Dienstag, 7. September 2021
Pingos
ziegen, 15:56h
Diese Geschichte stammt aus meinem bislang ungedruckten Buch-manuskript Schlackendörfer von 2020. Der Nordhesse Heinz Schlackendörfer, um 1965 zunächst als Privatdetektiv und Deutsch-rocksänger erwerbstätig, zieht sich in eine korsische Landkommune zurück. Prompt kommt es dort schon wieder zu einer Schießerei. Man flüchtet nach Pingos.
In den 1960er Jahren zählte Maria Schneider zu den äußerst dünn gesäten westdeutschen Frauen, denen die Marxsche Werttheorie a) bekannt, b) kein Migräne auslösendes Rätsel war. Deshalb hatte ihr an der Freien Republik Pingos besonders die Ächtung von Geld und Tausch imponiert. Wie es dort in der Wirklichkeit um die Aushebelung des unseligen Vergleichens und Aufrechnens nach mehr oder weniger / größer oder kleiner / besser oder schlechter und so weiter bestellt war, konnte sie natürlich nicht beurteilen, weil sie lediglich die erwähnte Broschüre kannte, die nun auf hoher See, während der Käptn seine große (!) Yacht um den italienischen Stiefelabsatz steuerte, als unterhaltsamer Vorlese- und Diskussionsstoff diente. Die Laune der vertriebenen RancherInnen hatte sich sprunghaft verbessert. Nicht nur hatten sie den Käptn auf Anhieb in Porto Vecchio angetroffen; er hatte auch Zeit und erklärte sich bereit, sie gegen das eher geringe Entgelt ihrer drei ziemlich alten Gebrauchtwagen nach diesem »verdammten Pingos« zu bringen, von dessen Existenz er bis dahin nicht gewußt hatte. Er fand die Sache aber spannend.
Auf die Autos konnten die 16 Emigranten leichten Herzens verzichten, weil es auf dieser Ägais-Insel, die rund acht Kilometer vor der ostkastonischen Küste lag, sowieso keinen nennenswerten Kraftfahrzeugverkehr gab. Es gab noch nicht einmal Verkehrsschilder. Mit 380 Quadrat-kilometern war Pingos fast doppelt so groß wie Elba, wenn schon wieder ein Vergleich bemüht werden darf, hatte aber lediglich rund 5.000 EinwohnerInnen. Die ungefähr nierenförmige, fruchtbare Insel wurde von einigen Gebirgen bis 1.200 Meter Höhe durchzogen. Die Sommer waren trocken und warm, die Winter mild und regenreich. Die RepublikanerInnen siedelten überwiegend in acht rundum verteilten Küstenortschaften, die in der Regel höchstens 700, mindestens 400 Köpfe umfaßten. Eine gewisse Ausnahme stellte das im Norden gelegene Hafenstädtchen Muro dar, das zwar knapp 2.000 EinwohnerInnen hatte, aber wiederum in drei »Dörfer« unterteilt war, die sich genauso wie die anderen Küstenortschaften selbst verwalteten. Im ganzen gab es also 11 »Dörfer«. Für Muro bestand eine Zuzugssperre, die später näher erläutert werden kann.
Ähnliches galt für das, was man auf dem Festland im Norden oder auf Elba und Korsika »Tourismus« nannte. Man wollte diese mit Fotoapparaten bewaffneten Affenherden auf der Insel nicht haben – folglich wollte man auch nicht ihr Geld. Pingos konnte sich weitgehend aus eigener Kraft versorgen, war also beinahe autark. Sowohl für Neugierige wie für ernsthaft Interessierte gab es strenge Einreisebestimmungen. Das im Norden gelegene Hauptstädtchen der Republik war die Anlegestelle von Fähren, die regelmäßig zwischen Muro und der ostkastonischen Hafenstadt Nokto verkehrten. Einen Flugplatz gab es nicht. Die vorhandenen Straßen und Fahrwege wurden fast ausschließlich von Pferde- oder Maultierfuhrwerken und Fahrrädern benutzt. Ansonsten gab es eine großartig funktionierende eingleisige Inselbahn, die Pingos im Stundentakt einmal zu umrunden pflegte. Ja, sie war wirklich großartig, wenn sie leider auch am vorzeitigen Ende des Helden dieser Erzählungen beteiligt sein sollte.
Gemäß Verfassung war Pingos eine freie und egalitäre Republik, die keine Bündnisse mit anderen Staaten oder Staatsverbänden einging. Zu Kastonien stand sie seit nun rund 20 Jahren in unterschiedlich enger friedlicher Koexistenz, je nach dem Regime, das auf dem Festland gerade herrschte. Ihre Gründung verdankte sie dem Zweiten Weltkrieg und der Überzeugungskraft der anarchistisch geprägten Volksfront, die die deutschen, italienischen und bulgarischen BesatzerInnen von der Insel fegte. Zwar zogen es nicht wenige damalige EinwohnerInnen vor, die Insel nach Ausrufung der Republik mit dem Festland zu vertauschen, doch dafür kamen im Laufe der Jahre libertär gesinnte Kräfte aus allen Teilen der Welt. »Nationalität« oder gar »Rasse« der Inselbevölkerung ließen sich inzwischen unmöglich bestimmen. Als Hauptverkehrssprache setzte sich Englisch durch.
Das Fundament der Inselgemeinschaft bildeten die Grundorganisationen, kurz GO's genannt. Sie umfaßten im Schnitt 77, aber nie mehr als 100 Personen, Kinder eingeschlossen. Sie regelten den Alltag ihrer Angehörigen nahezu selbstständig. Sie alle, rund 65 an der Zahl, hatten feste Namen und waren erheblich wichtiger als die Dörfer oder als das Hauptstädtchen. Sie waren auch für Neuaufnahmen oder Ausschlüsse von Republikanern zuständig, was bedeutete, daß kein »höheres« Gremium bestimmen konnte, wer zur Republik gehöre und wer nicht. Ansonsten wurde die Republik vom siebenköpfigen Inselrat verwaltet, der auf den halbjährlichen Inseldele-giertenkonferenzen (IDK's) der Republik gewählt, bestätigt – oder auch abgewählt wurde. Die IDK, von je zwei Delegierten jeder GO beschickt, war das oberste Organ der Republik. Entscheidungen mußten auf sämtlichen Ebenen im Konsens getroffen werden. Das sogenannte Mehrheits-prinzip erachtete man für ein Dschungelgesetz der kapitalistischen Industriegesellschaft: die dickere Keule entschied. Kam keine Einmütigkeit zustande, blieb es einstweilen beim Status quo beziehungsweise bei Untätigkeit – es sei denn, ein paar freche oder mutige Leute probten den Aufstand. Die wichtigsten Verständi-gungsmittel zwischen den IDK's waren die Inselbahn, das Telefon und die einzige Zeitung der Insel, das Wochenblatt Pingos Official Voice, kurz »die POV« genannt. Rundfunk und Fernsehen wurden verschmäht. Die POV war jedoch, ihrem etwas unglücklichen frühverliehenen Namen zum Trotz, alles andere als ein indoktrinierendes Regierungs-blatt. Aber sie war professionell. Die dreiköpfige Redaktion wurde genau wie der Inselrat direkt auf den IDK's gewählt, also bestätigt oder neu gebildet. Sie wurde stets zu den Sitzungen des Republikrates eingeladen, erschien aber in der Regel nur mit einem Kopf.
Da die Republik jedes Gewaltmonopol verachtete, waren sämtliche erwachsenen RepublikanerInnen bewaffnet und mehr oder weniger gut im Partisanenkampf und in der Konfliktbewältigung ausgebildet. Gewiß hätte dieser Umstand zumal in den Anfängen der Republik niemals ausgereicht, imperialistische oder andere kriminelle Übergriffe auf die Insel zurückzuschlagen. Was ihr schlicht zugute kam, war das Nichtvorhandensein der Begehrlich-keiten, die sonst solche Übergriffe veranlassen. Die Gebirge der Insel waren ihrer Gold- und Edelsteinvor-kommen längst beraubt, Öllager hatte es nie gegeben, und für den weißen Marmor allein hätte wahrscheinlich selbst der jeweilige Hampelmann im Weißen Haus von Washington keinen internationalen Konflikt riskiert. Zur Zeit tobten sich die Yankees vordringlich in Indochina aus. Im übrigen hatte Pingos Beistandsverträge mit einigen Staaten, darunter Persien und Titos Jugoslawien. Aber es hatte keinen sogenannten Verteidigungsminister. Es hatte auch keinen sogenannten Justizminister – und noch nicht einmal eine sogenannte Polizei. Alle Rechtsprechung, zuweilen auch Rechterzwingung, lag in den Händen der RepublikanerInnen selber und in den Händen der jeweils Beteiligten an einem Streit- oder Konfliktfall. Allerdings gehörte dem Republikrat der oberste Schiedsrat der Insel an – und viele hielten ihn für die wichtigste Person auf Pingos. Selbstverständlich war er auch oft eine Rätin, also eine Frau. Diese Person kümmerte sich federführend um die Verbesserung der nicht straßen- oder wassergebun-denen Verkehrsformen auf der Insel, trug in schwerwie-genden Konfliktfällen zur Schlichtung bei und betreute nebenbei auch die Volksarmee. Es war also nicht völlig ungünstig, wenn sie nicht nur einen Schreibstift oder das Diplomatenfähnchen der Republik halten konnte, sondern auch eine Pistole. Gegenwärtig bekleidete »Papa Beppe« das hohe Amt, eigentlich Giuseppe mit Vornamen. Die überraschenden Neuankömmlinge aus Korsika sollten ihn gleich kennenlernen.
2
Die schmucke weiße Yacht Corsica durfte sogar anlegen. Da die 16 Passagiere und selbst der »Käptn« die Broschüre kannten, hätten sie sich kaum wundern dürfen, wenn sie von Muros Hafenmauern aus beschossen worden wären. Aber es gab keine Kanonen. Die Sonne brannte von wolkenlosem blauem Himmel herab, es war um Mittag. Auf dem Kai kam es jetzt nur zu einem kleinen Menschen-auflauf, weil die Yacht diesen hübschen Namen trug und auch sonst ein sehenswertes Bild abgab, obwohl sie keine Segel gesetzt hatte. Der Käptn hatte wegen einer Flaute seinen Dieselmotor angeworfen. Jetzt stellte er ihn aus. Die sechs oder sieben Zuschauer auf dem Kai machten sich mit Gesten auf dies oder das aufmerksam und sprachen durcheinander. Schlackendörfer und Steffi, die eng beisammen an der Reling standen, vernahmen ein paar englische Worte; der Rest konnte kastonisch sein.
Edith, die zierliche Person mit dem schwarzen Bubikopf und der Stupsnase, ging als erste von Bord. Sie sprach nämlich von allen am besten Englisch. Sie wandte sich an den jungen Mann, der das fremde Schiff eingewiesen hatte, ein hübscher braungelockter Bengel, ohne Uniform, jedoch mit Strohhut. Edith begrüßte ihn und teilte ihm mit, sie seien sozusagen Flüchtlinge – »aus Korsika«, fügte sie mit einer Handbewegung zum Bug der Yacht hinzu.
