Freitag, 11. März 2022
Zora packt aus
2022

I n h a l t — 1 Journalist — 2 Dachziegel — 3 Bogenschie-ßen — 4 Unterricht — 5 Villa Barac I — 6 Rebecca — 7 Villa Barac II — 8 Dubrina-Post I — 9 Geld zählen — 10 Nacht-schicht im RoKuGra I — 11 Duros Vater — 12 RoKuGra II — 13 Auf der Burg — 14 RoKuGra III — 15 Dubrina-Post II — 16 Mütze und Koffer



1

Jetzt gehe ich bereits auf die 100 zu. Ich werde immer älter, dafür wird die Welt immer verrückter. Dieses jüngste Theater mit der sogenannten Pandemie – das ist doch geradezu absurd. Der Journalist behauptet allerdings, es sei genial eingefädelt. Dazu traue ich mir kein Urteil zu. Der Kerl drängt sowieso die ganze Zeit, ich möge mich eher kurz fassen. Ich erzähle, er schreibts auf. Es soll ein ganzes Buch werden, wenn auch kein dickes. Er will auch Bilder oder Tatortskizzen abdrucken lassen. Er nennt das Werk heimlich Anti-Held.

1940, als wir unsere beiden Dinger drehten, war ich eine recht hoch aufgeschossene, geschmeidige 15jährige mit kastanienbraunem, meist struppigem Haar. Beide Fischzüge, in der Villa und im Kaufhaus, wurden nie aufgeklärt. Auf uns fiel noch nicht einmal ein Verdacht, so sorgfältig waren wir zu Werke gegangen. Trotzdem hatten wir uns vorsorglich noch im selben Jahr dünne gemacht, in die Schweiz. Da hätte uns so schnell keiner aufgespürt, denn wir hatten alle Fünf astrein gefälschte Papiere. Diese Übersiedelung war schon ein Witz für sich. Wir hatten sie als Schulausflug ausgegeben! Das wir dann dablieben – nur Janica, unsere »Lehrerin«, fuhr leider wieder heim – merkten diese AlphornbläserInnen bis heute nicht. Mit guten Papieren und viel Geld kommt man schon ziemlich weit.

Ich hatte bereits als Dreikäsehoch Geselligkeit geschätzt. Nun hatte ich im zurückliegenden Winter vier Streuner zwischen 12 und 14 Jahren aufgelesen und in meinem Häuschen einquartiert. Sie schliefen im Speicher, während ich das Zimmer meiner geliebten Mutter Marija übernommen hatte. Sie war drei Jahre früher gestorben. Damit war ich Vollwaise geworden, denn mein Vater Milan war schon zwei Jahre früher in Italien bei einem politischen Ding umgekommen. Ehrlich gesagt, geschah es ihm recht. Er hatte Marija wegen einer angeblich unglaublich feurigen Italienerin sitzen gelassen. Und Marija war so blöd gewesen, sich die Augen nach ihm auszuweinen. Zwei Jahre darauf fand ich sie starr auf dem Krankenlager ausgestreckt: kalkweiß und bereits erkaltet. Ich rannte zum Arzt. Der kam – und kritzelte »Schwind-sucht« auf den Totenschein, wie sich versteht, auf lateinisch. Dann hielt er ungerührt sein Samtpfötchen auf: 23 Dinar für die letzte Visite.

Wenn sich hier im Falle der Weiber die a's häufen, muß ich Sie übrigens um Nachsicht bitten: in Kroatien enden nahezu sämtliche weibliche Vornamen auf a. Meine männlichen Mitstreiter hießen Nicola, Pavle, Duro und Branko. Wir nannten uns bald »Berg-Club«, weil das Häuschen eben auf halber Höhe am Nordhang der Bucht von Zamir lag. Die Anspielung auf die Pariser »Jakobiner«, die sogenannte Berg-Partei, las erst Janica im Lauf des Sommers hinein. Dazu wären wir zu ungebildet gewesen.

Zamir hatte damals knapp 30.000 EinwohnerInnen. An unserem Hang wohnten nur Kleine Leute, aber sie hatten doch wenigstens ihr eigenes Häuschen. Die Häuschen klebten fast wie Schwalbennester am Berg. Sofern es nicht gerade wie aus Kübeln goß, hatten wir vom Küchenfenster aus, wo wir oft saßen, die ganze Bucht von Zamir und die halbe Adria im Blick. Noch mit 14 war ich entschlossen gewesen, Piratin zu werden. Doch dann kam ich auf den Trichter mit dem Bogenschießen, der Gymnastik, dem Tanzen und so weiter und änderte meine Pläne. Allerdings kosteten sie Geld. Und genau das besorgten wir uns dann.

An jenem Freitag im Mai, als mich Mutter Kostelić um Beistand bat, goß es in der Tat wie aus Kübeln. Ich will den harmlosen Vorfall ein wenig ausbreiten, weil ich ihm einen bedeutenden Anstoß für das Kaufhaus-Ding verdankte, das wir dann erst im August drehten, nachdem wir den schwarzweiß gefleckten Hüter der Fabrikantenvilla erledigt hatten.



2

Zunächst vernahm ich nur Mutter Kostelićs aufgeregte Stimme. »Zora! Zora!« rief sie. Aber da hüpfte sie auch schon über den Rinnstein auf unserer Gassenseite, wie durchs Abortfensterchen zu sehen war. Die rundliche, grauhaarige Frau hatte einen mächtigen Regenschirm aufgespannt. Jetzt klappte sie ihn zusammen, um mit seiner Spitze auf die Haustür zu trommeln. Mein Elternhäuschen besaß zur Gasse hin ein schmales Vordach in der Breite des herausspringenden Aborts. In diesem saß ich damals gerade.

Da das Fensterchen ohnehin aufstand, rief ich hinaus: »Kann ich wenigstens noch zuende pinkeln, Mutter Kostelić?«

»Ja, ja, sicher, mein Kind – aber bei mir regnets rein! In der Küche, durch die Decke. Kannst du mal gucken? Jakov ist nämlich nicht da! Na, Gott sei Dank, er ist auf Arbeit.«

»Prima«, erwiderte ich. »Bin gleich fertig! Vielleicht kannst du mich mit unter den Schirm nehmen.«

»Selbstverständlich, mein Täubchen! So dick bin ich nun auch wieder nicht.«

Jakov, um 30, war Mutter Kostelićs Sohn. Er trank gern und mußte sich gelegentlich davon erholen. Zu jener Zeit hatte er einen geruhsamen Posten in einem Lager am Hafen. Er wohnte mit seiner Mutter just auf der Hafenseite schräg gegenüber von uns. Und in der Tat, sie hatte nicht übertrieben: es tropfte mitten in Mutter Kostelićs Küche. Sie hatte bereits einen Waschzuber hingestellt. So stieg ich gleich nach oben. In Jakovs Dachstube konnte es nicht sein. Deshalb tauchte ich in den Gerümpelspeicher. Die beiden Fensterchen in der Giebelwand und im Dach waren sogar geschlossen, und sie schienen auch dicht zu sein. Aber dort tropfte es. Es war eine Armlänge von dem schrägen Dachfensterchen entfernt. Ich erblickte eine alte Kommode, rückte sie herbei und besah und befühlte die Stelle. Offenbar war eine Dachziegel gesprungen.

Mutter Kostelić stand bangend am Fuß der Treppe. Ich klärte sie von oben her auf. »Das könnte die Bora gewesen sein, letzte Woche, wie du dich wohl noch erinnern wirst. Ist euch da vielleicht etwas aufs Dach geflogen?«

»Ja, genau, ein dicker Ast, Jakov hat ihn heruntergeholt und gleich zu Brennholz gemacht.«

»Na prima«, spottete ich, »er hätte auch gleich die Dachziegel austauschen können, der Tölpel!«

Leider mußte Mutter Kostelić bekennen, sie hätte wohl Kaffee und Zucker im Haus, dagegen nicht eine überzählige Dachziegel. Was also jetzt?

Erfreulicherweise war ich trotz meiner armseligen Jugend nicht auf den Kopf gefallen. Ich wies Mutter Kostelić an, schon einmal die Leiter aus dem Schuppen zu holen, während ich selber mitsamt dem Regenschirm zurück in mein eigenes Häuschen eilte, um gleich dreierlei zu holen: eine regensichere Öljacke, die Spindel mit der dicken Wäscheleine und meinen Dauergast Nicola. Die drei anderen Jungs waren im Augenblick nicht an Bord. Den kleinen, wieseligen Nicola mußte ich erst einmal wecken, weil er auf dem Speicher ein Schläfchen machte. Gewiß war er nicht annähernd so kräftig wie Pavle, aber ich hatte mir auf der Gasse überlegt, man könnte vielleicht den Schornstein zur Hilfe nehmen. Nun setzte ich den schlaftrunkenen Nicola ins Bild und bat ihn, gleichfalls eine Regenjacke anzuziehen. Er wurde schlagartig hellwach, weil offensichtlich ein Abenteuer winkte. Unter-dessen tobte ich selber durchs Haus, um die verdammte Wäschespindel zu finden. Sie hing im Holzschuppen an einem alten Kleiderhakenbrett. Mit ihr und Mutter Kostelićs diesmal eingeklapptem Regenschirm liefen wir jetzt gemeinsam zu der von Naturgewalt heimgesuchten Nachbarsfrau.

Wir lehnten die Leiter zunächst an der Hausecke an. »Es geht nicht anders, Mutter Kostelić«, sagt ich, »aber hier fällt es einstweilen nicht weiter auf.« Dabei löste ich die unterste Dachziegel aus der äußersten Reihe und übergab sie Nicola, der unter mir auf der Leiter stand. Mutter Kostelić hatte den Regenschirm wieder aufgespannt und verfolgte alles ganz genau.

Nun lehnten wir die Leiter in Höhe des Lecks an die Dachrinne und kletterten mitsamt Ziegel und Wäschespindel aufs Dach. Ich weiß noch, ich mahnte uns beide wegen der Rutschgefahr zur Vorsicht. Dann band ich mir die Wäscheleine um. Jetzt mußte Nicola bis zum Dachfirst krauchen, um die Leine um den Schornstein führen zu können. Das schaffte er locker. Als er mit der Spindel zur Leiter zurückkehrte, spannte er die Leine. Dadurch war ich gesichert. Ich kroch zu dem Leck, lockerte mehrere Ziegeln und tauscht das gesprungene Stück aus. Es dauert keine zwei Minuten, bis alles wieder zurechtge-rückt und damit regendicht war, wie wir jedenfalls beide hofften. Mutter Kostelić rief »Bravo!« und eilte ins Haus.

Als wir ebenfalls in der Küche eintrafen, hatte das Tröpfeln schon deutlich nachgelassen. Mutter Kostelić strahlte über alle vier Backen und fuhr echten Bohnenkaffee zu der Resttorte auf, die sie noch von Jakovs Geburtstag übrig hatte. Nicola hieb rein, als sei er eher ein Braunbär als ein blondes Wiesel. Gewiß war auch ich gehobener Laune, nur mußte ich den entscheidenden Grund dafür leider einstweilen für mich behalten. Ich habe ihn ja bereits angdeutet.

Der Journalist mault, das sei keine Pointe. Weil man ja das Kaufhaus-Ding noch gar nicht kennt. Na gut, sage ich, dann nehmen wir etwas anderes. Rund 10 Jahre später, um 1950, teilte mir Danilo auf einer Postkarte wieder einmal mit, in meinem Häuschen sei alles in Ordnung, nur schräg gegenüber, bei den Kostelićs, fehle am Dachrand links unten eine Ziegel … Ja, richtig, Schlafmütze Jakov hatte nicht im Traum daran gedacht, passende Ziegeln zu besorgen und die Lücke zu schließen, die ich zu verantworten hatte.



3

Mein Onkel und Vormund Danilo war Tischlermeister. Er krebste mit seiner Werkstatt ziemlich herum, weil er der Konkurrenz nicht Herr wurde und außerdem Politik machte. Für eine kleine, randständige Partei, die wohl der deutschen USPD aus der Zeit des Ersten Weltkrieges ähnelte, saß er sogar im Stadtrat – wenn auch nur »zähneknirschend«, wie er meinen Mitstreitern vom Club einmal versichert hatte. Jedenfalls ließ er mir alle Freiheiten, und was das Wichtigste war: er baute mir einen Bogen. Er hatte ihn Schicht für Schicht aus flachen Eschenhölzern zusammengeleimt. Esche ist zäh und biegsam zugleich. Der Bogen war nur geringfügig länger als ich, entwickelte jedoch eine beachtliche Durchschlags-kraft. Meine Zielscheibe aus kreisförmig geflochtenen Strohzöpfen ähnelte bereits einem Schweizer Käse. Aber ich konnte ja schlecht ein Brett aus Pappelholz dahin-stellen. Damit hätte ich nur einen der vielen Vorteile dieser Waffe zunichte gemacht, die Lautlosigkeit.

Zum Training im Bogenschießen ging ich immer allein. Für mich zählte es sowieso eher zur Meditation. Deshalb durften die Jungen auch nie in mein Zimmer platzen, wenn ich etwa Gymnastik betrieb oder jonglieren übte. Mein Schießplatz lag noch höher als mein Häuschen. Es handelte sich um eine verwaiste Gartengaststätte mit Kegelbahn. Das Schankgebäude war neulich abgebrannt, aber die Kegelbahn nicht. Wie sich versteht, hing eine Kette mit Vorhängeschloß am Eingangstor. Umso besser, da wurde ich nicht so leicht gestört. Ich schlüpfte stets von hinten auf das von alten Kastanien beschattete Grundstück. Durch ein Fenster in die Kegelbahn gestiegen, pellte ich meinen wertvollen, als Angelrute getarnten Bogen aus der länglichen Segeltuchtasche und legte los.

In wenigen Monaten hatte ich meine Treffsicherheit um viele Meter gesteigert. Das heißt, ich ging immer weiter zurück, bis ich die Scheibe, und oft sogar die Mitte, aus bald 40 Meter Entfernung traf. Viel weiter konnte ich das allerdings nicht mehr treiben, denn die Kegelbahn war bloß 53 Meter lang. Aber für den schwarzweiß gefleckten Leibwächter der alten Schachtel, die drüben am Südhang in ihrer riesigen Villa thronte, würde das schon reichen. Der Südhang lag auf der anderen Seite der Bucht. Dort schloß sich auch der fruchtbare Küstenstreifen mit Karamans Gutshof und Äckern an, wo wir gern Gemüse klauten. Das konnten wir streckenweise mit Beobachtungsaufgaben an der Villa Barac verbinden, wobei wir allerdings immer nur einen hinschickten, der sich selbstverständlich versteckte oder wenigstens unauffällig verhielt. Karaman hieß überall »der reiche Karaman«. Zwei Wochen vor unserem Einbruch in die Villa gab es sogar echten, knusprigen Hasenbraten zu Karamans Gemüse, weil ich auf angeblicher Angeltour an der Dubrina einen Feldhasen aufgescheucht und tatsächlich erlegt hatte. Es war mein erster Volltreffer, der mir viel Selbstvertrauen gab. Auf dem Markt am Hafen hätte er sicherlich 50 Dinar gekostet. Schon ein Karpfen ging damals kaum unter 10 Dinar weg. Der Journalist meinte, möglicherweise habe der Feldhase gerade der »Schonzeit« unterlegen – aber ich bitte Sie! Woher hätten wir das wissen sollen? Heute guckt der Journalist kurzerhand ins Internet, und rumms! hat er über »Schonzeit an der kroatischen Küste« 20.000 Treffer …

An jenem Tag des Dachdeckens bei Mutter Kostelić hörte es nachmittags zu regnen auf. Da ging ich sofort noch zum Bogenschießen. Als meine Arme schon nach einer halben Stunde erlahmten, fischte ich vorm Verstauen des Bogens Duros Feldstecher aus dem Futteral, hängte ihn um meinen Hals und schlich nach nebenan zur Ruine des Schankgebäudes. Ich fieberte nämlich schon fast aus Bedürfnis nach Klarheit. Duro hatte den Feldstecher einmal einem königlich bestallten Forstmeister entwendet, falls er nicht log. In dieser Hinsicht war man bei dem schlaksigen, sommersprossigen Rotschopf, übrigens unser einziger, leider nicht immer ganz sicher. Aber ich nahm an, er würde niemals zum Verräter werden, das war das Wesentliche. Wir konnten uns in unserem »Berg-Club« keine undichte Stelle leisten, sonst saßen wir alle im Knast – möglicherweise in dem in Split, aus dem Duro im vergangenen Herbst, damals auch erst 13 Jahre alt, entwichen war. Wenn wir schon einmal dabei sind: Der hübsche schwarzgelockte Branko war zufällig Vollwaise wie ich, bezog jedoch keine Rente. Er sah aus, wie man sich einen Zigeunergeiger vorstellt, nur fehlte ihm die Geige. Er wollte unbedingt Musiker werden. Bei Nicola und Pavle lagen die Dinge einfacher: sie waren beide schlicht durchgebrannt, weil sie zu Hause, irgendwo im Landesinneren, unablässig schikaniert und auch verprügelt wurden. Dabei war der stämmige Pavle ein wahrer Brocken von Bub, gleichwohl immer mild und versöhnlich gestimmt. Jetzt hatte er sich freilich vorgenommen, seine häusliche Unbill wenigstens dem Geldbriefträger im RoKuGra heimzuzahlen. Pavles Alter war nämlich der Postmeister seines Dorfes.

