eine schöne Nacht.

15

Auch für den Ausgang der ganzen Unternehmung hatte sich der Club etliche »Szenarien« zurechtgelegt. Er war ja gar nicht abzusehen. Sommergut hatte sich sogar vorübergehend auf die bittere Notwendigkeit gefaßt gemacht, sich am Ende des Verhörs vor laufender Kamera zu erschießen. Aber dann schienen ihnen Johns Auslassungen doch geeignet, möglicherweise so manchen rebellisch gestimmten Kopf wachzurütteln und dadurch UnterstützerInnen des Clubs zu gewinnen. Im anderen Extrem hatte Sommergut einmal geflucht, er habe nicht die geringste Lust, den molligen Fuchs in ihrem Bau, im Verein mit Geudel, noch für Wochen oder gar Monate brav mitdurchzufüttern und auch noch wie ein staatliches Goldguthaben auf die lästigste Weise zu bewachen. Darauf hatte Geudel prompt den Einsatz eines mit Roten Kreuzen beklebten Wasserflugzeuges aus den Beständen der ehemaligen NVA erwogen, um den betäubten John in einer knappen Stunde nach Berlin zu bringen und kurzerhand an einem Bootssteg des Müggelsees abzuliefern. Das fand Meike jedoch, als Ärztin, unverantwortlich, als Kritikerin des Technischen Kollektivs, so einmal der Philosoph F. G. Jünger über die Haupttendenz seiner Zeit, schlicht unangemessen. Der Einsatz der Motorjacht sei schon schlimm genug gewesen. Stattdessen sagte sie bald darauf vorher, Sommergut habe sein Amt als »Gesprächsleiter« so überragend ausgeübt, daß es ihnen geradezu Wogen der Sympathie einbringen würde. Das schmeichelte ihrem Geliebtem natürlich. Und sie behielt sogar recht.

Wie sich versteht, waren jene Wogen von Empörung über die Verkommenheit der polit-ökonomischen Kaste getragen. So wurde Deutschland noch im Lauf der Woche von zahlreichen Demonstrationen und Massenver-sammlungen erschüttert. Einige Amtsgebäude brannten. Am Donnerstag riefen mehrere Gewerkschaften einen Generalstreik aus. Erste Polizei- und Armeeoffiziere erklärten, ihre Einheiten hätten kein Interesse daran, unter der Bevölkerung Blutbäder anzurichten. Schon am Freitag sah sich das Kabinett Merkel zum Rücktritt gezwungen; es schrieb »Neuwahlen« aus. Daneben versicherte sie an die Adresse der EntführerInnen, Herrn Johns Unversehrtheit vorausgesetzt, bis auf Weiteres auf Strafverfolgung zu verzichten. Daraufhin erschien Leiser mit Meikes Wagen auf Usedom und überführte den vorsichtshalber noch gefesselten Gefangenen ins Berliner Bundeskanzleramt. Die Willy-Brandt-Straße wimmelte von Fernsehleuten und Möbelpackern. Wie sich allerdings übers Wochenende zeigte, wünschten breite Massen gar keine »Neuwahlen«. Von altem Wein in neuen Schläuchen hatten sie die Schnauze voll. Sie wünschten Umsturz.

Geudel und Sommergut tanzten um Geudels Küchentisch und brachten dabei sogar die Flasche mit Kräuterschnaps ins Wackeln. Dann setzte sich Sommergut an den Computer, um eine Skizze eines »Sofortprogramms« vorschlagsweise gleichzeitig an mehrere kritische Internet-Portale zu schicken. Selbstverständlich hatte er sie längst in der Schublade gehabt. Der kluge Schriftsteller baut vor. Hier ist der Vorschag:

>>Der große Runde Tisch mit Vertretern antipande-mischer und antiparlamentarischer Kräfte bildet eine provisorische Regierung des Rhein-Oder-Bundes (ROB), wie Deutschland zukünftig heißt. Sie läßt sich in Kassel-Wilhelmshöhe nieder. Die ehemaligen Bundesländer werden sofort selbstständig und bilden Landesräte. Diese sind von den zukünftigen, aus Vertretern der neuen Grundorganisationen gebildeten Landesdelegiertenkonfe-renzen jederzeit abwählbar. Alle Landesräte erklären ihren Willen zur Direkten Demokratie und Eindämmung des verschwenderischen »westlichen« Lebensstils, somit auch zur Verkleinerung von Großstädten und des Verkehrsaufkommens, ferner von Fabriken, Behörden und so weiter. Die Stadtstaaten Bremen und Hamburg werden aufgelöst; Berlin wird allmählich gesundgeschrumpft. Das Privateigentum an Produktionsmitteln wird aufgehoben. Kasernierte Ordnungsmacht und Geld werden schlagartig abgeschafft, um Konterrevolution und Schiebung zu vermeiden. Die Eingangshallen von Banken werden Versammlungs- oder Verteilungssäle. Die Verteilung wird von den Räten aller Ebenen organisiert. Hier können sich auch ehemalige Berufssoldaten nützlich machen, zumal die leichten Waffen der Bundeswehr ohnehin gleichfalls an die Bevölkerung verteilt werden. Alle ausländischen »Sicherheitskräfte«, ihre Atomwaffen eingeschlossen, haben das Bundesgebiet unverzüglich zu verlassen. Austritt aus Nato und EU. Rußland wird um einen Beistandspakt ersucht. Alle führenden Amtsenthobenen dürfen zwar bleiben und sogar außerhalb der in Kürze geschlossenen Strafanstalten wohnen, aber ihre Konten und Pensionsansprüche werden über nacht gelöscht. Die meisten von ihnen dürften sich freilich verdrücken. Sollen sie nur.<<

Bleibt noch folgendes nachzutragen. Erasmus John beging bereits an jenem ersten Wochenende in Freiheit Selbst-mord. Damit war zu rechnen. Die vier EntführerInnen dagegen werden verständlicherweise gefeiert. Sie lehnen es allerdings ab, Posten in der Kasseler ROB-Zentrale zu übernehmen. Generalsekretärin des ROB wird die bekannte Kabarettistin Nele Schurznagel. Sommergut gelingt es durch den Umsturz endlich, sich von Berlin loszueisen und irgendwo auf dem Land niederzulassen. Vermutlich wird er dort Erinnerungen oder neue Vorschläge zu Detailfragen verfassen. Nebenbei bemerkt, dürfte er nach wie vor nicht ganz ungefährdet sein. So manche ausländischen Kräfte aus Regierungs- oder Agentenkreisen sehen eine Art Hans-Jürgen Krahl in ihm und würden ihn vermutlich nur zu gern aus dem Verkehr ziehen – beispielsweise durch einen »Autounfall« … Schlagen Sie Krahl doch einfach mal in meinem Lexikon der Frühverstorbenen nach.
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