Der Junge hob die Brauen und damit auch seinen feschen Strohhut. »Flüchtlinge, hast du gesagt? Doch nicht Piraten? Ist euch am Ende die Polizei auf den Fersen ..?«
Er meinte es offensichtlich ernst. Trotzdem lachten etliche Leute, darunter Schlackendörfer, der inzwischen ebenfalls auf dem Kai stand.
Edith unterdrückte ihr Kichern und sagte, sie hätten auf Korsika eine Art Kommune gehabt und vor allem Pferde gezüchtet, aber zuletzt seien sie von einer ganzen Horde Pferdediebe überfallen worden. Sie hätten eine regelrechte Schlacht hinter sich. Aber sie hätten gewonnen, wie er sehe. Sie seien nämlich vor der Schlacht 16 gewesen, und jetzt seien sie immer noch 16.
Die dunklen Augen des Jungen waren stetig größer geworden. Dann begann er sich ausgiebig unterm Hutrand zu kratzen. Schließlich hob er unsicher die Schultern, nickte rückwärts über den Kai auf irgendein Hafengebäude und gestand Edith, er sei ein wenig überfragt. Am besten, er rufe einmal die Rätin für Auswärtiges an, was die meine. Ob Edith mit ins Büro kommen könne?
Das bejahte sie. Francoise schloß sich an. Die anderen Passagiere sahen sich rasch in eine unterhaltsame Plau-derei mit den Zuschauern, übrigens auch in den Schatten einer Platane gezogen, unter der etwas Gras wuchs. Erfreulicherweise war das Fleckchen hundehaufenfrei. Im Hintergrund, über den Dächern der anliegenden Häuser, lugte der freistehende, weißgetünchte Glockenturm des Rathauses von Muro hervor, den Steffi aufgrund eines Fotos aus der Broschüre erkannte. Er hatte eine flachge-neigte, vierseitige Kappe. Jenseits stieg das Städtchen an. Aus der Plauderei mit den Einheimischen ergab sich vor allem, daß man »Pingos« auf der ersten Silbe gedehnt, auf der zweiten fast wie »u« auszusprechen hatte, also ungefähr »Piehngus«. Im übrigen schien das Kastonische eine zwar etwas kehlige, gleichwohl singende Sprache zu sein. Liedermacher Schlackendörfer träumte schon gleich am hellichten Tage von Übersetzungen seiner Werke.
Nach ein paar Minuten kehrte ihre Abordnung zurück, diesmal ohne den jungen Hafenmeister. Die Rätin für Auswärtiges komme höchstpersönlich, sie sei bereits unterwegs, erklärte Francoise. Tatsächlich bog die Amtsperson wenig später um eine Hausecke und hielt mit wehendem rotem Haar auf sie zu – sie fuhr Rad. Jetzt bremste sie, lehnte ihr Rad an die Platane und stellte sich erst einmal vor. »Maud O'Connor … Freut mich, Euch zu sehen, obwohl ihr Igor möglicherweise einen fur seal (Seebären) aufgebunden habt.«
Alle grinsten. Die schlanke Rätin hatte eine kräftige Nase und überragte Edith um einen ganzen Kopf. Trotz oder wegen ihrer Mähne wirkte sie bäuerlich. Wie sie später erfuhren, stammte sie aus Irland. Sie mochte um 45 sein. Lachte sie herzlich – was häufig der Fall war – wirbelten ihre Haare wie ein Funkenrad durchs Himmelsblau. An ihrer Blusentasche steckte eine Art Brosche von liegend ovaler Form – ihr Amtszeichen, wie unschwer zu erraten war. Steffi fand es ziemlich originell. Das darauf darge-stellte Republikwappen – das sie vom farbigen Umschlag der Broschüre her kannte – zeigte einen stilisierten kahlen Hügel, der sich in genau das Himmelsblau wölbte, das sie gerade über sich hatten. Aber der Hügel war bunt wie die Belegschaft eines Papageienkäfigs. Er setzte sich aus zahlreichen farbigen, ineinander greifenden Flecken zusammen, die an ein Puzzle erinnerten. Natürlich schwamm er auch wieder auf einem blauen Streifen, wohl das Meer. Diese vielteilige Miniatur war sicherlich nicht im Kartoffeldruck angefertigt worden.
Die Rätin ließ sich die Geschichte mit der Schlacht und der Flucht erzählen. Auch dabei schüttelte sie wiederholt ihre Mähne. Schließlich sagte sie: »Und woher weiß ich, daß eure Geschichte stimmt?«
Jim sah sich zur Reling um, auf die sich ihr weißbärtiger, schmunzelnder Retter gestützt hatte. »Käptn!« rief er. »Sei mal so nett und lege ein gutes Wort für uns ein. Bringe am besten auch gleich deine Pappe mit!«
Der Käptn kam und bestätigte die Geschichte. Eigentlich hieß der Käptn Michel Daudet. Er sei zwar nicht an der Schießerei beteiligt gewesen, räumte er ein, er kenne die Leute von der Ranch jedoch seit vielen Jahren, und sie zählten ohne Zweifel zu den angenehmsten Leuten, die je auf Korsika gelebt hätten. Don Martorell dagegen, der stinkreiche Hetzer von der Westküste, liege jetzt völlig zu recht unter der Erde.
Nach dieser Aussage warf er der Rätin, die im Schneider-sitz im dem über 20köpfigen Kreis unter der Platane saß, sein auf englisch abgefaßtes Kapitänspatent in den Schoß. Die Rätin las es und hob die Brauen an der Stelle, wo erwähnt wurde, Herr Daudet sei auch diplomierter Maschinenbauingenieur. Sie reichte das Papier zurück:
»Ein Gönner aus Budapest hat dem Republikrat vor zwei Wochen eine hochmoderne Kaffeemaschine verehrt. Sie hat genau eine Woche funktioniert. Kannst du sowas reparieren? Wir hätten zwar auch einen Spezialisten für Elektrogeräte in unserem Städtchen, aber der hält sich gerade als Erntehelfer an der Südküste auf.«
Der Käptn grinste schadenfroh. »Möglicherweise. Es käme auf einen Versuch an.«
»Wie lange willst du bei uns bleiben?«
»Gar nicht. Ich muß zurück, ich werde von den nächsten Kunden erwartet. Ich will heute noch ablegen, weil der Wetterbericht düster ist.«
»Aber ein Stündchen vielleicht ..?« bettelte sie.
»Das schon«, nickte der alte Mann, von ihrem Charme betört.
»Na also«, sagte sie aufgeräumt. »Aber im ganzen ist die Angelegenheit durchaus kompliziert. Ich meine: euer geballtes unvermutetes Auftauchen vor diesen lieblichen Gestaden. Laut Verfassung akzeptieren wir nämlich BesucherInnen ausschließlich dann, wenn sie a) angemel-det, b) von irgendeinem Republikaner eingeladen worden sind. Aber nun seid ihr auch gleich noch ein ganzer Haufen! Und ihr laßt sogar durchblicken, am liebsten bliebet ihr für immer hier! Ja, wißt ihr denn nicht, wie streng unsere Aufnahmebestimmungen sind?«
»Doch«, sagte Schlackendörfer und klopfte mit der Broschüre auf ihren nackten Schenkel, denn er saß genau neben ihr.
»Na also«, erwiderte die Rätin. Es schien ihre liebste stehende Rede zu sein. Außerdem gefiel ihr der dunkel-kraushaarige Seebär, der neben ihr saß. Dann blickte sie sich nach der Glockenturmuhr um. Sie mußte Adleraugen haben.
»Meine Güte, es ist schon fast eins! Ich schlage vor, wir gehen erst einmal essen. Meine GO liegt gleich hinter dem Rathaus an dem Hang, den ihr seht. Nach dem Essen gehen wir ins Rathaus. Der Kapitän repariert die Kaffee-maschine, und wir anderen unterbreiten euer verwickeltes Seemannsgarn Papa Beppe, der wird schon eine Lösung wissen. Wenn ich mich nicht irre, ist er heute den ganzen Tag anwesend. Seid ihr einverstanden?«
Alle nickten, viele schmunzelten, auch ihr Retter wieder, Michel Daudet.
3
Die meisten Häuser, zwei- oder höchstens dreigeschossig, waren aus hellen Lehmziegeln erbaut und gar nicht eigens verputzt. Auch die Ziegel- oder Schindeldächer waren sandfarbig hell gehalten, vermutlich wegen der Sonne. Die Gassen zeigten unregelmäßiges, buntes Granitpflaster – nichts für Stöckelschuhe. Hinter den Häusern lagen oft erstaunlich große Nutz- und Blumengärten. Eben um dafür Platz zu schaffen, erläuterte die Rätin, hätten die städtischen GO's im Laufe der Zeit so manches Haus abgerissen. Das habe sich sowieso mit der schon früh erklärten Entschlossenheit gedeckt, die »Hauptstadt« eher auszudünnen als aufzublähen. Man wollte keine ungesunden und ihre Umgebung unterjochenden Bal-lungen, auf keinem Gebiet. Inzwischen durften die rund 20 städtischen GO's nur noch dann neue Leute aufnehmen, wenn dafür andere in irgendein Küstendorf wechselten. Das war der oben erwähnte Zuzugsstop.
Das Auffälligste in dem Städtchen sei die Abwesenheit von Auffälligem, meinte Steffi zu Schlackendörfer. In der Tat gab es weder Reklametafeln noch Landesfahnen, weder Verbotsschilder noch Spruchbänder mit Durchhalte-parolen. Aus den Gebäuden quollen weder Rundfunk-nachrichten noch Schlager, die es in eine »Hitparade« gebracht hatten. In einer alten Linde, die vorm Depot Muro Hafen stand, schnurrte eine Turteltaube. Offenbar ein Verteilungsplatz für allerlei Güter des täglichen Bedarfes, wie sie durch die Fenster sahen. Eine Preisliste war nirgends angeschlagen. Soweit um diese Essenszeit Leute unterwegs waren, liefen beziehungsweise schlenderten sie mitten auf den Gassen. Selbst diese FußgängerInnen führten keine Kleider, Frisuren oder Köter spazieren, die irgendwelche Botschaften hinausschrien. Niemand schien hier in Eile zu sein. Die rotmähnige Rätin schob ihr Rad. Hier und dort hingen Eimer für Pferdeäpfel nebst Handfegern und Kehrblechen an Häusern oder Laternenmasten. Ihr Inhalt wanderte regelmäßig in die Gärten. Sie kreuzten eine prächtige Kastanienallee, die laut Rätin die Grenze zwischen Muro Hafen und Muro Rathaus, außerdem Trasse der Inselbahn war. Das dritte Hauptstadt-Dorf heiße Muro Mühle, erklärte Maud O'Connor. Vorm Marktplatz wurden sie von einem Wagen mit einer Fuhre Möbel überholt. Die beiden stämmigen Gäule an der Deichsel trotteten im Schritt. Am Marktbrunnen durften die Zugpferde innehalten, um zu saufen. Allerdings war es auch wirklich ziemlich heiß. Schlackendörfer nahm dem Käptn den ledernen schwarzen Werkzeugkoffer ab, stellte diesen auf den Gepäckträger der Rätin und bot ihr an, das Rad für sie zu schieben. Das gefiel ihr; gleichwohl winkte sie mit einer Hand ab und deutete dann auf das Rathaus, das zur Linken am Marktplatz lag: »Parke es bitte neben der Eingangstreppe im Schatten. Den Koffer kannst du drauflassen; hier kommt nichts weg.« Schlackendörfer verstand und befolgte ihren Rat. Der Käptn schluckte. »Möge sie rechtbehalten«, murmelte der Weißbart, während sie eine ansteigende Gasse in Angriff nahmen, die im Schatten der ehemaligen Kathedrale von Muro lag. Hier war es gleich kühler. Wahrscheinlich schwitzte der Käptn nun auch vor Bangen um seinen gutsortierten Werkzeugkoffer.