Damit bin ich wieder beim Thema. Ich stand an einer Fensterhöhle des Schankgebäudes und nahm die Gegend am Domplatz aufs Korn. Aha, da war es ja schon, das geheiligte RoKuGra, der mächtige, vorn fast vollständig verglaste, fünfstöckige Tempel des Konsumrausches. Ausgeschrieben, hieß die Stätte robna kuća građanke, auf deutsch »Kaufhaus des Bürgers«. Sie lag in der nördlichen Häuserzeile der Laurentius-Gasse, die vom Hafen zum Domplatz führte. Und tatsächlich: sowohl das Kaufhaus selber wie das nahtlos sich anschließende östliche Nachbarhaus waren, gerade so wie Mutter Kostelićs bescheidenes Häuschen, schlicht und solide mit Ziegeln gedeckt!

Zugegeben, auf dem Heimweg surrten mir beide nicht ganz salonfähigen Pläne, mit denen ich mich seit Wochen trug, etwas wirr durch den Kopf. Hoffentlich verwechselte ich nichts. Erst einmal kam ja sowieso die alte Schachtel dran. Das Zamirer RoKuGra beging den Festtag seines 10jährigen Bestehens ohnehin erst an einem sogenannten »verkaufsoffenen« Samstag im August. Da würden die Kassen überquellen wie die Dubrina bei Sturmflut. Aber es war halt ein dickes Ding, und ich hatte mir überlegt, es sei leichtsinnig, es ohne mittelschwere Vorübung in Angriff zu nehmen. Dafür war die Fabrikantenvilla wohl das Richtige. Sie wurde ganz allein von der betagten Witwe Ružica Barac bewohnt. Ihre Dienstboten kamen nur über Tage. Schlafbesuch empfing sie anscheinend nie. Und von daher kam es wahrscheinlich auf eine bestimmte Nacht gar nicht an. Dennoch war grundsätzlich Eile geboten, weil einem die alte Schachtel schließlich jederzeit unter den Augen wegsterben konnte. Dann standen im Nu ihre Erben auf der Matte, und aus war der Traum. Deshalb nahm ich mir vor, im Club den Beschluß zu erwirken, die Sache bereits am Beginn der kommenden Woche durchzuziehen. Ich durfte nur nicht vergessen, einen Mitstreiter kurz vorher auf den Wetterbericht anzusetzen. Bei strömendem Regen sind Einbrüche immer Käse.

Als ich heimkehrte, war Janica schon vom Hafen heraufgekommen. Ich fiel ihr um den Hals. Wir hatten am nächsten Tag erst einmal »Schule«, und Janica pflegte an unseren Unterrichtstagen meistens schon am Vorabend anzureisen und auch erst am übernächsten Tag wieder heimzufahren. Das bedeutet, sie verbrachte diese Besuche ausgiebig in meinem Bett, waren wir doch seit einigen Monaten ein Liebespaar. Meine Mitstreiter hatten anfangs zwar etwas lange Gesichter gemacht, aber sie freundeten sich rasch mit meiner »Andersartigkeit« an. Vielleicht erhöhte diese sogar den Reiz des Unterschlupfs bei mir. Sie gierten nach allem, was »interessant« war, und darunter verstanden sie inzwischen sogar den ungefähr wöchentlichen Unterricht, den uns Janica erteilte. Sie hatte unterschiedliche freie Tage und kam deshalb auch etwas unregelmäßig. Aber auch das war ja wieder »interessant«.

Janica wohnte und arbeitete in Senj, einem Küsten-städtchen, das rund 25 Kilometer nördlich von Zamir lag. Es wird Sänni ausgesprochen, mit einem kurzen i. Es gab eine Küstenschifflinie zwischen Rijeka und Zamir, die auch von Janica gern benutzt wurde, wenn sie mich besuchte. Sie war eine Kusine von Danilo, in der Gesinnung freilich erfrischend radikaler als er. Irgendjemand hatte sie auf dem Lehrerseminar auf den Geschmack an anarchisti-schem Gedankengut gebracht. Ja, ironischerweise verdiente sie ihren Lebensunterhalt tatsächlich als Lehrerin. Sie war an einer Grundschule in Senj angestellt. Dabei fand sie schon die Grundschulen doof. Darin stimmten wir alle ohne Zweifel völlig überein: die kirchlichen oder staatlichen bürgerlichen Schulen waren grundsätzlich ein einziger übelriechender Mist. Gott sei Dank gab es damals, Ende der 1930er Jahre, im sogenannten Königreich Jugoslawien noch keine Schulpflicht. Meine Eltern hatten mir mit Müh und Gewissensnot die Grundschule der Katholen bezahlt, und dann war die Qual für mich vorbei gewesen. Freilich kam bald darauf die nächste, weil ja meine geliebte Mutter Marija starb. Der Journalist äußerte behutsam den Verdacht, Janica sei vielleicht zu einem gewissen Teil ein »Mutterersatz« für mich gewesen. Das mag schon sein. Aber sie war auch ein Vulkan, was man ihr gar nicht ansah. Gegen mich mit meinen eher kleinen, wenn auch ziemlich kecken Brüsten gehalten, konnte man sie beinahe üppig nennen. Aber sie bewegte sich unverkrampft, und sobald sie ihre dunkle Lockenpracht warf, was oft geschah, glaubte man gern, daß sie lieber mit einem Pferd als mit dem Schiff gekommen wäre. Ein eigenes Pferd konnte sie sich allerdings nicht leisten.

Inzwischen ist mir eine bestimmte Rechenstunde mit Janica eingefallen. Bevor ich davon erzähle, will ich jedoch kurz mitteilen, wie arm oder reich ich selber war. Meine monatliche Waisenrente betrug 584 Dinar. Die holte mir Danilo immer auf der Post ab. Der Journalist vermutet, im damaligen Deutschland wären das wahrscheinlich keine 60 Reichsmark gewesen. Von sowas konnte sich schon ein Mensch kaum über Wasser halten – und nun war unser Club bereits um vier arme Schlucker angewachsen, die nicht einen müden Para in der Tasche hatten. Wie sich versteht, bohrte Janica in dieser Frage wiederholt bei mir nach, doch das verstand ich stets abzuwiegeln. Wir brauchten nicht viel, beteuerte ich, und bei Curcin, dem nahegelegenen Bäcker, bekämen wir ja freundlicherweise regelmäßig altes Brot oder alten Kuchen völlig umsonst. Ich nahm natürlich an, Janica könne sich schon denken, daß wir manche andere Sachen kurzerhand stahlen, wenn auch nie bei armen Leuten. In dieser Hinsicht verkniff sie sich freilich das Nachbohren. Dazu meinte sie später in der Schweiz mit neckischem Achselzucken: »Was eine nicht weiß, macht sie nicht heiß …« In Wahrheit war ihr natürlich öfter ganz mulmig geworden, sobald sie in längeren Zeiträumen dachte. Was sollte aus diesen Kindern werden? Jetzt halfen sie einander und kauten eifrig an ihren Bleistiftenden, aber ohne gesellschaftlichen Umsturz würden sie wohl früher oder später allesamt unter die Räder kommen. Außer Zora vielleicht. Doch wo sollte der Umsturz herkommen? Von der (faschistischen) Ustascha vielleicht, die immer stärker und frecher wurde? Oder von Väterchen Stalin vielleicht? Der hatte unlängst mit dem deutschen Brüller einen »Nichtangriffspakt« geschlossen – und bald darauf hatte er die Horden des Brüllers auf dem Hals.



4

In der besagten Rechenstunde übten wir Malnehmen und Teilen. Jeder von uns hatte ein Schulheft, und manche Dinge schrieb Janica mit Kreide an eine Schiefertafel, die immerhin so groß wie ein geräumiges Tablett für Geschirr war. Die hatten wir bei einem Trödler gegen eine gemopste kleine Statue aus Metall eingetauscht. Die Statue zeigte einen ekelhaften Engel mit einem Schwert und zwei Flügeln. Sie hatte auf dem Friedhof die Grabstätte eines Obergerichtsrates Soundso geziert.

Das Malnehmen und Teilen lief ganz gut, und gegen Mittag, als Janica durchs Küchenfenster nach dem Sonnenstand sah, meinte sie aufmunternd, jetzt könnten wir auch noch schnell den »Dreisatz« durchnehmen. Anschließend gäbe es echte heiße Schokolade, also welche mit Milch oder gar mit Schlagsahne. Sowas in der Richtung hatte Janica nämlich in unseren Keller gestellt, wo es schön kühl war.

Da Pavle den Tabakfabrikanten Barac erwähnt hatte – selbstverständlich unverfänglich – griff Janica diesen prominenten toten Mitbürger für ein Beispiel auf. »Wenn Barac mit 17 Arbeitern oder Arbeiterinnen, sagen wir, 400 Zigarren pro Tag herstellt – wieviel würde er dann mit 24 Leuten schaffen?« wollte sie von uns wissen.

Da grübelten wir alle, mich eingeschlossen. Nicola kam zuerst auf den Trichter. »Ich glaube«, krähte das blonde Wiesel, »da muß man erst einmal gucken, wieviel ein Arbeiter schafft – kann das sein ..?« Und weil Janica erfreut nickte, fuhr er lässig fort: »Also zack! 400 durch 17 teilen.«

Janica klatschte, während er sich mit stolzgeschwellter Brust auf der Eckbank am Küchentisch zurücklehnte und uns mit huldvollen Handbewegungen aufforderte, diese Dividierung jetzt gefälligst vorzunehmen.

»Ich werde dich für eine Professur an der Zagreber Technischen Hochschule vorschlagen«, sagte Janica.

Pavle grinste. »Da muß er aber eine Leiter nehmen, wenn er seinen … seinen Dingsbums erklimmen will. Wie heißt das Dingsbums doch gleich ..?« Schon grinste er nicht mehr.

»Lehrstuhl«, sagte Janica. »Er kriegt einen Lehrstuhl und täglich drei Zigarren.«

Dann wurde sie aber wieder ernst. »Dreisatz heißt also, es bedarf eines Zwischenschritts. In diesem ermitteln wir zunächst, wieviel ein Arbeiter schafft, durch Teilen, wie Nicola schon erkannt hat, und dann nehmen wir das Ergebnis mal 24, schon wissen wir, wieviel Zigarren Barac mit sieben Leuten mehr herstellen könnte.«

So verfuhren wir dann. Wir kamen auf ca. 23,5 Zigarren bei einem Arbeiter und 564 Zigarren bei 24 Leuten.

Aber hier hakte Duro ein. Er hatte schon wiederholt mißbilligend seinen Rotschopf geschüttelt. Er meinte bedächtig, so einfach wäre die Sache doch gar nicht. Weil die Leute nicht gleich wären. Es gebe schließlich Frauen und Männer, Gelernte und Ungelernte, Starke und Schwache, Schlaue und Strohdumme und so weiter. Die lieferten doch alle unterschiedliche Arbeitsergebnisse. Wie könne man sie dann alle über einen Kamm scheren?

Diesen Einwand fand Janica sehr gut. Er erinnere sie an einen Anarchisten vom Lehrerseminar, der wiederholt gegen den »Gleichheitsfimmel« der Sozialisten oder der Kommunisten gewettert hätte, und zwar genau mit demselbem Argument wie Duro. Wir seien ja gar nicht gleich. Und wir wollten es auch nicht sein. Nur die Kommunisten und natürlich auch die Tabakfabrikanten wünschten Gleichschritt, weil er sowohl das Herrschen wie das Geldverdienen sehr erleichtere. »Sie schaffen einfach einen imaginären Durchschnittsarbeiter, und mit dem rechnen sie … Allerdings führt uns das gleich noch zu einem anderen wichtigen Aspekt, wie ich sehe: der Abstraktion. Seid ihr noch aufnahmefähig?«

Pavle machte »Puuh!«, wodurch er oben Luft ausstieß, und rieb sich verzweifelt die Stirn. »Imaknär … Aspeck … Abtrakton … Hast du noch mehr solche Dinger ..?!«

Dadurch überzogen sich Janicas Wangen mit leichter, verlegener Röte, was mir dieselben immer besonders küssenswert machten. Sie entschuldigte sich sofort und erklärte:

»Das Imaginäre ist das Eingebildete, Unwirkliche. Den Aspekt sollte ich wirklich vergessen: er meint einen Gesichtspunkt. Die meisten Dinge oder Probleme haben zwei oder mehr Gesichtspunkte, sodaß sie auch entsprechend unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden können. Barac zum Beispiel würde Pavle vor allem als bärenstarken, billigen Lagerarbeiter ansehen; Zora dagegen eher als Meisterdetektiv, habe ich recht ..?«

Das bestätigte ich natürlich. Pavle sonnte sich jetzt in seiner jähen Bedeutung. Aber Janica fuhr fort:

»Bleibt noch die Abstraktion … Eigentlich ähnelt sie dem Imaginären, wenn ich mich nicht irre. Jedenfalls läßt sich ein abstraktes Ding nicht anfassen. Es ist bloß ein Gedankending. Es dient uns zu Zusammenfassungen oder Verallgemeinerungen, die freilich oft den Tatsachen oder gar den Menschen wehtun. Siehe jenen Durchschnitts-arbeiter. Den hat noch keiner gesehen. Aber die Vorgaben, die mit seiner Hilfe gesetzt werden, drücken viele von uns.«

Janica blickte erneut nach der Sonne. Die hatte sicherlich schon den Zenit überschritten. Vielleicht würde sie der Adria in einigen Stunden wieder einen roten Hut aufsetzen.

»Eine weitere fragwürdige Abstraktion ist die Zeit«, schimpfte Janica. »Hat sie einer von euch schon einmal getroffen und gesprochen ..?«

Nicola blickte unwillkürlich über Brankos dunklen Lockenkopf hinweg an die Wand neben der Küchentür. Dann lächelte er verschmitzt. »Guck mal nach, was sie macht, Branko, und grüß sie von mir ..!«

Branko gehorchte aufs Wort. Er schob seinen Stuhl zurück und ging zu der Wanduhr, die neben der Tür hing. Sie war aus Porzellan und zeigte 17 vor 11. Er nahm sie vom Haken, wobei ihm seine Länge zugute kam, und beäugte ihre Hinterseite. Dann verkündete er in jämmerlichem Tonfall:

»Ich glaube, es geht ihr beschissen. Die Batterie scheint leer zu sein.«

Alles lachte. Selbstverständlich wußte jeder, meine Wanduhr stand seit vielen Monaten. Wir hatten einfach kein Geld übrig für solch einen Luxus wie eine Batterie. Doch wer wußte es, das konnte schon in einigen Tagen oder Wochen anders aussehen. Dann würden wir der Wanduhr einen ganzen Sack voll Batterien vor die Füße werfen.



5

Der erste Tote bei unserem Ding in der Villa Barac fiel bereits an, als wir den Einbruch noch gar nicht in die Wege geleitet hatten. Es war eine junge Frau. Sie hatte sich im Februar auf dem Markt am Hafen in unseren Branko verguckt. Damit komme ich zu der sowohl glücklichen wie tragischen Vorgeschichte der Unternehmung. Josipa war bei Frau Ružica Barac Dienstmädchen. Wie alle Bediensteten der alten Schachtel wohnte sie außerhalb der Villa. Mit Branko kam es zu einigen Stelldicheins. Dabei erzählte sie unserem zukünftigen Geiger von einem Vorfall, der ihn hellhörig machte. Neulich war sie pünktlich zum Dienst erschienen, doch Frau Barac war noch nicht da. Josipa ging nach hinten, um schon einmal die Terrasse zu fegen. Dann fuhr das Taxi vor. Frau Baracs Frisör hatte vielleicht getrödelt. Aber sie stieg erst nach einem kleinen hysterischen Anfall aus dem Taxi. Josipa hatte hurtig ein Ohr um die Hausecke gebogen. Wie es aussah, hatte die alte Schachtel beim Frisör ihre Handtasche vergessen! Der Taxifahrer kannte die steinreiche Witwe natürlich und beruhigte sie. Das Geld hätte Zeit. Er fahre gleich beim Frisör vorbei, stelle die Handtasche sicher und bringe sie ihr. Dann könne sie immer noch bezahlen. Das war natürlich ein glänzendes Zusatzgeschäft für ihn. Sie ging dankbar darauf ein, er verschwand. Als er außer Sicht war, ging sie aber nicht etwa zur Haustür, sondern zu ihrer Dogge! Das war ungewöhnlich. Ihr schwarzweiß geflecktes Kalb, eine sogenannte Dänische Dogge, winselte stürmisch vor lauter Freude, als sie den Zwinger betrat. Der Zwinger aus Maschendraht war an die südliche Gartenmauer gebaut, stand sonst aber frei. Deshalb konnte Josipa alles genau verfolgen. Sie sah, wie sich Frau Barac vorsichtig umblickte, ehe sie in die Hütte des Kalbs griff. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie ein Schlüsselbund in der Hand! Jetzt konnte sie zur Haustür tippeln und sie öffnen. Offenbar lag ihr eines Schlüsselbund in der vergessenen Handtasche – und das andere war ein Ersatz für Notfälle. Das sagte sich sogar Josipa selber mit einer gewissen Gedankenschärfe. Nun wußte aber Branko, daß Frau Barac auch einen Wandtresor hatte, im Wohnzimmer. Josipa hatte ihm schon früher erzählt, wie sie ihn einmal in ihrem Beisein geöffnet habe, um sie entlohnen zu können. Das hatte sie mit Hilfe eines Schlüssels getan, der an ihrem üblichen Schlüsselbund schaukelte! Das war zunächst einmal alles.