Die Küche und der große Gemeinschaftsraum der GO Seeblick lagen im Kellergeschoß des ehemaligen Gymnasiums. Da hatte man ebenfalls Kühle und trotzdem, wegen der Hanglage, eine schöne Aussicht. Gottseidank waren die Küchenleute nicht in Ohnmacht gefallen, denn nun war der korsische »Haufen« ja schon wieder nicht angemeldet. Sie meinten, das vorhandene Essen reiche. Es gab gedünsteten Fisch mit Kartoffeln und Kresse-Salat. Im Saal schmatzten, neben den neuen Gästen, ungefähr 50 Köpfe, darunter manche dicke von Kindern. Der Käptn blühte rasch auf: Einen solchen zarten Fisch bekomme man in Korsika nur, wenn man sehr gute Beziehungen habe. Er saß der Rätin schräg gegenüber, und von diesem Kompliment wurden ihre Haare fast noch röter. Sie werde es den Küchenleuten sagen.
In diesem Fall waren es drei. In der Regel hatten die knapp 70 GO's der Insel feste Küchenmannschaften, die nur in größeren Abständen wechselten. Damit sie planen konnten und nicht zu große Mengen Schweinefutter produzierten, herrschte die Gepflogenheit, sich bis 9 Uhr vormittags zum Mittagessen an- oder abzumelden. »ÜberläuferInnen« für den Tag erledigten das meist telefonisch. Auch sonst war ja viel Bewegung in den GO's: man machte Besuche, hatte woanders Besprechungen oder Arbeitseinsätze wie jener Elektriker und dergleichen mehr. Wenn man so will, wurden die gemeinsamen Mittagsmahlzeiten also ziemlich heilig gehalten. Man fand sie wichtig, weil sie den Zusammenhalt der GO und den Meinungsaustausch in ihr förderten. Denn sonst hatte man ja nur die zweiwöchent-lichen Plena und gelegentliche Feste. Der große Rest an Geselligkeit spielte sich in den Wohngemeinschaften der GO's ab, und die waren eher klein. Selbst von der »klassischen« Kleinfamilie gab es nicht wenige. Hinzu kamen hier und dort EigenbrötlerInnen, die sogar allein wohnten, etwa in einem winzigen Gartenhäuschen oder in einem alten Zirkuswagen. Dies alles war tragbar, weil man eben die GO's hatte. Jede GO besaß auch ein Büro, das über Tag stets besetzt war. Das diente sowohl der internen Absprache und Buchführung wie der Verständigung mit anderen GO's oder mit dem Republikrat. In einer Schublade lagen die Personallisten, aus denen gleichsam amtlich hervorging, wer zur betreffenden GO gehörte und somit RepublikanerIn war. Auch Säuglinge waren RepublikanerInnen. Aber nur wer schon 20 war, hatte das uneingeschränkte Stimm- oder Vetorecht. Hier wurden gegebenenfalls auch Pässe für Auslandsreisende ausgestellt. Dagegen gab es so etwas, das französischen oder westdeutschen »Personalausweisen« vergleichbar gewesen wäre, auf Pingos überhaupt nicht. Dadurch erübrigten sich nebenbei Fotokabinen für Paßbilder und jene Fingerabdruck-Karteien, die Schlackendörfer nur zu gut kannte. Man darf aber nicht denken, die Büros wären Kämmerchen gewesen. Zwar benötigte man mangels Geldverkehr keinen Tresor, aber zum Beispiel mehrere Waffenschränke. Wegen der Kinder wurde das GO-Büro bei Nichtbesetzung stets abgeschlossen. Selbstverständlich besaß jedes erwachsene GO-Mitglied einen Schlüssel. Wollte es Aufstand proben, konnte es.
Diese Einzelheiten erfuhren Schlackendörfer und ein paar andere »Korsen«, die in Mauds Nähe saßen, nach dem Fisch, während sie bereits Kaffee schlürften. Er war nicht von schlechten Eltern – aber nicht auf Pingos' Mist gewachsen. Man führte ihn, über Jugoslawien, aus Kuba ein. Natürlich gegen Devisen. Einiges Geld für gewisse Einfuhren, etwa auch von Druckmaschinen oder zahnärztlichen Bohrern, benötigte man also durchaus. Darauf kommen wir später zurück.
Als der Kaffee, nebenbei auch die Aussicht über das halbe Städtchen und den Hafen, genossen war, brachten sie ihr Geschirr zu den Rollwagen der Küchenleute und gingen zum Rathaus zurück. Fahrrad und Werkzeugkoffer waren noch da. Über der zweiflügligen, wegen der Hitze geschlossenen Eingangstür am Kopf der Vortreppe prunkte das bekannte bunte Wappen. Schließlich war das dreigeschossige Rathaus von Muro, »Souterrain« eingeschlossen, keine Stadt-, vielmehr eine Republik-verwaltung. Der Käptn ließ sich von Tom Rosebud, der als heutiger »Chef vom Dienst« im Verein mit der Kaffee-maschine in der Eingangshalle thronte, sogleich den Schaden erläutern und schnallte seinen Werkzeugkoffer auf. Die anderen wurden von der »roten Rätin« durch die Flure und die Bibliothek des Rathauses geführt, ehe sie bei Papa Beppe anklopften.
Rosebud, seines Zeichens Rat für Wirtschaft, war ein muskulöser Hüne um 40, der vermutlich auch selber gern eine Spitzhacke schwang, statt auf seine Schreibmaschine einzuhacken oder am Tage 300 Telefonanrufe entgegen zu nehmen. Das mußte er zumal als »Chef (oder Chefin) vom Dienst«. In diesem Posten lösten sich die sieben Räte täglich ab, auch übers Wochenende. Der »CD«, wie man meistens dazu sagte, hatte vormittags und nachmittags je drei Stunden hinter dem Tresen der Eingangshalle zu sitzen oder auch, bei Bedarf, auf die Vortreppe zu treten, weil sich irgendein Geschrei erhoben hatte. War er am betreffenden Tag zum Essen oder Schlafen außer Haus, konnte jeder von einer Wechsel-Tafel an der Hallenwand ablesen, wo er zu finden war. Heute stand dort also unter dem Tagesdatum: »Chef vom Dienst Tom Rosebud, Muro Mühle, GO Wasseramsel«. Der CD war für die betreffenden 24 Stunden der Sprecher, Bevollmächtigte, Koordinator und Entlaster des Rats. In Notfällen konnte er im Glockenturm Sturm läuten und beispielsweise die FahrerInnen der Inselbahn aus den Betten scheuchen. Morgens sichtete er die eingegangenen Briefe, Botschaften, Beschwerden und verteilte oder bearbeitete sie. Er gab Auskünfte, rückte Schlüssel heraus, erinnerte seine Miträte oder die POV-Redakteure an Pflichten, half der Hausmeisterin beim Heizen oder Putzen und dergleichen mehr. Zum Beispiel empfing er auch hohen Besuch aus Korsika, sogar auf französisch, wie der Käptn mit Wohlgefallen gesehen hatte. Selbstverständlich »schaffte« Daudet die Kaffeemaschine. Rosebud war begeistert, klopfte ihm fast die Schultern in den Magen und bat ihn, gleich eine Tasse Kaffee mit in den Sitzungssaal zu Papa Beppe zu nehmen, denn der habe ihn bei diesem Schock, 16 Immigranten, sicherlich bitter nötig.
Beppe war mit ihnen und der Rätin für Auswärtiges in den Sitzungssaal ausgewichen, weil dort entschieden mehr Platz war als in seinem Büro. Jetzt saßen sie auf Stühlen, die sogar gepolstert waren, im Kreis und hingen dem knapp 60 Jahre altem Schiedsrat der Republik an den eher schmalen Lippen. Gegen Athlet Rosebud hätte man Beppe für einen Schluck Wasser halten können. Er wirkte vom Scheitel bis zur Sohle unscheinbar, von seiner runden Nickelbrille vielleicht abgesehen. Ab und zu fuhr er sich mit einer Hand langsam durch seinen grauen Bürsten-haarschnitt, als wolle er sich vergewissern, sein Kopf sei noch da. Er wirkte zugleich geistesabwesend und sehr aufmerksam. Sprach er, dann leise und bedächtig. An dem dampfenden Kaffee des Käptns, für den er sich mit warmem Lächeln bedankte, nippte er wie an flüssigem Gold. Die Vorstellung, er stampfe plötzlich zornig mit dem Fuß auf das schöne eicherne Parkett, war Steffi unmöglich. Er erinnerte sie an Jim.
Edith hatte gerade die unangenehme Episode von den beiden übel verwundeten Angreifern erwähnt, denen sie den Gnadenschuß gegeben hatten. Daraufhin setzte er seine Tasse ab und blickte versonnen zu einem der Fenster, die auf den Marktplatz gingen. Schließlich seufzte er und nickte:
»Ja, der Krieg, so eine Scheiße … Ich kenne solche Geschichten vom eigenen Leib her, aus den Kämpfen hier mitten in der Stadt …« Dann sah er in die Runde: »Kinder habt ihr nicht ..?«
Edith schüttelte ihren Bubikopf. Francoise fragte etwas spitz zurück: »Ist das ein Makel?«
»Ach woher!« erwiderte Beppe mit einer beschwichtigen-den Handbewegung. »Wir haben genug eigene Kinder.«
Maud O'Connor grinste. »Vor allem du, Beppe, was ..?«
Er lächelte getroffen und winkte strafend mit dem Zeigefinger, ging aber nicht auf den Spott seiner Kollegin ein. Stattdessen wollte er jetzt wissen: »Habt ihr eine Person unter euch, die Artikel schreiben kann?«
Die meisten RancherInnen blickten sofort zu Schlacken-dörfer.
»Aha«, sagte Beppe, »prima. Wie heißt du noch einmal ..? Aha. Ich würde zunächst vorschlagen, mein lieber Heinz, du schreibst eure Geschichte in den nächsten Tagen einmal auf und reichst sie bei der POV-Redaktion ein. Sie sitzt hier im Haus. Aber du kannst sie auch per Post schicken, mit der Inselbahn. Das wäre auch schon mein zweiter Vorschlag. Ihr werft eure paar Habseligkeiten gleich in die nächste Inselbahn und fahrt zum Dorf Reez. Das liegt 12 oder 13 Kilometer südlich von hier. Dort marschiert ihr ins Büro der GO Kartoffelkäfer. Diese GO ist nämlich chronisch unterbesetzt, die haben Platz wie Heu. Ihr sagt ja sowieso, ihr bliebet gern zusammen. Bei den Kartoffelkäfern könnt ihr sicherlich erst einmal übernachten. Anderntags könnt ihr dann weitersehen. Übrigens haben sie auch Pferde, nicht nur Kartoffeln. Vielleicht findet ihr ja Gefallen aneinander. Wenn nicht, ruft mich an. Vorausgesetzt, Maud und ihr alle seid einverstanden, werde ich euch gleich von meinem Büro aus dort unten anmelden. Die sollen schließlich keinen Schreck bekommen, zumal ihr ja immer noch bewaffnet seid – oder sehe ich das falsch ..?«
Nicht nur Schlackendörfer schmunzelte. Er machte sich jetzt zum Sprecher: »Schon richtig, Beppe. Und einver-standen sind wir ebenfalls. Vielen Dank für die Gast-freundschaft.«
4
Keine drei Wochen später, Ende August 1965, erlebte eine Band ihre Uraufführung, die sich, auf Drängen der drei anderen, Reez Schlackendörfer getauft hatte. Der Rahmen dieses ersten Konzertes war noch bescheiden: der Gemeinschaftsraum der GO Kartoffelkäfer, von der die Korsen inzwischen als ProbezeitlerInnen angenommen worden waren. Die »Neuen« hatten zunächst ein altes Gehöft, das man ihnen überlassen hatte, ausgeräumt, bezogen und instandgesetzt. Es war nur zum Unterstellen benutzt worden. Ohne die Korsen umfaßte die GO lediglich 52 Köpfe. Sie hatten ferner bei der Gartenarbeit geschwitzt und beim Fischen geholfen, einmal sogar nachts. Jim und Jean hatte es verständlicherweise gleich zu den drei Gäulen gezogen, die sich die acht GO's des Dorfes Reez teilten. In wenigen Wochen würde sich Jim doch wieder zur Landwirtschaft bequemen müssen: die Kartoffelernte stand bevor. Dann würden sie je ein Pferd vor den Roder spannen, dessen Zinkenrad die Kartoffeln ans grelle Tageslicht hob. Die sandigen Äcker an den umliegenden, sanft ansteigenden Bodenwellen waren gut für Kartoffeln geeignet. Es gab aber auch ein paar Olivenhaine. Der begehrte Wein von Pingos wurde hauptsächlich weiter südlich an steileren Hängen angebaut. Er wurde fast vollständig ausgeführt und schaffte im Verein mit dem weißen Marmor den Löwenanteil der erwähnten Devisen herein. Die InsulanerInnen selber hielten sich im Konsum von Rauschmitteln sehr zurück. Ihr Nationalgetränk war unverfälschtes Wasser. Reez lag günstigerweise an der Mündung eines Flüßchens, das die Bewässerung der Pflanzungen und Bäume stark erleichterte. Allerdings war sie noch immer mühsam genug. Manchmal fühlte sich Schlackendörfer so zerschlagen, daß er seine Gitarre für einen ganzen Tag im Koffer ließ. Steffi und Bona erging es ähnlich mit ihren Bögen. Sie trainierten nach wie vor. Zwar schien es auf Pingos wenig Gangster zu geben, aber an Wühlern wie Kaninchen und Ziesel hatte es keinen Mangel. Man muß dabei bedenken: Pfeile waren nicht nur leise, sie sparten auch Munition.
Just beim Reinigen eines Bewässerungsgrabens mit Hacken, Schaufeln und Rechen waren Schlackendörfer und Edith, die Flötistin, von zwei Dörflern angesprochen worden, die schon einmal mit einer Geigerin zusammen-gespielt hatten. Das war in einem anderen Dorf gewesen. Contrabassist Dimitri und die Percussion-Frau Elena gingen wie Schlackendörfer bereits auf die 50 zu, aber ihr Feuer und ihr Fingerspitzengefühl ließen nichts zu wünschen übrig. Elena spielte verschiedene Bongos, Klanghölzer und ähnliches Schlagzeug, das man notfalls in einem großen Rucksack verstauen konnte. Da war der hagere Dimitri mit seinem Stehbaß, der seinen Kahlkopf deutlich überragte, schlechter daran. Elena war ungefähr so üppig gestaltet wie die Karlskirchener Trommlerin Ina, gleichwohl, wie Steffi, ein Wirbelwind. Die eher unge-wöhnliche Besetzung der Gruppe hatte ohne Zweifel auch ihre Reize, zumal Schlackendörfers deutschsprachiger Gesang hinzukam. Die knapp 100 ZuhörerInnen im Gemeinschaftsraum der GO Kartoffelkäfer waren jeden-falls begeistert. Mal sehen, was sich daraus machen ließ.
Schlackendörfers POV-Artikel hatte auf der ganzen Insel für viel Erheiterung gesorgt, freilich auch hier und dort Mißbilligung erzeugt. Es gab ein paar eingefleischte Pazifisten auf Pingos, die sogar die Wehrübungen ihrer Dörfer schwänzten, die ungefähr zweimal jährlich stattfanden und stichprobenartig von Schiedsrat Beppe persönlich verfolgt oder gar geleitet wurden. Die Jagd lehnten diese RepublikanerInnen meist ebenfalls ab. In die zarten Fische, die den Käptn so erfreut hatten, bissen sie allerdings herzhaft hinein, und wenn es galt, für Mühlradwellen Eichen des besten Alters zu fällen, schärften sie ihre Beile und Sägen ohne Skrupel. Für sie lebte nur, was Beine hatte und »Mama« sagen oder blöken konnte. In der eigenen GO, Kartoffelkäfer, hatten sie auch so eine Pazifistin, wie Steffi bald herausgefunden hatte, weil sie von Julia wegen des Bogenschießens angefahren worden war. Sie hatten sich damals für ein versöhnliches Gespräch in Julias Zimmer gesetzt – vergeblich. Über einem schmalen, mit Kerzen bestücktem Wandtischchen, das mit seinen geschweiften Füßen Rokoko nachahmte, hatte Julia einen Kunstdruck von Josef Navrátils Ölgemälde »Mutter und Kind« an die Wand gepinnt. Das Baby lugte der Mama über die Schulter. Das kleinfor-matige Gemälde des 1865 gestorbenen Tschechen war wolkig und sanft gehalten, fast wie ein Aquarell, und eigentlich ziemlich gut gemacht. Schlackendörfer erfuhr jedoch hinterher von Steffi, es sei widerlicher Kitsch.
Beppe und die Redaktion hatten den Artikel über den Klee gelobt. Leider erschien das Wochenblatt POV auf englisch; nur gelegentlich gab es zweisprachige oder bereits original auf kastonisch verfaßte Beiträge. Schlackendörfer liebte das Englische nicht sonderlich. Es war ihm »zu simpel, zu flach«, wie er in einem Brief an Maria meinte, mit dem er seiner alten Flamme gleich die ganze betreffende POV-Nummer schickte. In dem O des Zeitungskopfes prunkte selbstverständlich das Republikwappen, sogar in Farbe. Der vollständige Name stand nur klein darunter. Klotzige Überschriften oder Porträtfotos von den gutgeschminkten führenden Nasen der Republik gab es überhaupt nicht. Der Satz in Spalten war tadellos. Maria sollte ruhig mit eigenen Augen sehen, dieses Blatt war kein anarchistisches Kraut- und Rüben-Erzeugnis, sondern eine durchaus gediegene Plattform mit einigem sprachlichem Schliff. Es scheute auch vor philosophischen Fragen nicht zurück. Papa Beppe nannte es das »Flaggschiff« der Insel, das dieselbe unermüdlich und unbestechlich auf ein höheres Niveau zu ziehen habe. Das nannte Schlackendörfer heimlich »Bildersalat«.
Auch dieses Detail erwähnte er in dem Brief an Maria – dadurch konnte er die Klippen ihrer mutmaßlichen Wißbegier besser umschiffen. Sicherlich brannte sie darauf zu erfahren, wie sich seine Leidenschaft für Steffi oder für ein Dutzend anderer Insulanerinnen entwickelt habe. Prompt ließ sie in ihrem Gegenbrief kein Wörtchen von solchen Befindlichkeiten fallen. Sie versicherte ihm lediglich, der unaufhaltsam anschwellende Konsumrausch unter ihren Mitbürgern gehe ihr inzwischen so stark »auf den Senkel«, daß sie sich glatt selber in ein Bett der Bad Wildunger Kurklinik legen könne, die sie inzwischen leite. Das Schlimmste sei die Sucht nach sogenannter Unter-haltung, sprich Ablenkung. Kürzlich habe sie in der FR von einem Kaufhausdieb gelesen, der sich wegen des neuen Beatles-Albums Help! eine Schlägerei und Verfolgungsjad mit einem Kaufhausdetektiv geliefert habe, die ihm selber ein Auge kostete. Der Detektiv blieb unverletzt. Wert der Platte: 20 Mark. »Jetzt wird er einen Prozeß bekommen – und der Aufwand an Gerichtskosten, Bullen, Reporter und Putzfrauen eingeschlossen, die sich Herrn Erhards und Herrn Flicks Volkswirtschaft bei jeder Bagatelle leistet, dürfte mindestens 20.000 Mark betragen«, meinte sie. Im übrigen sei »das korsische Schlachtengetümmel« typisch für Schlackendörfer; sie freue sich freilich, daß er es überlebt habe.
Die Auslandspost der Insel ging über Nokto; man hatte ein entsprechendes Abkommen mit der kastonischen Regierung. Auf diesem Weg gelangten auch regelmäßig rund 150 Exemplare der POV an diverse Abonnenten in aller Welt. Was Schlackendörfer und die meisten anderen korsischen Bergschrate besonders beeindruckte, waren die GO-Vollversammlungen, meist Plena beziehungsweise Plenum genannt. Immerhin saßen da, im Fall der Kartoffelkäfer, in einem ehemaligen Wirtshaussaal, in dem sich vor dem Krieg die Kartenklopfer und Lokalpolitiker (alles Männer) duelliert hatten, rund 50 Leute im Kreis. Ein paar Säuglinge, Kranke und Greise der GO mußte man ja abziehen. Und diese 50 versuchten nicht, einander auszustechen, sondern zu verstehen. Wobei sie keineswegs wie Wasserfälle fragten oder erklärten; vielmehr stand die Tugend des Zuhörens und des Schweigens hoch im Kurs. Was sollte man auch noch seinen Senf dazu geben, wenn ein anderer dasselbe schon gut genug geäußert hatte? Für Schlackendörfer, Jim und Steffi hatten solche Vollversammlungen geradezu etwas Erhebendes. Man war eine Gemeinschaft; man war ein Organ der Republik; man saß am 50. Zahnrädchen des Rades der Weltgeschichte (von oben gezählt) und drehte an diesem mit.