Einige Tage später überzeugte ich mich persönlich von den Verhältnissen in der Hundehütte. Das ging leider nur nachmittags. Nachmittags pflegte Frau Barac nämlich ihren Englischen Tee einzunehmen – und zwar stets gemeinsam mit ihrer Dänischen Dogge, die sie zu diesem Zwecke ins Haus holte. Sie tranken ihren Tee natürlich im Salon, und der ging auf die Terrasse. Vom Salon aus konnte man den Zwinger nicht sehen. Also schlich ich hinein, tastete die Innenseite der vorderen Hüttenwand ab – und siehe da, dort stand ein Nagel heraus, an dem das Ersatzschlüsselbund hing. Als ich es näher musterte, erkannte ich auch den dünnen Safeschlüssel, der deutlich aus dem Bund herausstand. Ich fand dieses Versteck beinahe »genial«, und meine Mitstreiter fanden das auch. Selbstverständlich hängte ich das Schlüsselbund ordnungsgemäß zurück.

Das Problem war allerdings Josipa. So dumm war sie ja nicht, und deshalb stand zu befürchten, sie werde sich nach dem Einbruch bei der Kriminalpolizei verplappern oder werde uns – beziehungsweise Branko – sogar mit Absicht und Wonne verpfeifen. Dazu muß man wissen, daß Branko nicht so richtig auf sie anbeißen konnte. Sie redete ihm zuviel – vor allem von »Liebe« … Dadurch löste sich das Problem tragischerweise von allein. Josipa ließ sich nämlich prompt von einem flotten Handwerksburschen verführen. Das war Anfang März. Und als sie entsetzt merkte, schwanger zu sein, brachte sie sich um. Das war Ende April. Man fischte sie aus der Dubrina.

Selbstverständlich waren wir alle schockiert. Aber nur Branko griff in seiner Trauer und in seiner Wut zu einer recht ausgefallenen »Rationalisierung«, wie man heute dazu sagen würde. Er zischte, die alte Schachtel hätte Josipa auf dem Gewissen! Hätte Ružica Barac nicht ihrem »Nonnen-Tick« gefrönt, nämlich die riesige Villa ganz allein zu bewohnen und ihren Bediensteten noch nicht einmal eine Dachkammer oder einen Hängeboden zu gönnen, wäre die Sache mit dem Sattlergesellen niemals passiert. Denn einen männlichen Besucher hätte Josipa niemals an der Witwe vorbei in ihr Bett schmuggeln können! Da mußte ich wirklich kichern. Auf die Idee, der Sattlergeselle hätte sie in diesem Fall auf dem nächsten Heuboden gevögelt, kam er nicht.

Ich darf mich allerdings nicht zu sehr spreizen, weil ich bei unseren Erörterungen über den Einbruch, der uns vorschwebte, eine wichtige Sache glatt übersah. Dadurch standen wir vor dem nächsten Problem. Hier kam der rettende Einfall erst von Duro – und nicht etwa von mir, der heimlichen »Chefin« unseres Clubs.

Ich hatte meinen Mitstreitern folgenden groben, in der Tat recht simplen Plan unterbreitet. Wir nähern uns ungefähr nachts um Zwei der südlichen Gartenmauer. Zunächst gilt es, den Köter stumm zu machen. Zu diesem Zwecke nähere ich mich auf der Mauerkrone seinem Zwinger. Sobald er zu knurren anfängt und natürlich aus seiner Höhle kriecht und sich erhebt, setze ich ihm einen Pfeil in die Seite, der ihn sofort zusammenbrechen läßt. Sollte er es noch wagen, ein bißchen zu jaulen, gebe ich ihm mit meinem Messer den Rest. Dann schnappe ich mir natürlich das Schlüsselbund und eile zur Haustür … Bei solchen Dingern ist fast immer das Wichtigste, genügend geeignete Leute für das Schmierestehen zu haben. Und die haben wir ja. Drei postieren wir ums Haus, Pavle bewacht die Innentreppe nach oben – und ich räume einstweilen den Wandtresor aus. Schließlich bin ich damit die Haupt-schuldige, falls wir überrascht oder später aufgespürt werden. Seid ihr einverstanden?

Das waren sie. Aber jetzt kam der Hammer. Plötzlich platzte Nicola heraus: »Das mit dem Erlegen der Dogge können wir unmöglich machen. Selbst wenn du den Pfeil wie einen Aal aus ihr herausziehst und wieder in den Rucksack steckst – die Kriminalen sind ja nicht blöd. Spätestens der Gerichtsmediziner erkennt sofort die Ursache der tödlichen Verwundung. Das können die heute, glaubt es mir. Ich habe schon mehrere Kriminalfilme im Zagreber Kino gesehen, natürlich ohne Eintritt. Und was machen die Kriminalen dann? Sie grasen Zamir noch einem Bogenschützen ab! Und da dürfte es nicht viele geben …«

Nicolas lange Rede sorgte für große Betretenheit, weil er ohne Zweifel recht hatte. Wir brüteten alle vor uns hin, um eine alternative Lösung zu finden. Sie kam nach rund drei Minuten von Duro. Nachdem sich seine Miene aufgehellt hatte, verkündete er frech:

»Wir stecken den Zwinger an! Dann verkohlt die Dogge, und wir sind fein raus!«

Nach dem ersten Schock erwiderte Pavle mit verkniffenen Augen recht ungläubig: »Bist du verrückt geworden? Du willst da ein Feuer legen ..?«

»Ja, sicher. Warum denn nicht? So wie der Zwinger steht, passiert da nicht viel. Und wenn doch – wir können ja vorsichtshalber gleich die Feuerwehr alarmieren, sobald wir mit dem Zaster abziehen. Au ja, das gibt einen schönen Spaß zusätzlich!«

»Jetzt schlägts aber 13«, sagte Pavle mit aufgerissenen Augen. »Die Feuerwehr willst du auch noch alarmieren? Erst legen wir Feuer – und dann rufen wir gleich die Feuerwehr an ..? Du bist wahnsinnig.«

Nun entspann sich eine heftige Debatte über rund 10 Minuten. Im Ergebnis nahmen wir Duros Vorschlag an, denn er war saugut.



6

Ich möchte betonen, mein »Versagen« in der Frage der Doggen-Beseitigung setzte mir nicht nennenswert zu. Ich bekannte meinen Fehler, und damit hatte es sich. Der Journalist hat mir sowieso versichert, er hätte bereits nach unserer ersten Begegnung den Eindruck gehabt, ich sei eher »einfach gestrickt«, wie seine halbwüchsige Tochter sich ausdrücken würde. Er hoffe, diese Mitteilung kränke mich nicht.

Sie kränkte mich keineswegs. Das war es ja gerade: weil er recht hatte. Weil ich eben schon damals eine eher unkomplizierte junge Frau war, die weder so leicht zu beschämen noch zu kränken war. Ich war auch in meinem gesamten Leben selten nachtragend. Schwamm drüber – erledigt. Irgendwer hatte mich 1925 mit einem recht gesunden Selbstvertrauen ausgestattet. Das Gesunde daran lag auch darin, daß ich mich eigentlich nie übernahm. Ich setzte mir nicht in den Kopf, Olympiasiegerin im Bogenschießen oder Rätin im Kanton Zürich zu werden, denn ich spürte, solche Karrieren hätten mich überfordert. Ich schlug mir ja sogar schon mit 14 die Piratin aus dem Kopf. Stattdessen beschloß ich, die Kohle für die Züricher Schule für Körpersprache und Pantomime zu beschaffen, und das gelang mir auch. Fünf Jahre nach meinem Abschluß an der Schule leitete ich sie selber. Damit war ich »Direktorin« einer Art eher kleinen Schauspielschule. Höher hinaus kam und wollte ich nie.

Janica war mir im Naturell gar nicht so unverwandt. Wir verstanden uns prima. Es ist ein Jammer, daß sie nach ihrer Rückkehr aus der Schweiz nur noch ein paar Jahre zu leben hatte. Sie fuhr damals zurück, weil sie weder ihre GrundschülerInnen noch ihre anarchistischen Genossen im Stich lassen wollte. Ich gab ihr einen Batzen Geld mit. 1947 kam sie in Rijeka bei einem Straßenverkehrsunfall um. Das war saublöd, denn sie hatte ihn noch nicht einmal selber verschuldet. Wie sich versteht, war ich sehr traurig. Soweit ich weiß, hatte sie zuletzt eine durchaus angenehme Gefährtin. Was mich angeht, hatte ich übrigens damals, 1940, eine Kollegin von ihr als Geliebte abgelöst, die ihr ohnehin zunehmend auf die Nerven ging. Damit bin ich wieder beim Thema, der Psychologie. Den jüngsten Krach hatten die beiden nämlich wegen einem Buch, das sich vorwiegend oder gar ausschließlich mit den Verästelungen der gehobenen bürgerlich-viktorianischen Seele beschäftigte, selbstverständlich anhand einer klassischen romantischen Liebesgeschichte. Das ist schon fast wieder eine Geschichte für sich. D., die Geliebte, kam ebenfalls vom Lehrerseminar, versuchte sich aber neuerdings außerdem als Übersetzerin aus dem Englischem. Und da bot ihr ein Zagreber Verleger einen Vertrag über den neusten Roman von Daphne du Maurier an, Rebecca. Dieses Werk, 1938 erschienen, hatte auf Anhieb viel Beifall gefunden, und nun sollte es, übersetzt, auch kroatische Herzen beglücken. Das war »natürlich« D.s Chance, wie sie jedenfalls selber fand. Sie übernahm den Auftrag. Janica dagegen war entsetzt, nachdem sie hier und dort in der Vorlage gelesen hatte. Statt die haarsträubenden politökonomischen Verhältnisse im britischen Empire mit auch nur ein paar Kommas in Frage zu stellen, siedelt die Autorin den Helden und die Heldin in einem verwunschen gelegenen alten Schloß am Atlantik an und badet sich in den vielen einander widerstreitenden Gefühlen der beiden, über denen zusätzlich »der Schatten« jener mysteriös verunglückten Rebecca schwebt, der Vorgängerin der Heldin. Das waren die Sorgen, denen kurz vor dem Zweiten Weltkrieg Madame du Mauriers durchaus vorhandene Schreibkraft galt.

Janica gestand mir allerdings, eigentlich hätte sie den Roman schon wegen des Blumenschmucks gehaßt. Die rückblickend erzählende Heldin habe sich vor allem nach den wunderbaren Hortensien und Rhododendren des Schloßparks gesehnt. Die hatten ihn so heimelig gemacht. Dabei waren es ausheimische, exotische Pflanzen. Und furchtbare. Ich kannte sie sogar, wie sich durch Nachfragen ergab. Diese blühenden fetten Horste oder ausladenden Sträucher zierten tatsächlich auch etliche Rabatten in Frau Ružica Baracs Villengarten. Die Hortensiendolden, fast so groß wie Fußbälle, gefielen sich in den ekelhaftesten Zwischenfarben von Sahnebonbons, während die mehr roten Rhododendren lanzenförmige Blätter besaßen, aus denen man lieber Schuhsohlen für Zwerge gemacht hätte, statt die Natur mit ihnen zu verunstalten. Der Journalist meint dazu, in seinem Lexikon gälten die Blätter als »ledrig«. Ja, er weiß wieder einmal alles besser. Aber er weiß nicht, wie wir in die Villa eindrangen, die sie im Verein mit der Dogge zu bewachen hatten.



7

Wir konnten schlecht durch die vorhandenen Außentüren marschieren, weil sie über nacht stets von innen verriegelt waren. Sie waren natürlich auch abgeschlossen, aber nirgends steckte Frau Baracs Schlüssselbund im Schloß. Sie nahm es nämlich immer mit in ihr Bett. So fühlte sie sich wohler. Da sie insbesondere abends gern Sherry oder Slibowitz oder beides in demokratischem Wechsel zu sich nahm, schlief sie in der Regel erfreulich tief und beständig. Und dies alles wußten wir selbstverständlich von Josipa beziehungsweise ihrem vorübergehenden Schwarm Branko. Dagegen stellten wir die Sache mit der Speisekammer durch unsere eigenen hartnäckigen Beobachtungen fest. Sie lag im erhöhten Erdgeschoß unter einem Balkon, der Regenschutz bot, und wies ein Fensterchen auf, das man wirklich nur winzig nennen konnte. Aber es stand immer auf. Wahrscheinlich hatte Frau Barac einen Belüftungsfimmel. Im übrigen setzte sie ja sowieso auf die treue Wachsamkeit ihrer Dogge, deren Zwinger just auf dieser Hausseite lag, keine 20 Meter von der Villa entfernt. Dieses Fensterchen erkoren wir uns für die entscheidende Bewährungsprobe Nicolas aus. Würde er hindurchpassen? Das war die große Frage, die uns jetzt auf den Nägeln brannte.

Das Wetter paßte jedenfalls in unsere Pläne. Aus unerfindlichen Gründen hatten wir uns für die Monatsmitte entschieden, also den 15. Mai. Das war sogar ein Mittwoch. Am Dienstag war ich zur Stadtbücherei am Waisenhausplatz spaziert, um die Dubrina-Post einzusehen. Sie galt als die führende Tageszeitung der Nordküste. Wir bemühten sie eigentlich selten, aber im Sommer 1940 leistete sie uns willkommene Dienste. Zunächst, sie brachte täglich eine gründliche und meistens zutreffende Wettervorhersage. Danach sollten wir in der kommenden Nacht bei beinahe wolkenlosem Himmel Windstille und nicht einen Regentropfen haben. Dazu einen Dreiviertelmond. Und so war es auch.

Der Auftakt, der uns die Dogge vom Hals schaffen sollte, klappte erstaunlich gut. Wir hatten uns am frühen Morgen über den Obstgarten angeschlichen, der jenseits der Gartenmauer mit dem Zwinger lag. Für unsere Zwecke sah man genug. Wir hatten uns eingeschärft, nichts zu verlieren, eine Rotzfahne oder gar ein Taschenmesser beispielsweise, und auch sonst keine Spuren zu hinterlassen. Während des Anschleichens zogen wir bereits die Fingerhandschuhe aus dünnem Leder an, die wir uns kostenlos besorgt hatten – wohlweislich nicht im RoKuGra. Das wäre doch etwas zu frech oder waghalsig gewesen. Dann half mir Pavle mit der Zigeunerleiter auf die Mauerkrone. Bislang hatte die Dogge nichts gemerkt. Mein Abstand zum Zwinger betrug schätzungsweise 16 oder 17 Meter. Ich sah mich erst einmal um. In der Villa kein Licht, kein Geräusch, soweit sich das von dieser Seite aus feststellen ließ. Auf der Straße Stille. Aber nun schöpfte die Dogge Verdacht und kam aus der Hütte. Als sie sich knurrend am Maschendraht aufrichtete, rührte ich mich und schickte ich ihr einen Pfeil genau in die Brust. Während sie aufjaulte, legte ich sofort den nächsten Pfeil an, denn im unwahrscheinlichen Falle wäre der erste Pfeil womöglich am Draht hängengeblieben. Das jedoch war anscheinend nicht der Fall. Die Dogge fiel nach hinten um, röchelte noch ein wenig und verschied, wie ich jedenfalls hoffte.

Nach zwei oder drei Minuten des bewegungslosen Ausharrens winkte ich seitlich in den Obstgarten. »Na Gott sei Dank«, preßte Pavle hervor. Wie sie mir später bestätigten, waren meine Mitstreiter gespannter als mein Flitzebogen gewesen. Jetzt enterten sie ebenfalls die Gartenmauer.

Ich huschte einstweilen in den Zwinger. Das Schlüsselbund hing ordnungsgemäß an seinem Nagel in der Hundehütte! Nun schlichen wir zunächst einmal ums Haus. Nirgends war Licht aufgeflammt. Duro und Branko bezogen ihre Außenposten. Ich selber holte mit Pavle die Leiter aus dem Geräteschuppen. Nicola rieb sich die Hände und erklomm sie mutig, um sich das Speisekammerfensterchen vorzuknöpfen. Unser blondes Wiesel besiegte es unter einigem unterdrückten Ächzen! Man hätte keinen Dinar-Schein mehr zwischen seine Hüften und den Fenster-rahmen bekommen. Wir hatten Nicola ermahnt, beim Eindringen nichts umzuwerfen, etwa einen Gurkentopf, der auf dem gefliesten Fußboden lauter als ein Schweizer Kracher aufgeschlagen wäre. Aber wir vernahmen nichts dergleichen. Darauf legten wir die Leiter einstweilen im Gras ab und schlichen zur Haustür. Sie stand bereits einen Spalt breit auf. Wir schlüpften hinein und liebkosten Nicola, bevor er grinsend umgekehrt hinausschlüpfte, um den dritten Außenposten zu beziehen. Pavle ließ sich auf der Treppe zum 1. Stock nieder. Ich selber faßte beherzt die Salontür ins Auge. Da erstarrten wir auch schon wieder. Der Käuzchenruf!