Das soll nicht heißen, die Deutschen hätten in ihren Briefen und Gesprächen den Zündstoff schöngefärbt, der auch hier, wo alles Gemeinbesitz war, auf den Dorfstraßen lag. Bei der jüngsten Kartoffelernte, inzwischen schon abgeschlossen, hatte N., ein Bärtiger um 30, plötzlich eine ältere Frau angeschrien, die sich zwei Pferdelängen entfernt gerade in ihre Schürze schneuzte, und wütend eine dicke Kartoffel nach ihr geschmissen. Das Wurfge-schoß schlug ihr um ein Haar ein Auge aus, wie bei jenem Kaufhausdieb. Steffi hörte später, die Frau sei die Mutter des Bärtigen gewesen, aber das war ja noch nicht unbedingt ein Rechtsgrund. Vermutlich würden hier alte Rechnungen beglichen, meinte Schlackendörfer. Oder man mahne nie erfüllte Wünsche und Sehnsüchte an, die mit dem schönen Septemberwetter wenig und mit Kartoffeln gar nichts zu tun hätten. Der Mensch sei ein wandelndes Pulverfaß. Jim gab allerdings zu bedenken, viele Angriffe, die einem anderen etwas heimzahlen sollten, woran er gar keine Schuld habe, würden auch unterschwellig vorge-tragen, durch spitze Bemerkungen etwa, ja manchmal nur durch ein Naserümpfen. Dem konnten seine beiden Landsleute nicht widersprechen, am wenigsten Schlacken-dörfer. Sie einigten sich darauf, was auf keinen Fall helfe, sei Strafe, in welcher Form auch immer. Sie mache alles nur schlimmer.
Die Kartoffelernte selber war gut ausgefallen. Die großen Dielen von drei Scheunen waren in gelbliche Hügelland-schaften verwandelt worden. Selbstverständlich war das für eine GO und selbst für das ganze Dorf Reez viel zu viel. Man würde die Kartoffeln im Oktober sortieren, den Löwenanteil in Säcke packen und gemäß Tom Rosebuds Wunschliste per Inselbahn zu anderen Dörfern schicken, Muro eingeschlossen. Dafür bekamen die ReezerInnen vielleicht von hier Schafwolle, von dort Werkzeug, das man nicht selber schmieden oder feilen konnte. Aufgerechnet wurde dabei nicht. Es ging nach Bedarf. Und man lerne mit der Zeit, hatte ein alter »Kartoffelkäfer« gesagt, Lust am Improvisieren zu bekommen. Die Gesundheit stehe und falle weder mit Spargelstangen noch mit rostfreien Messerklingen. Oft mache gerade die angebliche Not erfinderisch. Nikos, so hieß der alte Mann, zeigte Schlackendörfer ein Sensenblatt, das er einmal aus Olivenholz geschnitzt hatte. Es habe bei so manchen Schnitten seinen Dienst getan, versicherte er, und jetzt wolle es ihm seine Enkelin abluchsen, um es unter ihrem Spiegel anzubringen, als wohlriechendes Ablagebrettchen … Grundsätzlich verfolgte man auf Pingos die Linie weitestgehender Selbstversorgung der GO's. Wurden Güter oder Leistungen unter den GO's eines Dorfes ausgetauscht, weil etwa die eine GO einen Kirschbaum, die andere eine Hufschmiedin hatte, war es kein Tausch. Es wurde lediglich umverteilt. Man verschiebe die Güter oder Kräfte, je nach Bedarf, wurde dazu auch gern gesagt. Die sogenannte »Äquivalenz«, die Gleichwertigkeit des Geldes, spielte dabei keine Rolle. Für die Koordination in den Dörfern gab es kleine Dorfräte, die von je einem Vertreter der GO's beschickt wurden. Sie trafen sich in der Regel monatlich. Leiter war der jeweilige Dorfschiedsrat, der in dringenden Fällen des Alltags Entscheidungen treffen konnte. Er wurde auch gern bei Streitigkeiten oder der Verhandlung von Vergehen als Unparteiischer hinzuge-zogen. In Reez war er derzeit eine Frau: Elena, die Trommlerin der Band.
An Tom Rosebud, den Rat für Wirtschaft, mußte Schlackendörfer auch denken, als er im kommenden Februar mit der Inselbahn nach Muro fuhr, weil er mit Maud O'Connor, der Rätin für Auswärtiges, eine kleine Besprechung vereinbart hatte. Vorher war er nur einmal zu einem Konzert in Muro gewesen, mit der Band. Da hatte die Rätin aus Irland natürlich im Publikum gesessen. Ja, es war eine etwas heikle Angelegenheit, die Sache mit der Rotmähnigen. Nicht die Besprechung, sondern die Frau. Schlackendörfer ahnte es bereits; Steffi übrigens auch. Aber all diese Liebesaffären sollen uns nur am Rande interessieren. Schlackendörfer war also in Reez in die Inselbahn gestiegen und erfreute sich verschiedener Scherze und Plaudereien mit den zufälligen Insassen oder auch einfach nur am Meer und an der Landschaft. Da die Inselbahn eingleisig war und stets gegen den Uhrzeigersinn um Pingos' gebirgiges Inneres kreiste, hatte er dafür, von Reez bis Muro, fast 40 Minuten Zeit. Die Insel hatte viele Nadelbäume und andere immergrüne Pflanzen, und das herrliche Orange der Lackierung der sich in die Kurven legenden Waggons hinzugenommen, konnte man sich auch im Winter fast wie im beheizten Treibhaus des Bad Wildunger Botanischen Gartens fühlen. Als er damals mit Steffi abgebraust war, hatten sie natürlich keine Wintermäntel in seinen zerbeulten Käfer geworfen. Bislang hatten sie aber auch keine vermißt. Bei 8 bis 13 Grad genügte eine Strickweste unter der Windjacke. Windig war es hier allerdings fast immer – im Hochsommer ein großes Glück. Mauds rote Mähne war ja im letzten August nicht vor allem wegen ihrer eher gemächlichen Radanfahrt über den Kai geflogen. War Schlackendörfer ehrlich, spürte er sie bereits um sein sorgfältig rasiertes Kinn, die erregende Mähne.
Übrigens waren die Windräder der Insel, zuweilen höher als die Platane am Hafenkai gebaut, keineswegs unum-stritten. Für manche RepublikanerInnen verschandelten sowohl die sich verjüngenden Gittermasten wie die oben angebrachten »Luftschrauben« die Landschaft bezie-hungsweise das Meer, je nach dem, von wo man gerade kam. Aber sie erzeugten eben auf recht kostengünstige und saubere Art und Weise elektrischen Strom – und von diesem fraß bereits die überall geliebte orangefarbige Inselbahn nicht wenig, denn sie fuhr mit Oberleitung.
An Tom Rosebud mußte Schlackendörfer aber nicht wegen des Stroms, vielmehr wegen des Marmors denken. Zwischen den Ostküstendörfern Vooz und Calid streifte die Inselbahn die Zufahrt zu den Steinbrüchen und die eigene Anlegestelle der Schiffe, die das »weiße Gold« entführten. Hier waren fast immer eine Reihe riesiger Marmorblöcke zu sehen, die auf ihren Abtransport nach Nokto warteten, der kastonischen Hafenstadt im Norden. Manchmal sah man auch die riesigen Bulldozer und Bagger, vor denen ihn Rosebud bei dem Konzert in Muro gewarnt hatte. Sie hatten sich nach der Vorstellung länger unterhalten. Rosebud meinte, der Anblick des lärmenden Steinbruch-betriebes sei furchtbar, nur könne man leider nicht auf den Abbau verzichten. Der weiße Marmor von Pingos brachte die meisten Devisen ein. Immerhin mußten ihn die RepublikanerInnen nicht eigenhändig brechen. Er wurde auf Konzession von einer italienischen Firma abgebaut und fortgeschafft. Man machte in Nokto oder anderswo Kacheln, Fliesen oder Küchenmöbelplatten daraus oder lud die Blöcke auf Lastwagen und Eisenbahnwaggons um. Als Rosebud neulich im Bruch gewesen sei, um mit dem Chefingenieur über ein paar neue Klauseln des Vertrages zu verhandeln, habe ihm dieser nebenbei voller Stolz eröffnet, jüngst hätte sein Firmenboß sogar einen Block zu einer Schülerin von Constantin Brancusi nach Paris geschafft. Den Namen der bildhauernden Dame hatte Rosebud nicht behalten. »Das mußt du dir einmal vorstellen!« hatte er sich Schlackendörfer gegenüber an die Stirn gefaßt. »Nur wegen einer hübschen Abweichung in der Maserung, vor allem jedoch wegen des klangvollen Namens, den Pingos-Marmor in aller Welt besitzt, treibt diese Pariser Künstlerin diesen gewaltigen kostspieligen Aufwand! Und der Firmenboß reibt sich die Hände.« – »Aber du auch!« hatte Schlackendörfer grinsend einge-wandt. – »Ja, das ist richtig, ich auch … Was tut man nicht alles für die Republik …«
Später mit Steffi allein, hatte Schlackendörfer wider Erwarten keine Attacke seiner Geliebten gegen Rosebud wegen der Schmähung der Pariser Künstlerin auszuhalten. Schließlich war sie selber Bildhauerin – oder hatte zumin-dest neulich noch eine werden wollen. Nein, sie beklagte lediglich den »Raubbau« am schönen einheimischen Gebirge und die »Schacherei um Devisen«, auf die sich Pingos eingelassen habe. Schlackendörfer entgegnete, er glaube kaum, daß dem Gebirge wegen der entwendeten Steine viel fehle. Und das Landesinnere nutze man ja sowieso kaum, man habe sogar mehrere ehemalige Ansiedelungen völlig aufgelöst. Auch für Wanderer sei der Anblick der Gebirgslücken wohl zumutbar – möglicher-weise eher als der Anblick einer Reihe von 15 Meter hohen Windrädern. Doch wie auch immer, um Sündenfälle komme man in keinem anarchistischen Projekt herum, solange ringsum der Kapitalismus blühe. Und das gälte ja auch für die Devisen. Man könne in diesen Fragen nur abwägen, was das kleinste Übel sei. Die Förderung von Marmor sei wohl der Förderung von Öl vorzuziehen, und den Feinschmeckern in Mitteleuropa den köstlichen Pingos-Wein zu kredenzen, sei immer noch besser, als ihn sich selber hinter die Binde zu kippen. Dieser merkwür-digen Logik konnte Steffi dann nicht mehr ganz folgen, weil sie bereits im Schlafanzug an ihrer Bettwand lehnte und zunehmend gähnte.
Jetzt ließ Schlackendörfer die Ostküstendörfer hinter sich, sah Maud O'Connor entgegen und knabberte nebenbei, von Kürbiskernen abgesehen, an einem neuen Lied, das sich vielleicht den weißen Marmorblöcken abgewinnen ließe, die ihm nicht so schnell aus dem Sinn gingen. Tatsächlich kam es zu dem Lied. Nicht jeder sollte gleich von ihm begeistert sein, aber es setzte sich durch, im Lauf des Jahrzehnts sogar in Übersee.
Lied zehntausend haende 2 (pdf, 16 KB)
5
Thema der Besprechung mit Maud O'Connor war Marias Wunsch, sich auf Pingos niederzulassen. Die rote Rätin hatte ein kleines Büro neben der POV-Redaktion, das nach hinten hinausging. Sie blickte auf die Dächer von Muro Mühle. Von nebenan war eine Schreibmaschine zu hören, die wie ein Rudel Schwarzspechte hackte. Normalerweise hätte Maud auch Anna Suker zu der Besprechung hinzu-gezogen, doch die Rätin für Gesundheit war gerade zu einigen Besichtigungen und Gesprächen nach Kastonien abgereist. Maud hatte der Kollegin noch von Marias Wunsch erzählen können – und es versteht sich, Suker hätte eine erfahrene Ärztin mit Handkuß begrüßt. Voraus-gesetzt, sie wolle ihrem Beruf treu bleiben, könne sich Maria vielleicht ausbilderisch betätigen und so etwas wie die »Barfußärzte« aufziehen, die neuerdings im maoistischen China aufgekommen waren. Die Poliklinik in Muro sei nicht unterbesetzt, aber auf den Dörfern fehle es ohne Zweifel noch an medizinischem Personal. Diese Idee eines Netzes gutausgebildeter SanitäterInnen fand Schlackendörfer durchaus interessant, obwohl sie selber, in Reez, Francoise hatten, die in ihrem Leben schon manchen Bruch geschient oder irgendein Grippe-Virus vertrieben hatte.
Was Schlackendörfer jedoch vordringlich beschäftigte, war die Frage, ob sich Maria zumuten sollte, ihren Chefsessel in Bad Wildungen zu räumen, um gleichsam »ins Blaue« zu fahren. Vielleicht fand sie ja keine GO, die sie aufnahm, oder sie kam mit Land und Leuten auf Pingos schlechter zurecht als gedacht. Dann hatte sie einiges Reisegeld in den Sand gesetzt und wußte noch lange nicht, wo sie nun bleiben sollte.
»Sagtest du Geld ..?« zwinkerte Maud lüstern. »Wieviel hat sie denn?«
Schlackendörfer lächelte spöttisch und überschlug es kurz. »Na, 120.000 Mark sicherlich, wenn sie ihr Auto und ihre Wohnung verkauft. Oder sagen wir: 40.000 Dollar.«
Maud schnalzte mit ihren vermutlich küssenswerten Lippen. »Das ist kein Klacks, mein lieber Genosse. Damit kann sie im Ernstfall glatt bis Peking fahren, um vielleicht Maos Leibärztin zu werden.«
»Da fällt mir ein«, sagte Schlackendörfer, »es sind vielleicht noch ein paar tausend Mark mehr. Maria hat nämlich mein Tantiemen-Konto betreut, und das müßte sie schon auflösen, wenn sie ihre Zelte in Deutschland abbricht. Ich will jedenfalls nicht wieder hin!«
»Na Gottseidank«, sagte Maud und sah ihm ziemlich eindringlich in die braunen Augen. Sie selber hatte olivgrüne, wie Schlackendörfer fand.
Sie straffte sich und winkte beschwichtigend ab. »So wie du Maria schilderst, findet sie hier immer eine GO. Aber warum nicht gleich in Reez? Habt ihr in eurem Gehöft noch Platz? Na also. Ich lade sie erst einmal ein, das ist unverzichtbar. Dafür kommst du ja nicht in Frage, weil du noch kein Republikaner bist. Was ihren ganzen Zaster betrifft, kann sie ihn rechtzeitig nach Nokto transferieren. Dort gibt es eine Bank, mit der wir arbeiten, bei der kann sie ein Konto eröffnen. Bricht sie ihre Probezeit ab, kann sie den Zaster jederzeit mit nach Peking zu Mao nehmen. Wird sie jedoch Republikanerin, wird Tom Rosebud bis an seine Zimmerdecke springen, die er sowieso fast mit seinen Armen erreicht, und ihren Zaster auf unserem Konto erwarten. Die Bank macht das schon, die verdient gar nicht so schlecht an uns.«
Schlackendörfer hatte seine Stirn in Falten gelegt. »Ich verstehe durchaus – nur, was wird denn aus ihrem fetten Geldpolster, wenn sie nach einem Jahr Mitgliedschaft als Republikanerin wieder aussteigen will?«
Sie breitete die Hände aus und schürzte bedauernd die Lippen. »Futsch ist es, mein Lieber, jedenfalls für sie. Als Aussteigerin hat sie lediglich Anspruch auf ein gewisses 'Startgeld', wie wir dazu sagen, das weitaus geringer ist. Es wird von Fall zu Fall ermessen, liegt aber in der Regel bei ungefähr 1.000 Dollar pro Kopf, ob Kind oder nicht. Man will ja niemanden in den Abgrund stürzen, selbst wenn man sich zerstritten hat.«
»Das ist aber nett von euch ..!« sagte Schlackendörfer nicht ganz ohne Ironie.
Sie wollte mit himmlischem Augenaufschlag »na also« sagen, aber das hatte Schlackendörfer erwartet, und so prustete er ebenfalls »na also« heraus. Sie lachte und schlug neckisch nach ihm. Prompt ergriff der Ex-Detektiv eisern ihr Handgelenk und durchbohrte sie mit strafendem Blick. Im Ergebnis lagen sie sich Sekunden später in den Armen und knutschten einander ab, daß es womöglich noch die hackende Schreibmaschine von nebenan übertönte. Nach fünf Minuten gingen sie Essen, denn es war schon wieder fast eins.
6
Durch Maud erfuhr Schlackendörfer anderntags beim Frühstück in ihrer GO erstmals Näheres über die Laufbahn des Inselschiedsrates und seinen Spitznamen. Als Beppe in den ersten Kriegsjahren von den italienischen Besatzungs-truppen zu den einheimischen Anarchisten überlief, war er trotz seines Alters, Mitte 30, noch keineswegs »Papa«. In Italien war er Dorflehrer gewesen. Nun bewährte er sich nicht nur als Partisan, zuletzt gegen die Bulgaren, sondern auch als Schürzenjäger. Dabei habe es der schon damals unscheinbar und bescheiden wirkende Genosse keineswegs darauf abgesehen, möglichst viele Frauen zu erobern, behauptete Maud. Sie seien einfach seinem seltsamen Charme erlegen; sie flogen auf ihn. Daher sei dieser Partisanenzeit so manches Baby entsprungen. Mit den Verhütungsmitteln kannte man sich damals noch nicht so gut wie heute aus. Um 1950, erstmals zum Schiedsrat gewählt, habe er jedoch seine heutige Gefährtin kennengelernt, Margarita, und dieses Paar fröne jetzt offenbar der Monogamie, soweit man wisse. Margarita arbeite in der GO der beiden hauptsächlich als Küchen-frau. Das wäre wohl für Stalin oder Walter Ulbricht nichts gewesen, fügte sie kenntnisreich hinzu.
Schlackendörfer grinste. Dann wollte er wissen, wieviele Kinder Beppe denn gezeugt habe.
»Ich glaube, acht oder neun.«
»Und wer ernährt die jetzt alle? Schließlich kriegt er nicht Ulbrichts Gehalt.«
»Na höre mal!« empörte sie sich. »Wer soll sie denn schon ernähren? Die Republik natürlich! Die leben hier verstreut auf der Insel und packen mit an oder lassen es sich gutgehen, je nach dem. Das heißt, einer ist neulich in die USA gegangen, der muß einen Rappel haben.«
Schlackendörfer grinste erneut. Nachdem er die Bittere Orangenmarmelade von seinem Messer geleckt hatte, erkundigte er sich: »Und warum hat er sich auf die ganzen Frauen eingelassen? Hatte er, als Partisan oder Politiker, überhaupt die Zeit dazu?«
»Beppe genießt gerne«, erklärte sie wie aus der Pistole geschossen. »Er ist kein Draufgänger und Prahlhans, aber ein Genußmensch. Da läßt er sich diese Eimer voll Zärtlichkeit und heißer Milch doch nicht entgehen! Manchmal dreht er sich in der Sonne, als bade er in ihr. Haben sich die Knospen der Rosen geöffnet, die er im Garten seiner GO züchtet, kann er allein vom Anblick und vom Schnuppern her glatt das pünktliche Erscheinen auf der Ratssitzung verschwitzen. Er genießt auch Bücher oder Artikel, die gut geschrieben sind, wie euer Käptn das zarte oder pikante Fischfilet. Sie zergehen ihm geradezu auf der Zunge. Er sagte mir einmal, wenn es ihm der Imperialis-mus gestatten würde, könnte er auf dieser schönen Insel getrost auf alle Politik verzichten.«
Etwas später, im März, erkannte Schlackendörfer, daß Beppe zwar Genußmensch, aber keineswegs Ästhet war. Beppe hatte sich im Ostküstendorf Calid ein Konzert von Reez Schlackendörfer angehört. Selbstverständlich spielten sie auch Schlackendörfers neues Lied vom Marmor und von Vietnam. Die POZ hatte inzwischen eine englische Übersetzung des Liedtextes abgedruckt, und schon für die nächste Nummer waren mehrere kritische Leserbriefe eingegangen. Schlackendörfer pinkele pauschal das Kunstschaffen an, er vergraule die mit der Linken sympathisierenden KünstlerInnen, dafür verherrliche er die politische Massenaktion, das sei »Populismus«. Diese Kontroverse spiegelte sich auch bei dem Konzert in Calid wieder. Es hatte sich eine Diskussionsrunde gebildet. Darin verteidigte Beppe jedoch das Lied und wies die Vorwürfe zurück. Als jemand einwarf, man könne doch nicht ernstlich darüber böse sein, daß Picasso den antimilitaristischen Kampf mit dem in jeder Hinsicht großen Ölgemälde Guernica unterstützt habe, erwiderte Beppe:
»Schon wahr, Genosse. Aber mußte er unbedingt berühmt und reich sein, um es zu malen? Und warum hat er es nicht auf eine Pariser Kasernenhofmauer gemalt statt auf Leinwand? Kunstwerke, die uns ergreifen, können genauso gut von völlig unbekannten Menschen geschaffen werden. So aber werden sie in die Megamaschine der Eitelkeit, des Ruhmes und des Extraprofits eingespeist, und dadurch stärken sie genau das System, das sie eigentlich bekämpfen wollen oder sollen.«
Die Diskussion in Calid blieb offen. Zum Teil rannte sie übrigens offene Türen ein. Auf Pingos gab es nämlich ohnehin keine Berufskunst im Sinne kapitalistischer oder kommunistischer Länder. Wer hätte die KünstlerInnen auch bezahlen beziehungsweise füttern wollen? Wer hätte Steffi drei Tage Kartoffellesen erlassen wollen, damit sie den Gittermasten eines Windrades mit bunten Stoffbahnen umwickeln und diese mit revolutionärem Faltenwurf drapieren könne? Schon die Stoffbahnen hätte ihr keiner bezahlt: man hätte Hemden oder Schürzen daraus genäht. Soweit auf Pingos Kunst entstand, ergab sie sich aus dem Alltagsleben oder den Feierabenden wie eben Schlackendörfers Marmor-Lied aus der Fahrt mit der orangenen Inselbahn.