Wir hatten ihn als Warnruf vereinbart und geübt. Nun drang er von der jenseitigen Gartenseite her an unsere erschrocken gespitzten Ohren. Und da ging im ersten Stock auch schon eine Tür auf. Wahrscheinlich hatte den Posten aufflammendes Schlafzimmerlicht alarmiert. Wir hörten tippelnde Schritte. Ach du meine Güte, dachte ich, jetzt kommt die alte Schachtel herunter und stolpert über Pavles zu Berge stehendes Stoppelhaar! Aber sie kam nicht. Wir hörten eine zweite Tür – und nach ungefähr drei Minuten ging die Wasserspülung. Vielleicht hatte sie nach dem Abendbrot ausnahmsweise eine ganze Flasche Wein in sich hineingekippt. Jedenfalls war sie erwacht. »Mein Gott!« preßte Pavle erleichtert hervor. »Mußte das denn sein? Wir haben doch noch gar nicht angefangen!«

Ich schüttelte halb strafend, halb belustigt meine Hand und horchte weiter angestrengt. Als Frau Barac wieder in ihrem Schlafzimmer und vermutlich auch Bett verschwunden war, ließen wir noch geschlagene fünf Minuten verstreichen, ehe wir uns getrauten, endlich ans Werk zu gehen. In dieser Zeitspanne erschien auch Brankos fragendes Gesicht an einem Hallenfenster. Ich beruhigte ihn mit entsprechenden Gesten, worauf er sich wieder verzog. Dann war es soweit. Ich nickte Pavle grü-ßend zu, ging zur Salontür und klinkte sie vorsichtig auf.

Zwar roch es im Salon etwas muffig, aber ansonsten schien hier die Luft rein zu sein. Alle Sessel und Sofas waren unbesetzt. Die schweren Fenstervorhänge rührten sich nicht. Die Tresortür schimmerte genau dort, wo sie sein sollte, an der Kaminwand. Ich stellte meinen Rucksack unter die Tür, zog das Schlüsselbund aus meinem Hemd und führte den langen, dünnen Safeschlüssel in den dafür vorgesehenen Schlitz ein. Er schien zu greifen!

Das hatte kaum zwei Minuten in Anspruch genommen – aber nun zuckte ich jäh zusammen, weil erneut der Käuzchenruf erscholl, diesmal von der Straße her. Himmel, dachte ich, nicht schon wieder! Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte laut geflucht.

Ich wandte mich um. Schon ging die Salontür auf. Es war Pavle. »Am Tor drücken sich zwei Leute herum!« raunte er aufgeregt. »Vielleicht ein Liebespaar. Duro hat es mir gerade gesagt! Was sollen wir machen?«

Ich atmete erst einmal aus. Dann überlegte ich kurz – und winkte unwirsch ab. »Beobachtet sie noch zwei oder drei Minuten. Wenn sie dann nicht freiwillig verschwinden, nimmst du die Schlange, Pavle. Geh draußen irgendwo in Deckung, entzünde sie und wirf sie den beiden genau vor die Füße. Ich gucke vom Flurfenster aus zu!«

Er nickte sofort, denn wir hatten mit so etwas gerechnet und unser Verhalten besprochen. Wir schlichen gemeinsam zur Haustür. Während Pavle hinausschlüpfte, betete ich zu Janica darum, es möge alles gut gehen. Denn von ihr hatte ich die Schlange. Wir hatten neulich meinen 15. Geburtstag mit einem kleinen Feuerwerk begehen wollen, aber dann hatte es geregnet. Sie ließ den Beutel mit den paar Feuerwerkskörpern da und vergaß ihn vermutlich längst. Jetzt sollte er uns retten.

Wie sich versteht, konnte Pavle schlecht einen Knallfrosch oder gar den schon erwähnten Schweizer Kracher werfen. Aber die Schlange warf er ausgezeichnet. Sie landete am Tor, zischte bedrohlich und sprühte bunte Funken wie ein Drachen aus einer Wagner-Oper. Die beiden jungen Leute fuhren zusammen – und ergriffen die Flucht.

Da sie stadteinwärts rannten, konnten wir natürlich nur hoffen, sie riefen nicht gleich die Polizei. Das wollten wir ja in Kürze gewissermaßen selber tun. Umso mehr beeilten wir uns jetzt. Ich lief in den Salon zurück und schwenkte die verdammte Safetür auf. Da sie etwas quietschte, sagte ich mir, man könne sie vielleicht einmal ölen. Dabei musterte ich im Schein meiner kleinen Taschenlampe allerdings bereits die Lage. Die Lampe hatten wir mit den Handschuhen in der Kaufhalle gemopst, das war der Billig-Tempel für den niedrigen, »einkommensschwa-chen« Teil der Zamirer Bevölkerung. Vielleicht konnte wir die Batterien der Lampe später benutzen, um meine Wanduhr von der Kränkung zu erlösen, ständig außer Betrieb zu sein. Jetzt erleuchteten sie zwei Fachböden und den Fußboden des Tresors. Ich erkannte etliche, wenn auch eher dünne Bündel mit Geldscheinen, einen Stoß Bücher, eine Mappe mit Papieren und eine Schatulle, vermutlich der Schmuck der alten Schachtel. Die Bücher und die Mappe überging ich. Das andere fegte ich rasch in meinen Rucksack, bevor ich den Tresor wieder verschloß.

Als ich aus dem Salon in die Eingangshalle trat, sah ich zu Pavle und winkte mit meinem Daumen hinter mich, nämlich auf die Beute in meinem Rucksack. Pavle sprang erwartungsgemäß auf und riß die Arme hoch, als wolle er an einer widerspenstigen Reckstange rütteln. Die Genugtuung auf meinem Gesicht hatte er kaum sehen können, aber er verstand meine Siegesbotschaft auch ohnedem. »Abhauen!« zischte ich. Das taten wir.

Als wir uns aus der Haustür drückten, kam Nicola sofort herbeigehuscht, um sie wieder von innen zu verriegeln. Er grinste nur. Ich verschloß die Tür von außen und versenkte das Schlüsselbund wieder in meiner Hosentasche. Dann legten wir erneut die Leiter an, damit Nicola wieder aussteigen konnte. Das gelang.

Duro und Branko hatten sich inzwischen zu uns gesellt. Während sie die Leiter in den Schuppen brachten, eilte ich mit Pavle zum Zwinger. Über das Schlüsselbund hatten wir zu Hause lange diskutiert. Letztlich hatten wir beschlossen, es genau dort hin zurück zu hängen, woher es stammte, also in die Hundehütte. Das führte ich aus. Pavle kramte inzwischen aus meinem Rucksack die Flasche mit Benzin, die wir mitgebracht hatten. Dafür ließ er meinen tödlichen Pfeil im Rucksack verschwinden, nachdem er ihn am Fell der Dogge abgewischt hatte. Dann leerte er die Flasche sowohl über dem armen Viech wie über dessen Hütte aus. Darauf entfachte ich ein Streichholz und einen Fidibus aus Papier, mit dem ich beide Objekte ansteckte. Es gab sofort ein loderndes Feuerchen. Wir rannten zur Mauer.

Wie sich versteht, trennten wir uns für den Heimweg und mieden dabei die Innenstadt. Einer mußte jedoch die Feuerwehr anrufen, und in dem Villenviertel gab es keine Telefonzelle, weil die feinen Leute alle selber Telefon hatten. Deshalb mußte Duro fast bis zum Waisenhausplatz rennen. Er war auch als erster aufgebrochen, bevor überhaupt die Flammen hochschlugen. Aber von Weitem sah er sie noch, sagte er später. Bevor er den Notruf absetzte, stülpte er natürlich eine Socke über die Sprechmuschel des Telefonhörers. Wir hofften es jedenfalls. Den Trick hatte Nicola aus den Kriminalfilmen. Duro berichtete uns, er habe nur gebrüllt: »In der Villa Barac brennt es! Beeilung! Beeilung!« Die Villa war ja in Zamir allgemein bekannt. Und tatsächlich, ich hatte mich kaum oberhalb des Villenviertels in die Maccia geschlagen, da heulten die Sirenen auf. Das Nähere war am Donnerstag, unter einer dreiteiligen Überschrift, der druckfrischen Dubrina-Post zu entnehmen.



8

Grausiger Einbruch bei Zamirer Fabrikantenwitwe / Feuerwehr verhindert Flächenbrand / Edler Hund getötet. Am gestrigen frühen Morgen raubten Unbekannte den Wandsafe in der von Witwe Ružica Barac allein bewohnten Villa am Sündenholz aus. Wie sie in das rings verschlossene und verriegelte Gebäude eindrangen, ist zur Stunde noch unklar. Dagegen konnte die Zamirer Kriminalpolizei rasch feststellen, warum die im Obergeschoß schlafende Witwe nichts bemerkte: die Diebe hatten vorm Einbruch offensichtlich Frau Baracs prächtige Dänische Dogge getötet, die im Garten einen Zwinger besaß. Wie das nun wiederum unbemerkt geschehen konnte, sei bislang »ein gewisses Rätsel«, sagte Kriminaloberinspektor Tihomir Fak am Nachmittag vor Presse- und Rundfunkvertretern. Dummerweise hätten die Einbrecher vor ihrem Abzug den Zwinger mitsamt der vermutlich bereits toten Dogge in Brand gesetzt. Man habe dem Gerichtsmediziner nur noch das verkohlte Skelett der Dogge übergeben können. Zum Glück sei die aufmerksame Zamirer Feuerwehr sehr rasch an der Villa eingetroffen und habe ein Übergreifen der Flammen auf andere Wohngebäude oder gar die halbe Stadt verhindert. Der Wandsafe zeigte keine Spuren von Gewalteinwirkung. Das Bund, an dem auch der Safeschlüssel hängt, pflegt Frau Barac jede Nacht mit in ihr Schlafzimmer zu nehmen. Den einzigen Ersatzschlüssel für den Safe bewahrt ein Zamirer Notar auf. »Das haben wir bereits erfolgreich überprüft«, sagte Fak. Nach Angaben der Witwe wurde der Wandsafe um Papiergeld und eine gefüllte Schmuckschatulle erleichtert. Fak schätzt den Gesamtschaden des dreisten Einbruchs, Dogge eingeschlossen, auf rund 50.000 Dinar. Immerhin, so Frau Barac im Gespräch mit dieser Zeitung, waren sowohl der Safeinhalt wie ihr treuer schwarzweiß gefleckter Hund versichert. Von daher drohe sie nicht jäh zu verarmen, aber »der Schock, der seelische Schaden« sei doch enorm.



9

»Dieses Schlitzohr!« behauptete Nicola gleich nach dem Studium des Artikels. Wir hatten uns dieses Mal eine Zeitung gekauft, am Bahnhof; schließlich waren wir gerade zu etwas Geld gekommen. »Dieses Schlitzohr!« wiederholte Nicola. »Kaum fällt es ihr beim Frühstück aufgrund der Feuersbrunst wie Schuppen von den Augen, rennt sie zum Safe – und entdeckt das Malheur. Dann zerbricht sie sich ihren noch vom gestörten Schlaf gemarterten Schädel, wie die Gauner wohl an ihren Zaster gekommen sind. Da fällt ihr der Ersatzschlüssel ein. Wenn das die Versicherung erfährt! Also eilt sie hinaus und durchwühlt den verkohlten und durchnäßten Tatort der Brandstiftung nach ihrem Schlüsselbund. Gott sei dank, es ist noch da! Der Feuerwehrhauptmann mit seinem eindrucksvollen Helm muß eine echte Schlafmütze gewesen sein. Sie nimmt das Bund an sich. Nach einem doppelten Slibowitz läßt sie sich von einem Taxi zwecks Ausflug zur Dubrina bringen. Nach der ersten Flußbiegung wirft sie das Bund ins Wasser. Die Erstattung durch die Versicherung ist gerettet. Dann spricht sie im Polizeipräsidium am Ziegenmarkt vor.«

Ansonsten sonnten sich meine Mitstreiter natürlich stunden- und tagelang in ihrem Erfolg, ihrem Können, ihrer jähen Bedeutung. Das Peinliche war nur, sie durften es nicht in die Welt oder wenigstens bis zu Mutter und Jakov Kostelićs Küchenfenster hinausschreien. Ich hatte ihnen dutzendmale eingeschärft, sich nicht zu brüsten oder auch schlicht zu verplappern. Es war letztlich das bekannte Problem der Anerkennung. In dieser Hinsicht waren sie ja alle vier zu Hause völlig zu kurz gekommen. Sie waren so gut wie nie gelobt oder bestärkt worden, eher im Gegenteil: niedergemacht. Jetzt hatten sie eine echte solide Arbeit vorgelegt – und niemand klopfte ihnen dafür die Schulter. Selbst ihre liebe Lehrerin Janica durften sie nicht einwei-hen. »Ich nehme an, Sie kennen das Problem mangelhafter Anerkennung ..?« sagte ich zum Journalisten. Das machte ihn offensichtlich verlegen. Er räusperte sich erst einmal. Dann erklärte er lapidar: »Dazu möchte ich lieber nichts sagen, Frau Broido.« Ja, die Männer kneifen gern.

Die zweite Gefahr war mit der ersten verknüpft. Sie lag im Leichtsinn. Da ist man plötzlich reich – schwups, kauft sich Branko eine Stradivari oder Pavle auch nur ein neues Fahrtenmesser. Ich selber hätte uns am liebsten sofort fünf nagelneue kurze Lederhosen gekauft. Aber dies alles durften wir uns nicht leisten, sonst wäre uns der Herr Oberinspektor bald auf die Spur gekommen. »Wir müssen mindestens für einige Monate so leben wie immer«, dozierte ich am Küchentisch, »dann können wir weitersehen. Ohnehin müssen wir ja erst das zweite Ding drehen, das uns jede Wette viel mehr Kohle einbringt.«

»Und dann heißt es wieder 'einige Monate' darben ..?!« höhnte Nicola. »Da ist das ganze Jahr schon im Eimer.«

»Quatsch!«, fuhr Branko ihn an. »Der Hauptgewinn ist doch das Tun selber, das Dingerdrehen eben!«

Darin bestärkte ich ihn nur zu gern, obwohl ich schon mit Bangen an die Kosten der Pantomimeschule und der Übersiedelung dachte.

Vorausgesetzt, Oberinspektor Tihomir Fak hatte seine Schätzung nicht völlig aus der Luft gegriffen, konnten sich die ZeitungsleserInnen im Groben ausrechnen, was wir durch den Einbruch erbeutet hatten. Die Dogge und den Zwinger abgezogen, waren es vielleicht 45.000 Dinar. Und das kam wahrscheinlich ungefähr hin. Selbstverständlich hatten wir das Papiergeld noch in der Nacht gezählt. Das nahmen wir in meinem Zimmer bei geschlossenen Gardinen vor. Nebenbei hatten sich die Jungs einen merkwürdigen Spaß daraus gemacht, mich über und über mit Frau Ružica Baracs Klunkern zu behängen oder einzuzwängen. Es waren auch Ringe und Armreife dabei. Dieses Spiel unterband ich aber bald. Die Rolle der Königin habe ich auch als Pantomimeschülerin nie gemocht.

Das Bargeld belief sich auf knapp 30.000 Dinar. Den Rest konnte der Schmuck der alten Schachtel ausmachen, 15.000 Dinar. Allerdings waren wir keine sachkundigen Juweliere, und einen Hehler zu bemühen, kam natürlich nicht in Frage. Das wäre viel zu gefährlich gewesen. Wahrscheinlich konnten wir den Schmuck frühstens in der Schweiz in Bargeld verwandeln.

»Für 30.000 Dinar hättet ihr damals in Deutschland ungefähr 2.500 Reichsmark bekommen, nehme ich an«, sagte der Journalist. Er stammt aus Deutschland. »Das hätte vielleicht für ein Kraftrad gereicht, aber nur für eins.«

Kurz, es war eher kläglich. Möglicherweise hatte Frau Barac in der Stadt noch ein fettes Bankkonto, nur war das für uns kein Trost. Wir konnten unsere Beute beim besten Willen nicht »fürstlich« nennen. Aber wir besaßen jetzt wenigstens Fingerhandschuhe aus Leder, eine Taschenlampe und etliche wertvolle Erfahrungen der kriminaltaktischen Art.

Ironischerweise hatten wir bald nach der »Feuersbrunst« am Sünderholz einen Unterrichtstag mit Janica, bei dem sie auf das Thema Geld zu sprechen kam. Eigentlich war es Geschichtsunterricht, also nicht Mathematik. Sie legte uns dar, wie sich aus dem mittelalterlichen Handel (in Europa) der Geldbedarf und somit der Zahlungsverkehr entwickelt hätten. Ich sehe die Vier noch vor mir, wie sie sich die bedeutungsvollen Blicke nach unten, in den Keller, verkniffen und ihre Kinn- oder Arschbacken kneteten, um nicht mit Lachen oder gar Anspielungen auf die »Feuersbrunst« heraus zu platzen. Im Keller hatten wir die Kohle und den Schmuck versteckt. Den lieben Nicola mußte ich einmal sogar unter dem Tisch vors Bein treten, damit er uns vor Janica nicht verriet. Später, in der Schweiz, beteuerte sie übrigens, sie hätte uns niemals auch nur anflugweise mit den beiden Zamirer Fischzügen des Jahres 1940 in Verbindung gebracht. Das glaubte ich ihr aufs Wort. Jemanden anders als mich hätte ihre Beteuerung womöglich gekränkt.

Wenn ich mich recht erinnere, begannen damals, im Mittelalter, ein paar schlitzohrige Halsabschneider, die sich Fugger, Welser, Kaufleute, Goldschmiede nannten, Banken zu gründen und unter deren Deckmantel gleichsam aus dem Nichts heraus »Wert« zu schaffen und »Kredit« zu vergeben. So genau weiß ich das aber nicht mehr. Im Grunde habe ich die Sache mit dem Geld heute noch nicht begriffen, fürchte ich. Jedenfalls eröffnete sich damals ein Riesenbetrugsfeld. Fälschen Sie einmal einen Kohlkopf oder einen Hasenbraten, die man ja ursprünglich zum Tauschen und Gewinn machen benutzte! Da sitzen Sie Wochen daran, und dann hauen Ihnen die Bürgerweiber trotzdem ihre Schöpfkellen auf den Schädel. Geld fälschen dagegen geht prima, falls man es kann. Am leichtesten läßt sich sicherlich das sogenannte Rechen- oder Buchgeld, auf das wir gegenwärtig mit Macht zusteuern, sowohl fälschen als auch lenken, weil es nur »symbolisch«, weil es nur ein Hirngespinst ist. Das galt freilich grundsätzlich schon immer fürs Geld. Es war genauso ein »Gedankending«, wie wir es schon einmal anhand des »Durchschnittsarbeiters« behandelt hatten. Und genau daran erinnerte uns Janica nun auch. Das Geld sei ebenfalls eine fragwürdige Abstraktion.

Man sah Pavle an, daß er am liebsten in den Keller gerannt wäre. Aber er zügelte sich. Er setzte eine überlegene Miene auf und fragte Janica: »Hast du zufällig irgendeinen kleinen Dinar-Schein in deiner Handtasche ..?«

Sie runzelte etwas verunsichert die Stirn, meinte »ich hoffe schon«, kramte einen 10-Dinar-Schein aus ihrer Geldbörse und schob ihn mit einem Lächeln auf den Küchentisch.

»Ha!« rief Pavle siegesbewußt und ließ seine flache Pranke auf den Schein klatschen. »Was ist denn daran 'bloß gedacht' ..? Wenn du nichts dagegen hast, rolle ich ihn ein wie ein Arbeiter von Barac seine Tabakblätter, stecke ihn in meinen Mund und rauche ihn genüßlich! Nur zum essen taugt er nicht so gut, nehme ich an.«

Das fanden wir alle durchaus komisch. Sogar Janica schmunzelte. Dann räumte sie ein, sie habe sich wohl wieder etwas zu ungenau ausgedrückt. Nicht der Geldschein sei bloß gedacht, sondern lediglich der Wert, den er repräsentiere. Man müssen zwischen dem Geldkörper und dem Tauschwert unterscheiden. Der Tauschwert sei wirklich abstrakt.

Pavle stöhnte auf. »Was hast du gesagt? Er 'repensiert' irgendetwas? Was soll denn das nun wieder heißen, 'repensieren' ..?«

»Entschuldigung, Pavle, entschuldige bitte … Repräsen-tieren heißt vertreten. Etwas steht für etwas anderes. Oder einer handelt für einen anderen. Nehmen wir an, Nicola bittet dich, dem Jakov Kostelić eine aufs Maul zu hauen, weil er sich über Nicolas 'Winzigkeit' lustig gemacht habe. Damit ernennt dich Nicola gleichsam zu seinem Vertreter. In der Politik läuft es nicht anders, nur daß unsere gewählten oder ernannten 'VolksvertreterInnen' nicht die Tabakfabrikanten oder Bankiers in den Arsch treten, vielmehr das Volk …«

Wir lachten. Diese Beurteilung entsprach unserer Erfahrung. Mit einem versteckten Zwinkern zum Keller stellte Pavle sogar ausdrücklich fest:

»Ja, es ist immer am besten, wenn man seine Interessen und Pläne fest in der eigenen Hand behält, ob sie nun legal sind oder nicht …«

Das Zwinkern entging Janica. Dafür wunderte sie sich freilich, daß ihm das Fremdwort »legal« so gut über die Zunge ging.



10

Am Donnerstag den 6. Juni 1940, bei Geschäftsschluß, ließ ich mich im RoKuGra einsperren. Das war vielleicht nicht ganz ungefährlich, aber ich wollte mich mit den Verhältnissen in dem Riesenbau vertraut machen und unser Vorwissen überprüfen. Ich konnte ja notfalls, wenn sie mich ertappten, das einfältige Kind geben, das sich verirrt hatte und dann vor Verzweiflung oder Erschöpfung irgendwo eingepennt war, beispielsweise in der Teppich-Abteilung. Oder unweit der Hintertür, von der mich nur noch wenige Meter trennten, auf den Stufen jenes rückwärtigen Treppenhauses, das vor allem die Angestellten, die Lieferanten und unser »Geldbriefträger« zu benutzen pflegten. Aber sie ertappten Zora nicht. Am Freitagmorgen, als die gläsernen Eingangstüren geöffnet worden waren, mischte ich mich unter die ersten Kunden und verdrückte mich wieder.

Was wir bis dahin wußten, hatten wir von einem Liftboy, Coco genannt. Ja, das RoKuGra war ein vornehmes Warenhaus. Es hatte einen Aufzug, der teils Kunden, teils WarenverteilerInnen, manchmal auch dem Direktor diente, und es hatte eben echte, wunderschön uniformierte Liftboys. Schließlich war es Kundinnen wie Ružica Barac weder zumutbar, sich über die Innentreppe zu quälen, noch auch nur ein paar Druckknöpfe am Aufzug zu betätigen. Die Bekanntschaft mit Coco verdankten wir Branko und Duro. Oberhalb des Waisenhausplatzes gab es, trotz der Hanglage, einen größeren Bolzplatz, und dort gingen Branko und Duro gern vorbei, um mitzumischen, falls gerade der Fußball rollte. Coco war ein begabter Stürmer. Günstigerweise konnte er uns nicht mehr gefährlich werden, weil er bereits im Januar mit seinen Eltern nach Amerika ausgewandert war. Kriminalober-inspektor Tihomir Fak würde ihm wohl kaum bis dahin nachschnüffeln. Sofern uns das Ding im August gelang.

Coco fühlte sich damals, im vergangenen Herbst, derart geschmeichelt von Brankos und Duros Interesse an seiner aufregenden Erwerbstätigkeit (als Liftboy eines derart vornehmen Warenhauses), daß er bereitwillig von den dortigen Zuständen und Gepflogenheiten erzählte, obwohl zum Beispiel die Putzfrauen des RoKuGras keineswegs in Uniform anzutreten hatten. Sie rückten stets montags, mittwochs und freitags nach Kassenschluß an. Von denen hatten wir somit nichts zu befürchten, weil der erwähnte Festtag im August auf einem »verkaufsoffenen« Samstag lag. Dafür würde aber der »Geldbriefträger« wie gewohnt kommen, und zwar gerade an diesem einträglichen Tag. Es war ein Wachmann einer bedeutenden Geldtransport-firma. Er kam täglich gegen 19 Uhr, wie Coco wußte. Er hatte noch einen Kumpel, aber der blieb im Panzerwagen sitzen, während der andere im hinteren Treppenhaus bis zur letzten Etage stieg, wo der RoKuGra-Direktor residierte. Den Aufzug mied der Geldbriefträger wahrscheinlich, weil man ihm dort zu leicht einen Streich hätte spielen können. Der Direktor hatte sich inzwischen die Kassenladen auf den Schreibtisch kippen lassen, hatte den Zaster gezählt und das Ergebnis in ein Buch eingetra-gen, das der Geldbriefträger vermutlich gegenzuzeichnen hatte. Dann versenkte der Geldbriefträger den Haufen Geld in seinem hübschen soliden Koffer und trat den Rückweg an. Bei seinem Kumpel eingetroffen, warfen sie ihren Panzerwagen wieder an, winktem dem Pförtner am Hintertor gönnerisch mit dem Zeigefinger zu und brausten davon.

Das Hintertor ging auf die eher unbelebte Töpfersgasse, die parallel zur Laurentius-Gasse verlief. Der Hof des Warenhauses war von hohen Mauern umgeben. Aber es gab noch eine dritte Gasse, die für uns die wichtigste war. Durch sie wären keine zwei zusammengespannte Brauereipferde gekommen, so schmal war sie. Sinnigerweise hieß sie die Hundgasse. Sie verband die beiden anderen Gassen auf der Westseite des RoKuGra-Grundstücks. Sie säumte also zunächst das Kaufhaus, dann die Hofmauer. Jenseits verlief wieder eine andere Mauer, nämlich die des benachbarten Grundstücks – das wir ebenfalls zu nutzen gedachten. Davon später. Die Hundgasse wurde hauptsächlich von Fußgängern, manchmal mit Handwagen, benutzt. Es war vor allem eine Abkürzung zum Bahnhof. Aber sehr belebt war sie nie, und schon gar nicht nach 19 Uhr. Und darauf kam es an.

Im Osten schloß sich jenes schon früher erwähnte Nachbarhaus an das RoKuGra-Grundstück an. Es bot über den Ladengeschäften Wohnungen und hatte den üblichen Speicher für Wäscheleinen und Gerümpel. Vom RoKuGra trennte es nur ein Brandschutz-Mäuerchen, das sich an die Dachschrägen beider Gebäude hielt. Im Hinterhof stand sogar ein älterer, knorriger Olivenbaum, der allerdings sicherlich etwas mehr Wasser und Sonne vertragen hätte. Der Hof des Warenhauses dagegen war kahl und glatt wie eine Flugzeugpiste.

Was mich bei meiner nächtlichen Stippvisite am meisten beeindruckte, war der Geldkoffer. Ich konnte aus der Deckung heraus einen Anblick von ihm erhaschen. Er war nicht viel größer als eine fette Aktentasche, wirkte freilich erheblich gediegener: mit blinkenden Metallbändern eingefaßt, prächtigen Schlössern und einem Griff aus Krokodilleder versehen – vielleicht. Der Koffer war eine gewisse Unbekannte in unserer Rechnung. Nicht, daß wir Sorgen wegen des Aufknackens gehabt hätten – sein voraussichtliches Gewicht war entscheidend. Wir konnten nur hoffen, der Direktor kippe ihn nicht mit sämtlichen Münzcn der Tageseinnahme voll. Dann hätte er – der Koffer – ja sogar Pavle die Arme bis aufs Linoleum des Treppenhauses gezogen. Da der Direktor stets Wechselgeld für seine Kassen bereithalten mußte, füllte er ihn doch eher mit Papiergeld, nahmen wir an. Mit wieviel, konnten wir nur schätzen.

Erfreulicherweise hatte Coco auch über die Alarmanlage Bescheid gewußt. Sie sicherte sämtliche Fenster und Türen des Warenhauses. Aber sie brauchte uns gar nicht zu interessieren, wurde sie doch immer erst eingeschaltet, wenn auch der Direktor beim Pförtner vorfuhr, um endlich Feierabend zu machen. Das war teils um 19, an den Putztagen um 21 Uhr. Der Chef bewachte die Damen persönlich. Wahrscheinlich gab er ihnen auch Zunder, damit er zu seiner Madame oder seiner Geliebten käme. Er war stets der Letzte. Das Pförtnerhäuschen war natürlich rund um die Uhr besetzt. Im Warenhaus selber jedoch gab es keinen Nachtwächter. Man hatte ja die Alarmanlage.

»Ach ja«, wirft der Journalist ein, »das waren noch goldene Zeiten … Zora Broido tappt die ganze Nacht im Haus umher – und niemanden juckt es. Heute hat man an jeder Haustür und jeder Klotür einen sogenannten Bewegungsmelder, da kommt keine Ameise ungeschoren davon. Von den Millionen Überwachungskameras, die es in jeder größeren Stadt gibt, ganz zu schweigen … Was ich aber trotzdem nicht ganz verstehe, Frau Broido: Warum haben Sie sich etliche Stunden überflüssigen Ausharrens in dem dunklen Kasten nicht erspart, indem Sie lange vor Geschäftsbeginn auf dem Wege des Ein- und Austiegs verschwunden sind, der für die eigentliche Unternehmung vorgesehen war? Das wäre ja vielleicht auch ein Test gewesen?«

Eben! Und er hätte möglicherweise übel ausfallen können. Schließlich wußten wir im Einzelnen nicht, wie die Alarmanlage verlief und funktionierte. Möglicherweise erfaßte sie auch noch andere Gebäudeteile als die Fenster und Türen, beispielsweise Fallrohre, Dachrinnen, Zinnen … Das erschien uns zu waghalsig, denn in diesem Fall hätte ich sofort die Polente auf dem Hals gehabt. Ergo mußte ich in den sauren Apfel beißen, mir die halbe Nacht mit dem Kampf gegen meine herabklappenden Augenlider und mit Verwünschungen dieser stumpfsinnigen Spähaufgabe um die Ohren zu schlagen. Als ich kurz nach neun endlich ins Freie gelangte und nach Hause schlurfte, kam ich aus dem Gähnen kaum noch heraus. Vor meinem Häuschen eingetroffen, fluchte ich schon wieder, weil es reichlich tot wirkte. Ich sah in die Küche – nichts. Der Traum von einer dampfenden Teekanne zerstob. Ich ging nach oben und pochte an die Tür – nichts. Als ich hineinlinste, lagen alle meine vier Mitstreiter in ihren Fallen und pennten wie die Murmeltiere. Na prima, knurrte ich, schloß die Tür wieder und wankte in mein eigenes Bett. Aber bekanntlich darf man von jungen Mitarbeitern nicht zu viel verlangen.



11

Duro Mroslav, so hieß er mit vollständigem Namen, stammte als einziger von uns aus etwas »besserem« Elternhaus. Sein Vater betrieb in Split ein großes Hotel. Die Mutter, Lehrerin, war allerdings seit ungefähr zwei Jahren tot. Das sollte uns noch einholen. Duro selber hatte das Gymnasium geschwänzt, einige krumme Sachen gemacht, den Jugendknast kennengelernt. Im vergangenen Sommer war er geflohen. Er schlug sich, mangels Geld, zu Fuß gen Norden durch, weil er nach Wien wollte, von dem ihm irgendein anderer Knabe Wunderdinge erzählt hatte. Er blieb jedoch in Zamir hängen. Bislang konnte ich mich nicht nennenswert über ihn beklagen.

Rund zwei Wochen nach meinem Einschluß im RoKuGra klopfte es bei uns. Es war um Mittag. Nicola und Branko hielten sich in der Stadt auf, weil sie just am RoKuGra noch ein paar Dinge untersuchen, dann auf dem Rückweg bei Curcin Brot und Kuchen einsacken wollten. Duro und Pavle machten auf dem Speicher sauber. Vor der Haustür stand ein gutgekleideter, schlanker Herr, den ich auf Ende 40 schätzte. Er trug zum kurzärmligen Hemd eine lange Hose mit scharfer Bügelfalte, die ganz gut zu seinem streng geschnittenen, schnauzbärtigen Gesicht paßte. Sein volles dunkles Haar hatte er zurückgekämmt. Seine Unterarme waren ebenfalls dunkel behaart, wenn auch nicht zurückgekämmt. Obwohl er etwas argwöhnisch an mir vorbei ins Haus spähte, konnte er immerhin nicht Herr Fak sein, denn den kannte ich von Zeitungsfotos her. Aber dann bekam ich doch noch einen Schreck. Er sagte nämlich:

»Mein Name ist Antun Mroslav. Könnte ich bitte meinen Sohn Duro sprechen? Er soll hier wohnen.«

Tja, da war guter Rat teuer. Sollte ich lügen oder gleich den Bogen aus meinem Zimmer holen? Ich musterte den Besucher stirnrunzelnd und grübelte und grübelte, es waren mindestens zwei Minuten.

Die Entscheidung wurde mir erlassen, weil hinter mir die Treppe knarrte. Duro und Pavle kamen vom Speicher herab. Vermutlich hatte Duro die Stimme seines Erzeugers erkannt. Jetzt schien er sich mutig stellen zu wollen. Als ich beiseite getreten war, blieb er an der Türschwelle stehen, versenkte seine Hände in der kurzen Hose und sagte herausfordernd:

»Was gibts denn, lieber Papa ..?«

Herr Mroslav schwieg und bemühte sich sichtlich um Haltung. Dann nickte er ins Haus: »Kann ich für einen Moment hereinkommen? Ich habe mit dir zu sprechen. Aber mit dir allein!«

»Nee, nee«, erwiderte Duro erstaunlich rasch und schüttelte dabei seinen roten Schopf. »Allein gibts nicht. Das sind gute Freunde von mir. Wir können uns zu viert in die Küche setzen.«

So geschah es, nachdem der Vater noch einen Augenblick nachgedacht hatte. Dann, an unserem Küchentisch, stellte sich zunächst das folgende heraus. Herr Mroslav »brauchte« seinen Sohn. So drückte er sich aus. Er wünsche ihn im Hotel einzuarbeiten und demnächst als Juniorchef einzusetzen, in drei oder vier Jahren vielleicht. Die Sache mit der Justiz habe er geregelt. Wenn sich Duro bereitwillig und brauchbar »im Hotelfach einführe«, seien die Jugendstrafe und der Ausbruch vergessen. Schwamm darüber! Ja, er habe eben doch einige recht gute Bezie-hungen in Split und noch darüber hinaus, stellte Herr Mroslav nicht ganz uneitel fest. Das sei jetzt die Chance für ihn, Duro! Sein Auto stehe um die Ecke in der Platanen-allee – Duro brauche nur einzusteigen, schon beginne seine gesicherte Zukunft.