Steffi bildhauerte sowieso nicht mehr. Kürzlich hatte sie erstmals die Leitung eines Lernzirkels für die rund ein Dutzend lauffähigen Kinder der GO übernommen. Aber das machte sie keineswegs hauptsächlich; sie machte überhaupt nichts »hauptsächlich«. Sie war ja ein Hans Dampf in allen Gassen. Gewiß durften ihre Kinder öfter auch malen oder basteln; schon das Errichten von Buchstaben oder Zahlen auf dem Papier war ja eine architektonische Meisterleistung. Die herkömmlichen Schulen waren auf Pingos abgeschafft, wie schon früher angedeutet. Die Lernzirkel in den GO's waren so leicht gebildet wie umgruppiert. Auch an Anleitern hatte es keinen Mangel. Sogenannte »Lehrkräfte« mitzumästen, wollte man sich nicht leisten, und deren »Pädagogik« fürchtete man sogar. Das galt auch für Bildungsbemü-hungen unter Jugendlichen und Erwachsenen der Republik. Diesbezüglich wurden in den Dörfern gleichfalls unsystematisch, je nach Bedarf, Ideen, Kräften und sogar Wetter (Kartoffel- oder Olivenernte!), Zirkel ins Leben gerufen und wieder geschlossen, die sich eine Zeitlang mit bestimmten Themenkreisen beschäftigten, die man für wichtig hielt, etwa allgemeine Erd- und Himmelskunde, Einfall weißer Heilsbringer in Süd- und Nordamerika, Grundlagen der Physik – oder eben des mitteleuropä-ischen Schulsystems, das sich vor allem dem Triumph der Dampfmaschine und der entsprechenden Bürokratie verdankte. Die Mitteleuropäer sollten jetzt nach der Pfeife von Profit und Norm tanzen. Im neuartigen Fernsehen spielten die Beatles oder irgendwelche Schlagersternchen dazu auf, die sich die mit Honig bestrichene Klinke der Aufnahmestudios wie Eintagsfliegen in die Hand gaben.
Für kurze Zeit hatte Schlackendörfer mit dem Gedanken gespielt, Rosebud ein Eckchen von Marias Geldpolster abzubetteln, um eine Plattenproduktion in Gang zu setzen. Sicherlich wären Platten von der neuen Band, aber selbst eine Wiederauflage der LP Schlackendörfer, die in manchen Berliner Läden schon zu antiquarischen Kultpreisen gehandelt wurde, im Ausland gut verkäuflich. Aber dann mißfiel ihm die Vorstellung, Marias bezie-hungsweise Adorno/Horkheimers »Kulturindustrie« zu füttern und auch noch der Moral seines eigenen Marmor-Liedes das Genick zu brechen. Rosebud meinte alternativ, in Mitteleuropa seien gerade kleinformatige, preiswerte sogenannte Tonbandkassetten vorgestellt worden, die jeder in einer Art Kofferradio abspielen könne. Das könne doch vielleicht so kostengünstig wie demokratisch sein. Sicherlich müsse man ein Tonstudio einrichten, aber wenn man das einmal hätte, könne man von einer »Mutter« in einer Woche Hunderte von Kassetten ziehen, und nach ein paar Monaten könne man schon die ganze Insel damit überschwemmen. Eben das war das Problem. Aber das sahen die beiden Männer in dem betreffenden Sondie-rungsgespräch noch nicht. Ob sie es bei dem nächsten vielleicht gesehen hätten, läßt sich schwer einschätzen. Es kam nicht dazu, weil Schlackendörfer Ende Mai noch einmal Detektiv spielen mußte. Das brach ihm das Genick.
Das Problem ist das der Grenze, der Beschränkung, des Maßhaltens. Es war selbst für gestandene Anarchisten sehr schwer, beispielsweise den Verlockungen des sogenannten Fortschritts zu widerstehen. Der Fortschritt haßt Grenzen. Er feuert stets zur vollen Ausschöpfung an. Man beginnt mit 10 Tonbandkassetten – und nach wenigen Wochen schreien Hunderte RepublikanerInnen nach eigenen Kassettenrecordern: zunächst für jede GO, bald darauf für jeden, der zwei Beine und zwei Ohren hat. Die ganze Insel dröhnt vor Musik, man versteht sein eigenes Wort nicht mehr und könnte die wenigen Baumfalken, Misteldrosseln und Bienenfresser, die man hatte, eigentlich braten. In dieser Hinsicht mußte man Reez Schlackendörfer immerhin zugute halten, daß sie bislang ihr Verlangen nach elektrischen Tonverstärkungen und schrankgroßen Boxen im Zaum hielten. Man mußte auch Rosebud loben, der den steigenden Stromverbrauch mit Sorge betrachtete und regelmäßig das Loblied der Hand- und Pferdearbeit sang, weil er die Insel nicht mit Windrädern zu spicken gedachte, bis sie einem Igel glich.
Witzigerweise haßte der typische Mitteleuropäer Grenzen in städtebaulicher Hinsicht keineswegs, ganz im Gegenteil. Er war geradezu in sie vernarrt. Es ging Schlackendörfer auf, nachdem er wegen Maud öfter in Muro weilte. In Muro herrschte eine wohltuende nahezu vollständige Abwesenheit von Zäunen, Mauern, Hecken und dergleichen Instrumenten des Abteilens. Nur ein paar Hühner und Pferde waren eingepfercht. Dachte er dagegen an Karlskirchen oder Porto Vecchio, sah er sich einer einzigen Ausschweifung des Abteilens gegenüber. Was tat man dort nicht alles, um sich den Nachbarn, den Hund des Nachbarn, Ganoven und BesucherInnen, ja die ganze Welt vom Leibe zu halten! Selbstverständlich wurde dieser Festungskrieg mit allerlei Schnörkeln und Bändern verbrämt – eben mit Ästhetik, um an Brancusis Schülerin zu erinnern. Als er einmal mit Maud über seine Beobachtung sprach, erzählte sie ihm eine hübsche Geschichte aus Torquay an der englischen Südküste. Die rote Irin hatte um 1955 vorübergehend einen Liebhaber in der damals noch kleinen Küstenstadt. John sei schon Anarchist, aber nach wie vor leidenschaftlicher Statistiker gewesen, was er studiert hatte. So hätte er sich eines Tages vor einen Stadtplan gesetzt, um einmal über den Daumen zu peilen, wieviel Meter an handfester Begrenzung ein jedes Grundstück in Torquay aufweise, Fried- und Schulhöfe eingeschlossen. Diesen Wert habe er dann per Rechenschieber mit der Anzahl der Grundstücke multipliziert. Die abschließende Kilometerzahl sei gigantisch gewesen; sie habe sie leider vergessen. John multiplizierte sie dann auch noch mit einem Mittelwert der Kosten des Bauens und des Errichtens der Zäune – und der Pfundgesamtbetrag sei in die Hunderttausende gegangen, für nur eine kleinere Stadt! »Davon hättest du dir ein fußballstadiongroßes Tonstudio einrichten können, mein Schatz«, schloß sie ihr Gedenken an Liebhaber John.
»Torquay, Torquay …« rieb sich Schlackendörfer die Stirn. »Lebt da nicht der Schriftsteller Sean O'Casey, ein Landsmann von dir ..?«
»Das ist richtig. Ich sah ihn hin und wieder auf der Straße.«
»Und was hälst du von ihm?«
Sie machte pah! und winkte ab. »Ein kommunistischer Laberkopf. Vergiß ihn.«
Im Grunde betraf die Klemme der Grenzziehung, die stets Widersprüche unter dem Deckel halten möchte, alle menschlichen Bereiche. Ein anderes Mal sprach er mit Maud über ihr Bedauern, anstelle der halbjährlichen Delegiertenkonferenzen kein Inselplenum zu haben – Vollversammlungen der ganzen Republik, durch die sich jene Konferenzen erübrigen würden. Sie wußte mehrere küstennahe Stellen in den Bergen, die sich aufgrund der natürlichen Beschaffenheit dazu eignen würden, mit vertretbarem Aufwand nicht etwa ein Fußballstadion, vielmehr ein großes, mindestens halbrundes Griechisches Theater für ungefähr 4.000 Leute zu bauen. Ein Architekt habe ihr versichert, es könne in akustischer Hinsicht so angelegt werden, daß man noch in der obersten Reihe jedes Wort verstehen könne, das Papa Beppe unten auf der Bühne vor sich hinnuscheln würde. Selbstverständlich könnte man diese Freiluft-Arena auch für Konzerte nutzen oder gleich das Republikplenum in Früh- und Spätsom-merfeste verwandeln. Aber die Sicherheitsfrage sei ungelöst. Hier stünden sich das Bedürfnis nach Freiheit – vor allem von Hierarchie! – und das Bedürfnis nach Schutz gegenüber. Schließlich besitze man keine Nationalgarde, die die Küsten dienstbeflissen bewachte, während sich im Freilufttheater die Idioten der Basisdemokratie austobten. Und solche Versammlungen ließen sich ja schlecht verheimlichen; sie würden im Gegenteil, zwecks Vorbereitung, in der POV ausgewalzt, und die gehe bekanntlich auch ins Ausland. Ergo hole man sich jede Wette Dutzende von Piraten und Saboteure ins Haus, die Pingos während des Republikplenums nur zu gerne auf den Kopf stellen würden. Beppe brüte bereits seit Jahren über diesem Problem, aber selbst einige beschlagene VölkerkundlerInnen, die er angeschrieben habe, konnten ihm keine befriedigende Lösung anbieten, sei es aus dem Neandertal, aus den Great Plains oder von den Fidschi-Inseln. Sie alle hätten ihre Aufpasser gehabt – Männer selbstverständlich. »Die Weiber hockten in der obersten oder hintersten Reihe und strickten Papa Beppe ein Jäckchen …«
Einige InsulanerInnen hatten übrigens vorgeschlagen, die Wache aus Sympathisanten zu bilden, die Pingos auf dem kastonischen Festland hatte. Das wurde jedoch von anderen mit dem wachsamen Hinweis verworfen, wer die Insel zu schädigen wünsche, habe eine solche Hilfstruppe im Nu mit mindestens einem Spion gespickt. Schutz durch Massensympathie wäre natürlich etwas anderes gewesen – nur, die genoß man leider noch nicht.
Für Ende Mai kündigte sich die Medizinerin Maria Schneider an. Wie sich versteht, gedachte Schlackendörfer, sie im Hafen von Muro feierlich zu empfangen, sogar mit einem Ständchen, also mit Musik, aber auch dazu kam es nicht mehr. Er verpaßte ihre Ankunft um zwei Tage.