Dabei beließ es Herr Mroslav einstweilen. Er lehnte sich zurück, schlug die Bügelfalten übereinander und bedachte die etwas fragwürdigen Freunde seines Sprößlings mit huldvollen Blicken, während er, wie er wohl glaubte, Duro Zeit zum Erwägen ließ. Der Hotelier wirkte sicherlich etwas undurchsichtig; ich kann jedoch beschwören, er war mir gleich unsympathisch gewesen. Später, als ich in der kroatischen Ausgabe des Romans Rebecca las, erinnerte mich die männliche Hauptfigur an ihn, der 42 Jahre alte Schloßbesitzer Maxim de Winter: blendend aussehend, herrisch, launisch, selbstgerecht. Aber so Typen sind ja auf diesem Planeten nicht gerade selten.

Duro dachte freilich keineswegs ausgiebig nach. Keine halbe Minute, und er stellte mit einem Kopfschütteln fest: »Nein. Ich bleibe hier. Du kannst wieder gehen, Vater.«

Herr Mroslav winkte unwirsch ab. »Mach jetzt keinen Ärger, mein lieber Junge. Du willst doch nicht etwa, daß ich die Polizei hole ..?«

Duro lächelte spöttisch. »Etwa du? Möchtest du vielleicht, daß dir die Polizei einmal auf den Zahn fühlt ..?«

»Wie meinst du das?« erwiderte er scharf.

»So!«

Damit zog Duro blitzschnell ein gefaltetes Stück Papier aus seinem Hemd und ließ es über die Tischplatte bis zu seinem Vater schlittern, der ihm gegenüber saß. Dann verschränkte er die Arme.

Es war ein Briefbogen. Während der Vater ihn entfaltete und las, wurde sein Gesicht zugleich deutlich bleicher und röter. Vermutlich kochte er innerlich. Natürlich las er nicht laut, aber Duro gab uns den Brief – von dem wir bis dahin nichts gewußt hatten – später zu lesen. Es war der Abschiedsbrief seiner Mutter Ruth. Der Vater kannte selbstverständlich die Handschrift seiner Gattin. Sie hatte geschrieben: Mein lieber Mann hat mich dutzendmale mit Gewalt genommen, jetzt reicht es mir. Davon abgesehen, hat er es auch nicht verschmäht, wiederholt junge Angestellte zu mißbrauchen. Er ist ein völlig rücksichts-loser Kerl. Ich halte es nicht mehr aus. Duro, verzeihe mir! Mehr hatte sie nicht geschrieben, nur das Datum noch, und die Unterschrift. Anschließend hatte sie Tabletten genommen. Man fand sie tot auf dem Sofa in ihrem Nähzimmer.

»Wo hast du diesen Brief her?!« fuhr Herr Mroslav auf.

Duro zuckte mit den Achseln. »Verrate ich nicht. Jemand hat ihn mir letztes Jahr zugespielt. Ich glaube, er lag im Nähkästchen.«

»So, so ..!« sagte Herr Mroslav höhnisch. Dann zerriß er den Briefbogen genießerisch in kleine Schnitzel und stopfte diese demonstrativ in seine Hemdtasche. »Jetzt sind die Faxen aber zuende! Komm schon, wir fahren!«

Er erhob sich bereits und nickte herrisch nach oben: »Hol deine Siebensachen, in einer Minute fahren wir!«

Auweia, dachte ich. Ein Riesenfehler von Duro! Aber der rührte sich keinen Zentimeter von seinem Platz auf der Eckbank. Er nickte nur seinerseits auf die Brusttasche seines Vaters und sagte: »Sieh dir die Schnitzel noch einmal genau an! Es war nur eine Ablichtung. Das Original habe ich, für alle Fälle, gut versteckt …«

Wahrscheinlich war ich kaum weniger verblüfft als sein Vater. Der besah sich die Schnitzel und erkannte, sein Sohn hatte recht. Es war nur eine Ablichtung gewesen. Jetzt wurde er wirklich wütend. Ich nehme an, er ärgerte sich auch deshalb über die Durchtriebenheit seines Sprößlings, weil sie seine eigene noch überbot. Er schrie:

»Wo steckt dieses verdammte Original?! Hol es sofort herbei und händige es mir aus. Schließlich bin ich dein Vater!«

Duro, die Arme noch immer verschränkt, linste zu Pavle, der übereck saß. Der Stachelkopf schien zu verstehen, was von ihm erwartet wurde. Sicherlich war ihm klar, nicht der richtige Mann für heldenhafte Sprüche zu sein – aber für Taten. Er griff in seine Seite, zog sein Fahrtenmesser und strich damit spielerisch über die Tischplatte, als wolle er lediglich die Schärfe der Schneide überprüfen. Duro lächelte. Dann versicherte er seinem Vater:

»Den Brief bekommst du nie. Und jetzt verläßt du uns bitte. Andernfalls wird Zora gern die Polizei holen. Frau Kostelić von gegenüber hat ein Telefon.«

Herr Mroslav starrte ihn in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und sprühendem Haß mindestens eine Minute lang wortlos an. Dann sagte er leise, ja beinahe versöhnlerisch: »Also gut, mein Junge, du hast gewonnen. Der Brief bleibt unter uns – ich vergesse mein Anliegen. Geht das so in Ordnung ..?«

Duro nickt sofort. »Das können wir so machen.«

Darauf wandte sich Herr Mroslav zur Küchentür und verließ unser Häuschen. Er verzichtete sogar darauf, die Haustür hinter sich zuzuknallen. Wir sahen ihm durchs Küchenfenster nach.

Bevor er noch außer Sicht war, merkte ich bereits, wie irgendeine Erschütterung durch seinen Sohn: unseren erstaunlich kaltblütigen Rotschopf lief. Duro beugte sich übereck zu Pavle, um den Kameraden dankbar zu umhalsen, doch dabei fing er schon zu schluchzen an und sackte Pavle geradezu in den Schoß. Es wurde ein richtiger Heulkrampf. Wir benötigten Minuten, bis wir Duro wieder einigermaßen beruhigt hatten. Wahrscheinlich hatte ihn vor allem die Erinnerung an seine Mutter aufgewühlt und niedergeschmettert. Und dann: man verliert ja auch nicht alle Tage den eigenen Vater.



12

Hätten wir Duro verloren, hätten wir das Ding im RoKuGra gleich abblasen können. Diesmal waren viele Leute nicht wegen der Schmiere, sondern wegen dem Geldbriefträger erforderlich. Er, der Wachmann mit dem hübschen Koffer, war das Hauptproblem. Schließlich stellten wir allesamt keine Kleiderschränke oder Gorillas dar. Ansonsten war die Marschlinie eher simpel: Nach Geschäftsschluß eindringen – den von oben zurückkehrenden Wachmann außer Gefecht setzen – seinen Koffer sicherstellen, sprich spurlos verschwinden lassen – den Wachmann verstecken, damit nicht jeder gleich über ihn stolperte – dann selber wieder abhauen auf dem umgekehrten Wege des Eindringens. Dies alles hatte möglichst in wenigen Minuten über die Bühne zu gehen. Kamen wir in Verzug, kam der Kumpel des Geldbrief-trägers aus seinem Panzerwagen geklettert, um seine Knollennase einmal ins Treppenhaus zu stecken. Hinderten wir den Geldbriefträger nicht daran, Lärm zu schlagen, bevor er stumm war, käme wahrscheinlich auch noch der Direktor von oben angerannt, um seinen Zaster zu schützen. Die Hauptaufgabe bestand also darin, den Geldbriefträger fast gleichzeitig sowohl am Protestieren wie am Widerstand zu hindern. Er mußte blitzschnell kampfunfähig gemacht werden. Er durfte noch nicht einmal mit den Armen und Beinen rudern, sonst hätte er womöglich die Wandvertäfelung im Treppenhaus beschädigt und seinen Kumpel oder den Direktor auf diese Weise alarmiert.

Als Ort für den Überfall auf den Geldbriefträger hatten wir die Treppenhausetage im 2. Stock festgelegt. Grundsätzlich nahmen sich die Etagen nichts. Im Grundriß betrachtet, standen die Treppen mit ihrer Krümmung auf der von Fenstern durchbrochenen Hinterhofwand. Hatte man eine Treppe bewältigt, konnte man zur Linken Lagerräume, zur Rechten einen Flur betreten, an dem Büros lagen. Er endete vor einem Fenster, das auf die schon erwähnte Hundgasse ging. Geradeaus dagegen konnte man, durch Türen, das eigentliche Kaufhaus betreten. In der Mitte dieser Wand saß der Aufzug. Die Türen zu den Lagerräumen und Büros waren anscheinend schon spätestens um 18 Uhr verschlossen, wie ich bei meiner Übernachtung festgestellt hatte. Aber was sollten wir da? Ferner gab es unweit vom Aufzug in jeder Etage einen erstaunlich geräumigen Wandschrank, der sich sowohl vom Treppenhaus wie aus dem Kaufhaus öffnen ließ. Was tut man nicht alles für die Vorschriften! Auf den Türen prangten Rote Kreuze. Jeder Wandschrank enthielt eine Tragbahre. Sie wies sogar schnallbare Gurte auf, wohl für Kunden, die angesichts der RoKuGra-Preise tobsüchtig geworden waren. Die Fachböden im Schrank ließen sich bei Bedarf entfernen, um sie einstweilen senkrecht oder sonstwohin zu stellen. Für uns war der Schrank vor allem dazu geeignet, um sich in ihm zu verstecken – oder auch jemanden anders. Mit ihm setzten wir auf den Überraschungseffekt. Nicola würde jäh die beiden Schranktüren aufstoßen, wenn der Geldbriefträger gerade den Aufzug passiert hatte, um sich der nächsten Treppe zuzuwenden. Hatten wir Glück, würde der Idiot schon dadurch in Ohnmacht fallen.

Der Aufzug würde uns ebenfalls zu Diensten sein. Ich hatte damals nämlich auch festgestellt, daß er offenbar immer erst stillgelegt wurde, wenn die Alarmanlage in Funktion trat – also immer erst, wenn der Direktor den Nerzbau verlassen hatte. Schließlich war ihm nicht zuzumuten, von seinem hochgelegenen Büro aus fünf Treppen bis zur Hinterhoftür zu bewältigen. Er fuhr eben hinab. War er mit seiner Limousine verschwunden, drückte der Pförtner den Knopf für die Alarmanlage.

Wie ich schon sagte, gingen die Seitenflure und deren abschließendes Fenster auf die Hundgasse. An dem Fenster im 2. Stock hatte ich mich damals am längsten herumgedrückt und sowohl den Verkehr auf der Gasse wie auf dem jenseitigen Grundstück beobachtet. Es wurde hier von einer rund zwei Meter hohen Mauer begrenzt, deren Krone sogar mit Scherben gespickt war. Das dortige Vorderhaus war lange nicht so fett wie das RoKuGra, sodaß von seinen Rückfenstern wenig Gefahr drohte. Der Hinterhof diente einer Baustoffhandlung, die auf die Töpfersgasse ging, als Lager- und Verkaufsplatz. In der Regel herrschte dort um 19 Uhr tote Hose. Wegen der vielen Stein-, Kies- oder Sandhaufen konnten sich Kinder dort ziemlich gut verbergen.

Sofern wir an unserem Plan bis zuletzt festhielten, würde ich leider am eigentlichen Tatort gar nicht anwesend sein. Mich wollten sie stattdessen auf das Nachbargrundstück schicken. Ich sollte mit einem Kinderwagen in der Durchfahrt des Vorderhauses aufkreuzen und notfalls, wenn einer dumm fragte, die tollpatschige junge Mutter und Besucherin mimen, die möglicherweise die Hausnummer verwechselt hatte. Mein Gott: ein Kind, das hatte mir gerade noch gefehlt! Mit einem Kind sollte ich in der Züricher Pantomimeschule antanzen …



13

Pavle wollte Boxer werden, das wird niemanden verblüf-fen. Seit Weihnachten hatte er sogar einen von Branko gebauten Punchingball, der auf dem Speicher hing und oft den ganzen Dachstuhl erbeben ließ. Sobald es klatschte (mehrmals täglich), wußte man auch im Erdgeschoß: Pavle trainiert. Boxhandschuhe besaß er nicht – zu teuer. Neuer-dings behalf er sich jedoch mit den Fingerhandschuhen aus Leder, mit denen wir Oberinspektor Fak an der Nase herumgeführt hatten.

Aber Pavle hatte noch eine andere Leidenschaft, die er sogar mit Nicola teilte. Die beiden waren ja sowieso gemeinsam zu Hause ausgerissen. Sie waren in hohe oder hochgelegene Gebäude vernarrt, also voran in Aussichts-türme, Burgen, Schlösser, Kirchen und dergleichen. Von denen sammelten sie alles Wissenswerte und natürlich Bilder. Sie hatten sogar ein Bild vom Eiffelturm (Paris) und Bilder von mehreren nordamerikanischen Wolkenkratzern. Ja, mehr noch, sie hüteten sogar ein Bild von der Burg in Senj – in Gestalt einer Ansichtskarte, die sie Janica abgequengelt hatten. Aber plötzlich, keine drei Wochen vor unserem Termin im RoKuGra, kamen sie auf die Idee, sich die Burg von Senj einmal vor Ort anzusehen. Sie wollten einen Ausflug nach Senj machen! Und zwar mit der ganzen Mannschaft, und vielleicht mit Ivana und Blazenka noch dazu, die nämlich ihre neuen Flammen waren. Sie sagten: »Vor der Arbeit das Vergnügen!« und »Das Fahrgeld hätten wir jetzt ja wohl, man müßte es nur als Geschenk von irgendwem ausgeben!« und boten noch allerlei andere Argumente auf, die uns den Ausflug schmackhaft machen sollten. Duro und Branko waren eher abgeneigt, aber nur aus Opposition. Mir dagegen gefiel der Plan, weil ich Janica bis dahin noch nie in Senj, wo sie ja wohnte, besucht hatte. Ich schickte ihr eine Postkarte, und sie schrieb gleich zurück. Im Ergebnis marschierten wir an einem Sonntag, an dem auch die beiden »Bräute« Zeit hatten, zu siebt zum Zamirer Hafen, wo es um Schlag neun losgehen sollte.

Da wir nahezu Windstille hatten, fuhr das motorgetriebene Küstenschiff durchaus pünktlich ab. Nicola und Pavle gelang es sogar rasch, sich mitsamt ihren Bräuten in die Kabine des Steuermanns zu zwängen, um Ivana und Blazenka alles genau erklären zu können: die Instrumente, die Inseln, die Thunfische und schließlich die Burg von Senj, sobald sie in Sicht gekommen war. Bald darauf konnte ich von der Reling aus Janica zuwinken, die uns am Landungssteg erwartete. Dort ging die Prahlerei gleich weiter. Am Landungssteg lungerten wie üblich etliche einheimische Rotznasen herum, die das Kommen und Gehen neugierig oder argwöhnisch verfolgten, die Küsserei zwischen zwei Weibern (Janica und mir) eingeschlossen. Dann machten sie sich an Nicola heran, den sie wohl für den Ungefährlichsten unseres Clubs hielten, und erkundigten sich, woher wir kämen.

»Na, Zamir«, teilte Nicola ihnen knapp und weltmännisch mit. »Riesenstadt!«

Da staunten sie natürlich. Dann meinte ein zöpfiges Mädchen: »In Zamir soll es sogar richtige Warenhäuser geben – stimmt das denn ..?«

Duro und Branko stießen sich bereits an und verfielen ins Kichern, ehe Nicola die gewünschte Auskunft gab. »Selbstverständlich!« sagte Nicola. »Zwei Stück – Riesendinger!«

Jetzt mußten selbst Janica und ich kichern, wenn auch wohl aus unterschiedlichen Gründen.

»Also weißt du«, raunte mir Janica ins Ohr, »der kleine Nicola hat echt eine Riesenmeise … Deshalb will er ja auch unbedingt auf diese entsetzliche Burg, von der einem schon kotzübel wird, wenn man sie nur morgens beim Brotschneiden aus dem Küchenfenster sieht …«

Ich tätschelte sie beruhigend, während sich unser Club in Bewegung setzte. Die einheimischen Rotznasen folgten uns ungefähr bis zum Marktplatz; dann wurde es ihnen wahrscheinlich zu langweilig oder zu steil. Die drei- oder viertausend EinwohnerInnen von Senj hatten Tag für Tag einen Klotz über sich, der vermutlich sogar einen Walfisch zur Flunder gemacht hätte. Er hieß mal Burg, mal Festung. Nur von ein paar mickerigen Pinien (Schirmkiefern) gekitzelt, ragte die quadratisch angelegte, lückenlos aus hellen Steinquadern gemauerte Festung fast 20 Meter hoch in den Himmel. Alle vier Ecken waren zusätzlich durch turmartige Erker markiert. Der Innenhof glich einem Schacht, in dem sich kaum ein Maultierfuhrwerk wenden ließ. Diese Festung beherbergte inzwischen ein Museum und ein sogenanntes Cafe, und beide Einrichtungen sollten sich für uns als durchaus attraktiv erweisen, obwohl wir zunächst eher mißmutig durch den ganzen Krempel stapften, den die Museumsleute in ihre Glastruhen gepackt oder an die nackten Wände gehängt hatten, die unverzichtbaren Totenkopfflaggen und Hellebarden eingeschlossen. Plötzlich tat sich jedoch ein kleiner Raum vor uns auf, in dem ausschließlich altertümliche Kopfbedeckungen gezeigt wurden.

Von allerlei kriegerischen Helmen über Hüte mit oder ohne Hahnenfedern bis zum kecken Bauernkäppi – die Vielfalt der Formen und Farben war erstaunlich. Wie sich versteht, hingen auch hier die Schilder, man dürfe um Gottes willen nichts anfassen, aber sobald die Luft rein war, wanderten die Ausstellungsstücke über die Köpfe meiner Mitstreiter, und sie bogen sich vor Lachen, wenn Nicolas Birne unter einem »Riesenhelm« verschwand, wodurch er ja nichts mehr sah, oder wenn sich Pavle ein winziges knallbuntes Käppchen auf seine Haarstoppeln drückte und es durch Grimassenschneiden wie ein Gummibällchen von einem Ohr zum anderen hüpfen ließ. Und dann entdeckte ich sie!

Es war eine dunkle, mordshohe Bärenfellmütze, die in einer etwas schattigen Ecke auf einem Sockel stand. Man kennt sie vielleicht am ehsten von den Londoner Palastwachen her. Ich hatte sofort den Gedankenblitz des Sommers. Ich sagte zu Pavle »Warte mal ..!«, nahm die sogenannte Grenadiermütze von ihrem Sockel und vertauschte sie mit Pavles Käppchen, indem ich sie ihm über beide Ohren bis auf die Schultern drückte. Den bekannten Kinnriemen benötigte er also gar nicht. Alles lachte. Pavle rang schon um Atem, und als ich ihn wieder befreit hatte, zog ich ihn in die Ecke mit dem Sockel und tuschelte mit ihm. Er verstand ziemlich rasch, grinste und nickte.

»Paß mal gut auf die Kinder auf, Janica«, sagte ich dann, »ich muß mal eben austreten.«

Der Mützenraum ging nach Osten, also nach hinten heraus. Seine schmalen Fenster lagen vielleicht acht Meter über dem Maccia-Gestrüpp, das dort wucherte. Kaum hatte ich mich hingehockt, um angeblich zu pinkeln, steckte Pavle oben seinen Kopf aus dem Gemäuer und pfiff leise. Schon kam die Bärenfellmütze angeflogen. Ich fing sie auf und versteckte sie einstweilen ein paar Pferdelängen weiter im Unterholz. Sie gleich in meinen Rucksack zu stopfen, wäre zu auffällig und gefährlich gewesen. Das Museum hatte einen Pförtner, der nicht nur den Eintritt kassierte, sondern auch jeden Besucher genau musterte, wenn er wieder ging.

Nach der Besichtigung stürmten wir das »Cafe«. Selbstverständlich ging es nach vorn heraus: zur Stadt und zur Adria. Auf Tischdecken hatte man verzichtet. Mit den gehobelten Brettern der Tischplatten hätte man die nächste Festung bauen können. Das dicke Gemäuer hatte den Vorteil, daß man hier trotz der Julihitze angenehm kühl saß. Wir ließen uns prompt Heiße Schokolade kommen, zerrten unser Stullenpaket aus Pavles Rucksack und futterten. Die Aussicht war natürlich großartig. Falls sie schon Fernrohre hatten, konnten die uskokischen Kerle, die hier einst Wache schoben, den italienischen Matronen, die in Rimini über die Strandpromenade stolzierten, beinahe bis in die Busenspalten gucken. Janica hatte mir neulich in einem Bettgespräch versichert, der Größenkult, dem seit Urgedenken alle Welt fröne, habe nicht wenig mit den Pinkelorganen der Kerle zu tun. Sie sollten ja »stehen«, wie es immer hieß, und dabei so lang wie möglich sein. Ihr Bruder habe immer gern von seiner »Lanze« gesprochen. Mitunter hätten in dieser Hinsicht schon Millimeter über das Glück oder Unglück ganzer Landstriche, mindestens aber bestimmter »Liebhaber« entschieden. Die Sache hatte mir durchaus eingeleuchtet, obwohl ich mich mit brünstigen Kerlen wenig auskannte. Jetzt, auf diesem Burgberg, dämmerte mir überdies, die Herrscher waren stets die Herausgehobenen. Paläste oder Dome in Senken gab es so gut wie nie. Auch die Villa Barac lag erhöht und schaute auf die halbe Stadt herab. Die Herrschaften waren die Ho- oder Hochheiten, und die lieben Untertanen waren so blöd, sie zu schützen und zu verteidigen und sie natürlich auch zu bedienen. Oft stellten die Untertanen das reinste Kanonenfutter dar. Und wenn die Gefechte vorbei waren, eilten sie wieder an ihre Ambosse, um die nächsten Kanonen zu schmieden.

Plötzlich wollte Janica von mir wissen, woher wir eigentlich das viele Geld hätten – für die Schiffskarten, den Museumseintritt, die Schokolade und so weiter. Ich hatte es nämlich hartnäckig abgelehnt, die Runde Schokolade auf ihre Rechnung zu bestellen. Ganz im Gegenteil hatte ich auch sie selber dazu eingeladen!

»Naja«, kratzte ich mich in meinen Fransen, »wir hatten gerade mal Glück … Wir hatten Besuch von Duros Vater. Er ist Hotelier, mußt du wissen. Und er war derart erleichtert, seinen Sprößling gesund und wohlbehalten vorzufinden, daß er uns beim Abschied einen fetten 500-Dinar-Schein in die Hand drückte … Ja, so war das. Und da jubelten wir selbstverständlich.«

Nicht nur Duros Augen waren bei dieser Geschichte immer größer geworden. Aber die Jungs verrieten mich nicht. Und Janica schien sie mir abzunehmen.

Am Nachmittag spaltete sich unsere Gruppe. Ich ging mit Janica, um einmal ihre Wohnung kennen zu lernen, während die sechs anderen durchs Städtchen zu stromern gedachten. Janica teilte sich die kleine Wohnung mit einer Kollegin, die aber gegenwärtig auf dem Lande bei ihren Eltern war. So konnte wir uns auch ungestört aneinander schmiegen und gegenseitig über unsere Lanzenlosigkeit trösten …

Für halb neun hatten wir uns am Landungssteg verabredet, obwohl das Schiff erst eine Stunde darauf ankommen sollte. Es war ja Sonntag, da fuhren die Linienschiffe länger. Janica geleitete mich. Die Jungs und ihre zwei Mädchen trudelten fast pünktlich ein. Hier am Landungssteg gab es sogar eine kleine überdachte Wartehalle. Zum Meer hin war sie offen. Wir ließen uns auf den umlaufenden Holzbänken nieder und merkten, wie müde wir waren. Branko streckte sich sogar aus und fing bald zu schnarchen an. Pavle klopfte mit Blick zu mir auf seinen prallen Rucksack, was bedeuten sollte: Da drinnen macht die Bärenfellmütze ihr Schläfchen. Nicola und Blazenka hielten Händchen. Duro zeigte mir ein Taubenei, das er in einer Blumenrabatte mit fast vertrockneten »Prachtmalven« gefunden hatte. Plötzlich fluchte ich und klatschte auf meinen nackten Oberschenkel: eine Mücke hatte mich gestochen. Was hatte eine Mücke direkt am Meer zu suchen? Ich war wirklich wütend und fluchte erneut.

»Du mußt Spucke draufmachen«, sagte Blazenka mitfühlend. »Das hilft.«

Sofort ließ sich auch Ivana vernehmen. »Meine Mutter sagt immer, fluchen täten nur die gottlosen Leute. Und die Leute, die die Welt für schlecht halten und immer mit allem unzufrieden sind.«

Das sagte sie ungefähr so spitz, wie sie selber aussah; ein dürres Mädchen mit beinahe messerscharfer Nase. Ich war wirklich verdutzt. Aber Pavle versuchte meine Ehre zu retten. Ich hatte schon gemerkt, er ist auf die Tussie nicht mehr so gut zu sprechen. Vielleicht war sie ihm nicht im gewünschten Maße entgegen gekommen. Jedenfalls war seine Laune im Burgcafe noch besser gewesen. Er winkte unwirsch ab und sagte:

»An diese Sprüche von den Erwachsenen darf man nicht so einfach glauben. Oft stimmen sie gar nicht. Mein älterer Bruder war ein ganz lebenslustiger Kerl, und trotzdem hat er fast rund um die Uhr geflucht, mehr als Zora noch.«

Das saß natürlich, wie er mit Genugtuung aus den Augenwinkeln heraus festellen konnte. Ivana gab keinen Mucks mehr von sich.

»Ja, richtig«, sprang ihm nun sogar Duro bei. »Man sieht das auch an den Sprichwörtern oder Redensarten, die sie einem immer in der Schule vorbeten. Zum Beispiel: Träume sind Schäume. Unfug! Die sind verdammt wirklich! Das merkt man ja wohl daran, wie sie einen morgens nach dem Erwachen aufwühlen oder einem noch den ganzen Tag nachgehen.«

»Das stimmt«, sagte Janica mit erstauntem, anerken-nendem Nicken. »Ich träume anscheinend Nacht für Nacht, und häufig bin ich morgens davon wie gerädert. Sie schlagen sogar auf den Körper, die Träume, obwohl die meisten sagen: alles Hirngespinste! In der Wissenschaft wird unser Traumleben oft unterschätzt, glaube ich. Es gibt aber Altertumsforscher, die vermuten, es habe ganz wesentlich zur Entwicklung der menschlichen Kultur beigetragen. Das ist fast paradox – entschuldigung: widersinnig … In der Regel sind die Ereignisse im Traumleben ja wirr, ungewöhnlich, rätselhaft. Jene Forscher nehmen nun an, dieses Chaos hätte den Frühmenschen so heftig zugesetzt, daß sie sich verstärkt darangemacht hätten, Ordnung, Regeln, ja Sinn zu schaffen. Damit sie einen Halt hätten. Ursache des ganzen Problems sei 'natürlich' ihr riesiges Gehirn gewesen. Die Tiere haben das bekanntlich nicht – weder das riesige Gehirn noch das Problem. Aber vielleicht drohe ich gerade etwas auszuufern …«

»Sehr interessant«, murmelte Duro, der ihr fast an den Lippen gehangen hatte. »Darüber könnten wir eigentlich mal einen Unterrichtstag machen.«

Janica nickte und sah über das Wasser. Es hatte sich inzwischen in einigen Farben geschuppt, die mich peinlich an jene Sahnebonbonfarben der Hortensien aus dem englischen Roman erinnerten. Es lag am heutigen »Abendrot«, das gar keins war. Die etwas verschleierte Sonne stand schon im Begriff, hinter dem Horizont zu verschwinden. Es war auch kühler geworden. Ich zog mein Strickjäckchen an.

»Ha!« ließ sich plötzlich Pavle vernehmen. »Das Sprichwort Aus Schaden wird man klug ist auch so ein Ding. Wenn es wahr wäre, bräuchten die Leute ja keine Angst mehr vor dem Tod zu haben. Wenn man doch aus Schaden klug wird? Aber sie haben alle Angst vor dem Tod, mein Alter auch. Es muß irgendwie mit dem Sinn zusammenhängen. Mit dem fehlenden Sinn. Man ackert tagein tagaus, man feiert einen Geburtstag nach dem anderen, man fällt x-mal im Leben auf die Schnauze und steht x-mal wieder auf – und warum das ganze?
Warum ..?«

Damit sah er mit einem etwas verlegenen Lächeln in die Runde. Janica und ich hätten niemals geglaubt, er könne sich zu solch einer philosophischen Rede aufschwingen.

»Niemand scheint es zu wissen«, sagte Duro achsel-zuckend und nickte Pavle dankbar zu. Gleich darauf sah er um die Ecke des Wartehäuschens, weil er mit dem Rücken gegen Rijeka saß.

Es war unser Schiff. Es hatte getutet. Es war bereits beleuchtet.

Janica erhob sich als erste, um sich ebenfalls etwas Warmes überzuziehen. Sie mußte ja gleich allein nach Hause gehen. Dann gab sie ihren jüngeren Gästen, sechs an der Zahl, reihum die Hand.



14

Wir hatten auch bei dem Kaufhaus-Ding mit dem Wetter Glück. Das hatte sicherlich auch den Direktor erfreut. Als ich am späten Nachmittag mein Häuschen verließ, war der Himmel bewölkt, aber es regnete nicht. Regen wäre sowohl in meinem Kinderwagen wie auf den beiden Dächern unangenehm, vielleicht sogar gefährlich gewesen. Die Jungen waren bereits vor mir losgezogen, aus gebührender Entfernung das Festgelände besichtigen. Den Kinderwagen holte ich im Keller einer halbverfallenen Brauerei ab, wo ich ihn deponiert hatte. Wenn ich jetzt mit den Tatort-Maßnahmen meiner Mitstreiter beginne, darf man sich nicht daran stören, daß ich gar nicht dabei war. Sie versorgten mich später natürlich mit unzähligen detailreichen Schilderungen, die sich nicht nennenswert widersprachen und offensichtlich auch der Wahrheit entsprachen, wie ja wohl der Erfolg unserer Unterneh-mung bewies. Im Falle des Scheiterns hätten die Jungs womöglich zu ein paar Notlügen gegriffen, um ihr Versagen zu beschönigen. Aber sie versagten eben nicht.

Als sie sich gegen 18 Uhr 30 zu viert auf den Speicher des Nachbarhauses schlichen, waren die Eingangstüren des RoKuGras schon seit einer knappen halben Stunde geschlossen. Der Direktor zählte jetzt das Geld, wie wir jedenfalls hofften. Auch die drittklassige Blasmusikkapelle hatte Gott sei Dank längst ihre Instrumente eingepackt und einen Autobus bestiegen. Die Konsumsüchtigen oder Schaulustigen waren auseinander gelaufen. Ja, die Beachtung und den Ruhm ernten immer die falschen Leute.

Pavles älterer Bruder war Schlossergeselle gewesen. Ihn hatte Nicola, aufgrund der eigenen Kinobesuche, schon Monate vor dem Ausreißen gefragt, ob er es vielleicht fertigbrächte, ein paar erstklassige Dietriche herzustellen. Das bejahte er selbstverständlich – und schenkte sie Nicola. Beim Ausreißen packte sie Nicola dann in seinen Rucksack, weil ja kaum abzusehen war, vor wievielen verschlossen Türen er mit Pavle womöglich zu stehen hatte. Jetzt waren es die Türen der Speicher des Nachbarhauses und des Warenhauses. Die Speichertür ins Treppenhaus des RoKuGras war also keineswegs aufwendig versperrt. Wozu auch? Dort oben war für diebische Angestellte nichts zu holen, statt Waren nur Gerümpel, und gegen äußere Feinde hatte man ja später, nach dem Feierabend des Direktors, die großartige Alarmanlage, die zum Beispiel auch die Dachfenster sicherte.

Die Jungen entriegelten und öffneten also zunächst eine Dachluke des Nachbarhauses, schlüpften durch sie ins Freie und pirschten sich, den kniehohen Giebelsims überwindend, aufs Kaufhausdach. Gott sei Dank waren sie durchweg schwindelfrei. Nun lockerten sie einige Ziegeln, blickten sich zum wiederholten Male sorgfältig nach ungebetenen Beobachtern um und fügten die Ziegel dann vorsichtshalber, diesmal von innen, auch gleich wieder ein, eben gegen SpäherInnen, notfalls auch Windstöße. Beim Abzug würden sie noch einmal dasselbe tun, nur in umgekehrter Reihenfolge. Diese Umständlichkeit war nicht zu vermeiden. Übrigens bestätigten sie mir später, das Einfügen der Ziegeln von innen sei eigentlich das Kniffligste gewesen. Deshalb hatte ich es damals auf Mutter Kostelićs Speicher gar nicht erst versucht, war vielmehr gleich von außen zu Werke gegangen, zumal ich ja vorher sowieso noch die Ziegel vom Dachrand zu holen hatte. Als die Jungen schließlich an der Speichertür standen, prüften sie die Lage im Treppenhaus. Sie bemerkten keine Menschenseele. Sie fuhren den Aufzug in den zweiten Stock und parkten ihn dort. Wie sich versteht, hatten sie alle wieder die Fingerhandschuhe aus Leder an. Vor allem Pavle, der Boxer. Außer Nicola trug jeder einen Rucksack. Während in Pavles Rucksack die ihm so gut bekannte Bärenfellmütze steckte, hatten die anderen allerlei Stricke und einen Knebel geladen. Die Mütze hatten wir zu Hause gleichsam entkernt und unten, in Stirnhöhe, auch geweitet. Jetzt half Pavle zunächst Nicola, den Rote-Kreuz-Schrank herzurichten, während Duro und Branko auf leisen Sohlen Wachgänge unternahmen. In dem Schrank würde sich Nicola verbergen. Alle vier spitzten unentwegt ihre Ohren und massierten zuweilen ihre zitternden Kniekehlen. Als Fluchtweg bei empfindlichen Störungen stand ihnen wahlweise der Weg übers Dach oder durch das Hundgassen-Flurfenster im 1. Stock zur Verfügung. Im Erdgeschoß gab es zwar auch eins, es war jedoch vergittert.