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In den Anfängen der Republik hatte es die erregendsten inselweiten Debatten merkwürdigerweise in zwei eher unwesentlichen Fragen gegeben: Hundehaltung und Plakatierung. Beide Debatten wurden mit knapp gehal-tenen Richtlinien der Delegiertenkonferenz abgeschlossen, die umgehend in der POV veröffentlicht wurden. Die Sache mit der Hundehaltung können wir uns ersparen. Selbstver-ständlich riet die Konferenz von der Hundehaltung ab.
Die Plakatierungsdebatte war durch den Unmut vieler Leute über vermehrtes Erscheinen von Plakaten, Spruchbändern, an die Mauern gepinselte oder auf Anstecker geschriebene Parolen und dergleichen ausgelöst worden – also, wie Beppe es dann zusammenfassend nannte, über »die Beschlagnahmung des öffentlichen Raumes durch einige Hohlköpfe aller Ebenen« … Die Hohlköpfe verteidigten ihr Begehren hauptsächlich mit ihrem »natürlichen Recht«, den öffentlichen Raum für Nachrichten und Botschaften zu nutzen. Doch die Argumentation der Gegenpartei um Beppe setzte sich durch. Diese Genossen traten für das natürliche Recht, ja sogar die Würde der Dinge ein. Man dürfe ein Haus oder einen Baum nicht zum Träger von Texten oder Bildern herabstutzen. Sie seien etwas für sich, das eine bestimmte Ausstrahlung habe und aufgrund dessen erkannt und anerkannt sein möchte. Für Nachrichten oder Botschaften habe man schließlich eigens dafür geschaffene Einrich-tungen, voran die POV, ferner die Schwarzen Bretter in den GO's und so weiter. Eine Zeitung fungiere von vornherein als Mittel für Mitteilungen – eine Hauswand oder ein Hemd nicht. Hauswände, Hemden und Fensterscheiben besäßen verschiedene Eigenschaften, die uns zum Beispiel schützen könnten. Würden sie dagegen bepflastert, gespickt, verunstaltet, griffen sie uns an.
Als Schlackendörfer die Richtlinie gegen Plakatierung einmal nachgelesen hatte, war er belustigt und bewunderte nebenbei wieder einmal Beppes Scharfsinn. Als er dann jedoch, Ende Mai, von Maud kam und in der Kastanien-allee in die Inselbahn steigen wollte, sah er beinahe rot. In der Regel bestanden die »Durchgangszüge« aus drei Waggons und dem Triebwagen – allesamt durch kurze schaukelnde Schleusen verbunden und rein orange lackiert. Nun aber war ein Waggon recht wild und bunt, wenn auch nicht ganz ungekonnt, auf beiden Seiten, wie er sich überzeugte, jeweils um die Fenster und Türen herum mit verschiedenen Bildern und Sprüchen bemalt. Die größten Lettern verkündeten Fuck die POV. Die größte dargestellte Person hatte ein Gebiß wie ein Bagger aus dem Marmorbruch und selbstverständlich einen Penis wie ein geiler Hengst. Die Zugführerin hatte den Sänger aus Reez bereits gesehen und rief aus ihrem Fenster: »Schlacken-dörfer, haben die denn ein Rad ab?!« Sie war zunächst machtlos. Der Zug hätte so in der Wagenhalle gestanden, berichtete sie, und sie konnte den verzierten Waggon ja kaum auf die Schnelle tapezieren. Sie war schon zweimal um die Insel gefahren, und im Rathaus klingelte wahrscheinlich schon das Telefon auf dem CD-Tresen Sturm.
Schlackendörfer kochte. Er stellte seine Heimfahrt einst-weilen zurück und folgte seinem Karlskirchener Jagdin-stinkt. Es war gegen 10. Er befragte die AnwohnerInnen der Wagenhalle und verschiedene andere Leute in Muro. Das führte ihn rasch auf die Fährte. Freilich war er nicht so dumm, den Argwohn der mutmaßlichen »KünstlerInnen« zu wecken. Schließlich war anzunehmen, sie würden sich doch nur herausreden, und eine Woche darauf hätten sie den nächsten Waggon bemalt. Es handelte sich um eine Clique von Jugendlichen aus Muro Mühle, die schon früher durch verschiedene Störmanöver aufgefallen waren. Vielleicht hatten sie in ausländischen Blättern, die in der Rathaus-Bibliothek auslagen, von den Graffiti-Künstlern der Londoner U-Bahn gelesen, oder in einem Auslands-sender davon gehört, und wollten nun selber einmal Ähnliches versuchen. Ein Radio mit selbstgebastelter Antenne besaßen sie jedenfalls.
Schlackendörfer setzte Maud ins Bild und nutzte das Mittagessen in ihrer GO zu einer kleinen Ansprache. Darauf meldeten sich umgehend vier Personen, die die von ihm vorgeschlagene Einschätzung und Marschroute einleuchtend fanden und mit ihm an der Spitze ein Verfolgungsgrüppchen bildeten, das sich noch am Nachmittag beriet und seine Vorbereitungen traf. Wenn scheinbar erst einmal keine Abwehr stattfindet, hatte Schlackendörfer ausgeführt, werden sich die Leute in Sicherheit wiegen – und schon in der kommenden Nacht den nächsten Waggon verzieren. »Dann können wir sie auf frischer Tat ertappen und ein Schlichtungsverfahren einleiten.« – »Und wenn sie bei unserem Eingreifen flüchten?« gab Nanos zu bedenken. »Sollen wir sie dann durch ganz Muro verfolgen? Ihre Identitäten haben wir ja dann eigentlich schon.« Schlackendörfer riet zur Verfolgung. »Entkommen sie, laufen sie möglicherweise vor Wut oder Stolz Amok und richten weitaus größeres Unheil an. Gefangennahme ist besser.« Dem schlossen sich auch Manolis, Paul und Evgenia an, die einzige Frau in der Gruppe.
Nur mit Taschenlampen bewaffnet, gingen die Fünf gegen Mitternacht unweit der Wagenhalle in Stellung. Schlackendörfers Witterung war richtig gewesen. Um eins näherten sich vier Jugendliche, von denen zwei Rucksäcke trugen. Immerhin hatten auch sie eine Frau dabei, ein Mädchen mit einer Mähne bis zum Gürtel. Dann blieben die beiden Jungen ohne Rucksack zurück, weil sie offen-sichtlich auf jeder Längsseite der Wagenhalle Schmiere zu stehen hatten. Der dritte Junge verschwand mit dem Mädchen in der Halle. Gleich darauf sahen sie schwach eine Taschenlampe aufleuchten und vernahmen noch dünner das Knacken, das beim Anheben von Farbdosen-deckeln entsteht. Nun schlichen sich die fünf Verfolger-Innen nacheinander erst an den einen, dann den anderen Wachposten heran. Sie hielten den Jungen jeweils von hinten den Mund zu, versetzten ihnen einen Leberhaken, sodaß sie zusammenklappten, und knebelten und fesselten sie. Diese Stillegung der Wache klappte wunderbar. So schlichen sie weiter zu einer Seitentür der Halle und dran-gen lautlos in die Nähe des angeleuchteten Waggons vor.
Offenbar verfügten die beiden KünstlerInnen über eine ausgesprochen starke Stablampe für mindestens vier große Batterien. Sie hatten sie auf einen Schemel gelegt. Wie sich später herausstellte, stammte sie just aus der Werkstatt der Wagenhalle. Nun malten die beiden im Schein dieser Lampe geschwind, als gelte es einen Weltrekord zu brechen. Fehlte nur noch ein Kassettenrekorder mit Musik Marke Help! Ungefähr zwei Quadratmeter der Waggon-wand waren bereits verwandelt. Dann riefen die Fünf aus dem Dunkel heraus im Chor:
»Hallo ..!«
Natürlich fuhren die beiden zusammen. Dann ließen sie freilich sofort ihre Pinsel fallen und nahmen Reißaus. Der Junge war jedoch geistesgegenwärtig genug, die auf dem Schemel liegende Stablampe an sich zu reißen. Die Farbtöpfe ließ er stehen – prompt trat Manolis in der Eile mit einem Schuh in die Farbe Blau hinein.
Die Flüchtlinge mußten sich in und an der Halle gut auskennen, denn sie wurden von ihren Verfolgern erst auf dem Hof erblickt, und da hatten die beiden schon 20 Meter Vorsprung gewonnen. Das Mädchen erwies sich sogar als flinker, es tauchte bereits in die Beerensträucher eines benachbarten Gartens. Schlackendörfer hielt die Spitze und klebte dem Jungen jetzt bis auf Pferdelänge an den Fersen. Doch als dieser ebenfalls im Garten untertauchen wollte, meinte er wohl, den kenne er auch im Dunkeln wie seine Hosentasche. So wandte er sich blitzschnell um und warf seine nach wie vor leuchtende riesige Stablampe mit aller Kraft nach seinem engsten Verfolger.
Zwar duckte sich Schlackendörfer sofort zur Seite, aber das Wurfgeschoß traf ihn gleichwohl noch an der Schulter, leider auf der anderen Seite. Dadurch verlor er das Gleichgewicht und stürzte, während ihm die eigene Taschenlampe aus der Hand fiel, in die längliche Grube einer ausgedienten Brückenwaage für Güterwaggons. Das geschah so unglücklich, daß er mit dem Kopf an eine eiserne Strebe schlug, sonst hätten ihm die 1 Meter 50 in die Tiefe womöglich nur Prellungen beigebracht.
Seine keuchenden MitstreiterInnen hielten selbstver-ständlich sofort inne. Sie leuchteten erschrocken in die Grube und kletterten auch schon hinab. Schlackendörfer atmete noch, schien freilich bewußtlos zu sein. Paul hatte in jener Woche Dienst im Büro der Wagenhalle. Deshalb rannte er jetzt dort hin und rief in der Klinik an. Das Krankenauto kam, mit Sirenengeheul, fünf oder sieben Minuten später. Aber als es wieder in der Klinik eintraf, war Schlackendörfer bereits tot.
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Da die aktuelle Ausgabe der POV bereits zwei Tage darauf erschien, konnte kein Artikel mehr über den Vorfall eingerückt werden. Die Redaktion mußte sich vorläufig mit einer kurzen, eingerahmten Todesmeldung begnügen.
>>Heinz Schlackendörfer, geb. 1925 in Deutschland, seit kurzem Vollmitglied der GO Kartoffelkäfer in Reez, ist am 26. Mai 1966 auf der Fahrt zur Klinik im Krankenauto gestorben. Er hatte in Muro Hafen bei der Verfolgung eines Übeltäters einen schweren Unfall, für den er nichts konnte. Heinz war auf Pingos sehr glücklich, und er hat der Insel in nur einem Dreivierteljahr viel gegeben. Aufgrund seiner Freundschaften und seiner Lieder wird er sehr wahrscheinlich unvergessen bleiben. Beppe Manotti für den Rat der Republik.<<
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