Gegen 19 Uhr hörten und sahen sie den Panzerwagen auf den Hof biegen. Sie versteckten sich, um den Geldbrief-träger unbehelligt zum Direktor in den 5. Stock steigen zu lassen. Trotz seines noch ungefüllten Geldkoffers kam er zunehmend ins Keuchen, denn er war ziemlich beleibt. Aber ein Hüne – ein Hüne mit Schnauzbart. Ein Gürtel mit Pistolentasche zierte ihn überdies. Ansonsten trug er eine Art kurzärmeliges Uniformhemd, in dessen Brusttasche sage und schreibe vier sogenannte Kugelschreiber steckten. Sie waren zumindest auf dem Balkan gerade der neuste Schrei.

Nicola probierte inzwischen seinen Schrank aus. Als sie hörten, wie der Kuli-König im Büro des Direktors verschwand, flüsterte Pavle ihm zu: »Mein Gott, hat der eine riesige Birne! Hoffentlich paßt ihm die Mütze! Hast du seine Pistole gesehen?«

Nicola hatte. »Da kann einem allmählich schon mulmig werden«, quetschte er durch den Türspalt zurück.

Pavle sprach ihm gut zu. Nach rund 10 Minuten ging oben erneut die Bürotür. Wahrscheinlich hatte der Kuli-König erst das Geld nachzählen müssen. Sie hörten seinen Abschiedsgruß und seine deftigen Schritte. Gott sei Dank kam er wirklich nicht auf die Idee, ausnahmsweise und befehlswidrig einmal den Aufzug zu benutzen. Pavle, Duro und Branko öffneten per Knopfdruck die nahezu lautlosen Schiebetüren, schlüpften hinein und ließen die Türen wieder zusurren. Dann duckten sie sich, weil die Türen in Kopfhöhe kleine Fenster besaßen und die Fahrstuhlkabine erleuchtet war. Auf diese Art gedeckt, zogen sie ihre Stricke und die Bärenfellmütze aus ihren Rucksäcken, um sie gleich bereit zu haben.

Der massige Wachmann nahm die letzte Treppe seines heutigen Einsatzes und schwenkte mit seinem Koffer auf die 2. Etage ein. Um die matt beleuchtete Fahrstuhlkabine kümmerte er sich nicht – die konnte schließlich stehen, wo sie wollte. Er dagegen wollte in Kürze Brotzeit machen: Wiener Würstchen mit Senf! Er passierte den Aufzug und hielt auf die nächste Treppe zu, die ihn eigentlich in den 1. Stock führen sollte. Da fuhr er jäh zusammen und starrte entgeistert auf die Schranktüren mit den Roten Kreuzen, die ihm fast die Nase eindrückten. Dann wollte er schreien, aber irgendwer rammte ihm ein dumpfes und dunkles, ekelhaftes Ding über die Ohren, vielleicht eine Abwasser-röhre. Sie ging ihm bis auf die Schultern. Er röchelte bereits. Gleichzeitig fühlte er sich von allen Seiten ergriffen und umschlungen, als habe sich ein Polyp aus der Adria hierher verirrt und hindere ihn vor allem am Gebrauch seiner Arme. Nun wußte sich der Mann keinen Rat mehr und fiel um.

Während Nicola die Schranktüren betätigt hatte, waren die drei anderen mit ihren Stricken und der Mütze aus der Fahrstuhlkabine gestürzt und hatten den Mann hinterrücks zugleich erschüttert, zu Fall gebracht und schon halb gefesselt. Durch die Bärenfellmütze konnte er nichts sehen und, wie gesagt, nur röcheln. Nicola hielt die Mütze eisern auf dem Schädel und den Schultern des Mannes, während ihn die anderen bereits regelrecht verschnürten. Doch dann zischte Pavle »Fertig!«, worauf Nicola die Mütze am Kinn ein wenig lüftete. Darauf verpaßte Pavle ihrem Opfer einen Kinnhaken, der sich gewaschen hatte. Der Mann hörte auf zu röcheln und zuckte auch nicht mehr mit seinen gefesselten Gliedmaßen. Anscheinend hatte er das Bewußtsein verloren, und das ist auch genau die erwünschte Wirkung, wenn man mit der Faust gezielt den Kinnwinkel trifft.

Diese Wirkung hält allerdings gewöhnlich nicht lange an, oft nur 10 oder 15 Sekunden. Deshalb rissen sie dem Wachmann sofort die Bärenfellmütze ab, banden ihm ein dichtes Tuch um Augen und Ohren und stopften ihm einen Knebel ins Maul. Einer hatte inzwischen die Trage aus dem Schrank genommen. Sie verzurrten den Mann darauf, hoben ihn mit vereinten Kräften an und wuchteten ihn in den Schrank. Nun steckte die Trage ungefähr diagonal im Schrank. Sie überzeugten sich aber, daß ihr Gefangener, der mittlerweilen blindwütig an seinem Knebel herumnuckelte, nicht so leicht imstande wäre, mit der Trage zu ruckeln oder beispielsweise mit den Schuhen gegen die Schrankwand zu pochen. Er sollte erst einmal eine Weile unauffindbar sein, sobald sein Kumpel oder der Direktor das Treppenhaus auf den Kopf stellen würden.

Seinen Koffer hatte der Mann natürlich fallen lassen. Die Angreifer waren freilich klug genug gewesen, diesen Fall abzudämpfen. Jetzt stand der Koffer bereits unweit des Flurfensters zur Hundgasse. Pavle stand ebenfalls dort. Er öffnete das Fenster und spähte vorsichtig nach den Seiten in die Gasse und über die jenseitige Hofmauer zu mir. Wir erblickten uns nahezu gleichzeitig und gaben uns mit dem vereinbarten Handzeichen zu verstehen, im Augenblick sei die Luft rein. Aber da tauchte Pavle jäh wieder unter die Fensterbank. Ich hörte auch Stimmen. Offenbar kamen gerade mehrere Leute durch die Gasse. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu warten – kostbare Zeit. Ungefähr 30 Sekunden verstrichen, während wir alle Fünfe wie auf glühenden Kohlen standen oder hockten: drei Jungen am Aufzug als Wache, Pavle unter der Fensterbank, ich zwischen einem Stapel mit Petroleumfässern und einem großen Sandhaufen, der sich einigermaußen auf der Linie des Kaufhausflures wie eine Düne an die Hinterhofmauer schmiegte. Dann gab Pavle wieder das Zeichen. Ich erwiderte es. Darauf schnappte er sich den Koffer mit beiden Händen, wog sich mit ein paar Pendelbewegungen auf ihn ein – und schleuderte ihn mit Macht über die Gasse und die Hofmauer. Glücklicherweise landete er auf dem Sandhaufen. Wäre er gegen die Fässer geprallt, hätte ich womöglich nur meine Beine in die Hand nehmen können. So aber nahm ich den Koffer.

Im Bücken sah ich mit Erleichterung, Pavle hatte das Fenster bereits wieder geschlossen. Wenn alles mit rechten Dingen zuging, zogen die Jungs – mitsamt unserer Bärenfellmütze – jetzt ab.

Der Koffer war verdammt schwer, obwohl doch angeblich hauptsächlich Papiergeld in ihm lag. Wachsam zu den Vorderhausfenstern schielend, schleppte ich ihn in die Durchfahrt, wo mein Kinderwagen wartete. Ich legte ihn hinein. Ich steckte gerade die Bettdecke zurecht, als ich vom Bürgersteig her Schritte hörte, die am Eingangstor Halt machten. Auch ein Brabbeln hörte ich. Das Tor war noch unverriegelt. Schon ging ein Flügel auf, natürlich nach innen. Ich erblickte einen bartstoppeligen Mann, der vielleicht im Haus wohnte. Mit Sicherheit war er trotz des frühen Abends nicht mehr ganz nüchtern. Er schwankte leicht und brabbelte weiter vor sich hin. Als er mich sah, hielt er jedoch inne, rieb sich die Augen und lallte:

»Na sowas! Ich habe doch gar keine Braut bestellt! … Und auch noch mit Baby, das ist ja allerhand … Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein, Madame ..?«

Tatsächlich war ich so grell geschminkt, daß mich wahrscheinlich selbst meine eigene Mutter nicht erkannt hätte. Unter meiner schicken Bluse trug ich sogar einen ausgestopften Büstenhalter.

Ich schenkte dem Zechbruder ein Lächeln und winkte ab. »Danke, es geht schon. Ich hatte mich nur für ein Weil-chen hier untergestellt – diese Blasmusik vorm RoKuGra war ja entsetzlich! Mein Baby hätte fest Schüttelfrost bekommen. Jetzt schläft es.«

»Na, dann ist ja alles in Butter«, tastete er mit einer Hand nach dem Treppengeländer und winkte uns mit der anderen noch höflich zu.

Ich beeilte mich, mit meinem Kinderwagen aus dem Tor zu kommen, das er sowieso hatte aufstehen lassen. In der Laurentius-Gasse herrschte inzwischen wieder der übliche harmlose Sommerabendverkehr. Autos durften hier nur im Schritt fahren. Polizeiwagen waren nicht darunter – noch nicht …



15

Warenhaus RoKuGra in Zamir beraubt / Wachmann kommt mit dem Leben davon / Verbleib der Beute noch unklar. Unbekannte Gauner begingen das am vorgestrigen, ausnahmsweise verkaufsoffenen Samstag gefeierte 10jährige Bestehen des Zamirer RoKuGras auf ihre eigene Art. Sie stahlen bald nach Kassenschluß die gesamte Tageseinnahme. Diese betrug etwas über 870.000 Dinar, wie Kriminaloberinspektor Tihomir Fak gestern nachmittag vor Vertretern von Presse und Rundfunk mitteilte. Die Versicherung des beliebten Warenhauses setzte eine Belohnung für nützliche Hinweise aus. Das in einem Spezialkoffer verstaute Geld sollte wie gewohnt um 19 Uhr von einem mit zwei Wächtern besetzten gepanzerten Fahrzeug in eine Bank gebracht werden. Auf dem Weg vom Direktionsbüro in den Hinterhof sah beziehungsweise fühlte sich der Wachmann, der den Koffer trug, aber unvermutet von anscheinend mindestens zwei Personen jäh der Sicht beraubt, überwältigt, gefesselt, geknebelt und in einen Schrank gesperrt. Das fand auf der 2. Etage des hinteren Treppenhauses statt. Wie die Gauner ins Warenhaus eindrangen, sei noch ähnlich rätselhaft wie das unbemerkte Verschwinden des ziemlich auffälligen Geldkoffers, sagte Fak. Zwar werde die elektrische Alarmanlage des Warenhauses immer erst nach Abfahrt des Geldtransporters eingeschaltet, doch seien zum Zeitpunkt des brutalen Überfalls sowohl der Direktor wie der Pförtner am Hinterhoftor noch durchaus anwesend gewesen. Beide haben laut Fak nichts Verdächtiges bemerkt. Der zum Paket verschnürte Wachmann wurde übrigens 20 Minuten nach dem Angriff von einem Polizisten in einem größeren Erste-Hilfe-Wandschrank entdeckt. Der zweite Wachmann hatte seinen Kollegen wegen Zeitüberschreitung vermißt und vergeblich gesucht, worauf er den im 5. Stock residierenden Direktor alarmierte. Den Kollegen im Schrank hatten die Gauner auf eine Tragbahre geschnallt. So kam er gleich ins Krankhaus, wegen Schock. »So ein armer Kerl!« empörte sich der Direktor gestern im Gespräch mit Dubrina-Post. »Dieses Trauma wird er so schnell nicht wieder los.« Dagegen habe man den Pförtner unverzüglich fristlos entlassen. Er sei ohnehin »eine stadtbekannte Schlafmütze« gewesen. Darauf hingewiesen, wegen dieser Äußerung könne ihn der Mann womöglich mit einer Verleumdungsklage überziehen, winkte der Direktor ab. »Das macht nichts. Ich bin auch privat gut versichert.«



16

Der Journalist gibt zu Bedenken, es könne mir als Unhöflichkeit, möglicherweise auch Feigheit ausgelegt werden, den Verbleib sowohl der Bärenfellmütze wie des Geldkoffers so ganz und gar im Dunkeln zu lassen. Dies umso mehr, als beide gestohlenen Objekte sicherlich moralische Fragen aufwürfen.

Ja, wenn er meint ..? Ich war damals schon heilfroh, daß meine Mitstreiter die Bärenfellmütze nicht in all der Aufregung auf dem Etagenlinoleum liegen ließen. Wer weiß, ob sie der Direktor nicht entsetzt für abgehäutet gehalten und dadurch ebenfalls einen Schock erlitten hätte. Oder er hätte gar zum Zagreber Zoo telefoniert: ob bei denen kürzlich ein räuberisch veranlagter Grizzlybär ausgebrochen wäre …

Duro hatte sie, nachdem er Pavle zu seinem Meisterwurf beglückwünscht hatte, gleich wieder in dessen Rucksack gestopft. Dann, als sich die Jungs im Nachbarhaus trennten, ging Pavle zu jener verfallenen Brauerei, in der ich den Kinderwagen abgeholt hatte. Dort, im Keller, verbrannte er die Bärenfellmütze. Es habe etwas gestunken, erzählte er uns später. Dann habe er auf die Asche gepinkelt und sei recht hurtig nach Hause marschiert, weil ihn ja doch brennend interessiert habe, wo der Koffer, den er so großartig geworfen hatte, nun gelandet sei.

»Aber stop mal, Frau Broido! Die Mütze war doch ein historisches Dokument, ein Denkmal sozusagen. Und Ihre Bande hat sie keineswegs aus einer Villa, vielmehr aus einem Museum gestohlen, das einen öffentlichen Bildungsauftrag besaß. Wenn Sie vielleicht …«

»Unfug!« winkte ich ab. »Die huldigten da in dem Museum dem Militarismus, und die Bärenfellmütze stellte überdies eine 'Inkarnation des Phallokratismus' dar, wie sich Janica später auf der Reise in die Schweiz ausdrückte. Sowas gehört gestraft! Davon abgesehen, wäre eine Rückerstattung der Bärenfellmütze, ob nun persönlich oder per anonymem Postpaket, zu gewagt gewesen. Die wußten ja, wer die Mütze sehr wahrscheinlich stiebitzt hatte: diese Kinderbande aus Zamir, mit der sich die örtliche Grundschullehrerin an jenem Sonntag im Juli umgeben hatte. Und was geschieht in Zamir nur wenige Wochen darauf? Ein traumatisierter Wachmann faselt von 'tierischem Geruch', ja sogar von 'Tierquälerei', weil ihn Oberinspektor Fak mit Fragen löchert. Nein, nein, das wäre zu gefährlich gewesen.«

»Na gut … Was wurde aus dem Koffer?«

»Ich schob ihn zunächst den halben Berg hoch. Dann hielt ich in einem kaum einsehbaren Hauswinkel an, steckte den Koffer in meinen riesigen Rucksack und ließ den Kinderwagen kurzerhand dort stehen. Da fand sich bestimmt bald ein Mensch, der ihn gebrauchen konnte. Selbstverständlich wischte ich vorher Lenkstange und Bremshebel ab. Den Rucksack schleppte ich also nach Hause und verstaute ihn vorübergehend in unserem Keller. Es war ja draußen noch gar nicht dunkel. Die Jungs hätten ihn natürlich am liebsten gleich geknackt, aber auch das war natürlich viel zu waghalsig. Wir öffneten ihn erst drei Wochen später, weil Fak, laut Zeitung, noch immer im Dunkeln tappte. Bis dahin versteckte ich den Koffer in Danilos 'Familiengarten', wie sie in Zürich dazu sagen.«

»In Danilos Familiengarten ..?«

»In Danilos Scheißhaus!«

»Na, na, na …«

»Mein Onkel und Vormund Danilo hatte einen Schrebergarten, der in der kleinen Kolonie südlich der Platanenallee lag. Er vernachlässigte ihn allerdings. Die Politik war wichtiger. Sein Aborthäuschen hatte er noch nie benutzt, hatte er mir einmal versichert. Das sei unhygienisch. Also schlich ich in der Nacht hinüber und versenkte den in einen Kartoffelsack gehüllten Geldkoffer in diesem toten Scheißhaus. Es stank noch nicht einmal, er hatte also nicht gelogen.«

»Das ist ja krass … Und wenn er sich nun in den drei Wochen doch einmal über ihrem Diebesgut erleichtert hätte ..?«

»Na und? Wir hätten den Koffer ausgepellt und den feuchten Sack liegen gelassen. Der Koffer war ja Spitzenklasse, also auch wasserdicht.«

»Und das Geld, angeblich fast eine Million Dinar, war noch in Ordnung?«

»Sie sagen es. Was meinen Sie, welche Tänzchen wir in unserem Keller aufführten! Das waren keine sittsamen, gezierten Pantomimen.«

»Was geschah mit dem leeren Koffer?«

Ich grinste.»Den gaben wir zurück.«

»???«

»Pavle ließ ihn nach drei Wochen sozusagen den umgekehrten Weg gehen. Er schlich nachts zur Hinterhofmauer des RoKuGras und warf ihn hinüber. Dann suchte er das Weite. Möglicherweise rief der neue Pförtner sofort die Polizei an, weil er, aus dem Schlummer geschreckt, einen Anschlag mit Bomben befürchtete. Der Koffer war ja leer und dröhnte. Klappern tat er übrigens auch.«

»Klappern ..?«

»Wir legten eine Kinderrassel hinein, wie sie jeder zum Beispiel auch im RoKuGra erwerben kann. Aber vor allem hatte Nicola dem bewußtlosen Geldbriefträger sämtliche vier Kugelschreiber aus der Hemdtasche geklaut. Wir hofften, Fak erstatte sie ihm zurück.«
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