Mittwoch, 20. Juni 2012
Die Sieger von 68
Zum Gegenlesen des Korrekturabzuges meines Buches Der Fund im Sofa (2009) erklärt sich unerwartet ein Bekannter aus Eisenach bereit, den ich einmal Tobias nennen will. Vielleicht hätte ich mir sein Angebot noch einmal durch den Kopf gehen lassen sollen. Zum Entgelt dafür, kein Honorar zu beanspruchen, verpaßt er mir nämlich einen gehässigen Nasenstüber, der sich auf die Geschichte Letzter Ritt einer VIP bezieht. „Dieser Text kann (und soll?) natürlich als Gebrauchsanweisung für gescheiterte und frustierte 68er gelesen werden, sich durch kriminelles Handeln neue Geltung zu verschaffen!“ hat mein Korrektor Tobias darunter geschrieben.

Worum geht es? Die Kriminalkommissare Köfel und Luckenwalde aus Gotha verfolgen ein Galopprennen auf dem nahen Boxberg. Schirmherr der Veranstaltung ist Ex-„Verteidigungsminister“ Friedhelm Märklin, der den Deutschen unter Schröder gemeinsam mit Außenminister Fischer Greuelopern à la Balkan servierte. Es wird klar, daß ihn weder Köfel noch der Bratwurstbräter Peter Reutenborn ausstehen können. Dieser kennt Märklin noch aus der Juso-Zeit in Lüneburg. Während Märklin Karriere macht, scheitert Reutenborn in diversen linken Projekten und zieht sich auch noch eine seltsame Atemwegserkran-kung zu, die ihn wie ein gefesselter Braunbär „knurren“ läßt. Er muß sich glücklich schätzen, wenn ihn Wöhler, Betreiber eines Ausschankwagens, für einen Hungerlohn an den Bratwurstgrill stellt. Das Faß läuft über, als Märklin vom VIP-Turm des Tribünengebäudes herabruft, der Kamerad mit der roten Schürze möge doch bitte so gut sein, ihm (und seiner Bewunderin) seine beiden „knus-prigsten Sticks“ hinaufzubringen. Reutenborn tut es und stürzt den Ex-Minister über die Fensterbrüstung.

Köfel nimmt den Attentäter fest, schützt ihn aber auch vor einigen aufgebrachten Prominenten, die gerne Lynchjustiz übten. Märklin stirbt im Krankenhaus. Köfel erfährt von seiner neuen Geliebten Jule, sie kenne Peter Reutenborn aus der Kommune Schloß Tonndorf, die er inzwischen verlassen hat. Sie deutet unbewältigte Kinderstuben-probleme Reutenborns an, bestätigt im übrigen, er habe seit längerem eine enorme Wut „auf die Sieger von 1968“. Köfel versteht. Er wird Reutenborn die Strategie eines politischen Prozesses empfehlen, bei dem es eben jenen Siegern „ans Eingemachte“ geht. Er will sich sogar an den Rechtsanwaltskosten beteiligen, worin ihn Jule ermuntert. Soweit die Geschichte.

Für mein Empfinden stellt sie mit keinem Wort und mit keinem Leerzeichen die Aufforderung dar, Reutenborn in solchen „kriminellen Handlungen“ nachzueifern. Sie deutet aber Erklärungen dafür an, warum es immer mal wieder zu dergleichen kommt. Dabei können sich in den Tätern etliche Motive mischen. Sie alle sind sehr menschlich. Eins von ihnen ist selbstverständlich das Ohnmachtsgefühl derer, die immer für libertäre und gerechte Verhältnisse eingetreten sind, und denen nun – ungefähr seit den 90er Jahren – von der Kommando-brücke des Staates herab auch noch die verräterischen „Sieger von 1968“ zuwinken.

Tobias hat nicht so viel Macht wie diese, weshalb er sich zwecks Demütigung mit jener gehässigen Bemerkung über gewisse „Frustrierte“ begnügen muß. Er selber kennt keine Enttäuschung, weil er im Windschatten der Sieger segelt. Nach der „Wende“ tat er wie so viele Westdeutsche in der Ex-DDR eine alsbald sprudelnde Marktlücke auf. Zwei Filialen seines Kleinbetriebes gehen gut; ein Haus wirft Mieten ab. Soweit ich es beobachten kann, führt er das typische Leben jener Scharen von Yuppies, die die taz lesen, Grün wählen und zweimal jährlich zwecks Urlaub in Kaffeeanbaugebiete fliegen, in denen gerade kein Guerilliakrieg stattfindet.

Ein Junge-Welt-Gespräch mit dem knapp 60jährigen spanischen Schriftsteller Rafael Chirbes im Januar 2009 paßt zu meinem Groll gegen Tobias wie die Faust aufs Auge. Als ihm der Interviewer aufgrund von Chirbes' jüngstem Roman Krematorium „ein Höchstmaß an Hoffnungslosigkeit“ bescheinigt, widerspricht Chirbes nicht. Offenbar hat überall in Europa dieselbe Entwicklung stattgefunden – der Spanienkrieg scheint schon der Antike anzugehören. Nach Francos Tod 1975 habe es sicherlich noch über 200 linke Parteien oder Gruppen gegeben. Doch binnen kürzester Zeit hätten die sozialdemokratischen und christsozialen Verräter mittels massiver ausländischer Hilfe das Ruder an sich gerissen. Jetzt sind sie so unverschämt, sämtliche neoliberalen Schweinereien, die sie angekurbelt haben, den Konservativen anzulasten. Bei nüchterner Analyse entpuppe sich alles „revolutionäre“ oder „reformerische“ Streben nach 1968 als kapitalistische Modernisierungsbewegung. Das Scheitern unserer kommunistischen – oder anarchistischen – Jugendideale sei total. Der Gerechtigkeit zogen die Yuppies ihren Wohlstand vor. Der Kapitalismus habe die Züge eines Kokainsüchtigen angenommen, „der alles und dies sofort haben muß“. Auch die Wissenschaften und Künste verleibe er sich gnadenlos ein. Ohne Kultur bleibe man sicherlich ein Dummkopf; mit Kultur jedoch werde man zum Arschloch. Auf der Strecke bleibt die Aufgabe, dem Leben eine eigene Richtung zu geben. „Außerdem werde ich alt und sehe die Dinge skeptischer: sie wiederholen sich. Jahr für Jahr liest du dieselben Schlagzeilen, dieselben Sprüche, jedes Jahr dieselben Lügen, darüber wird man etwas lebensmüde.“

Prompt präsentiert „Hoffnungsträger“ Barack Obama im Januar 2009 eine „neue“ Administration, die sich fest in der Hand ehemaliger Clinton-MitarbeiterInnen befindet. Der Rekord an Militärinterventionen unter den bisherigen US-Präsidenten wird just vom ehemaligen Vietnamkriegs-gegner Bill Clinton gehalten. Aus den europäischen Spitzenpolitikern, die er 1999 für den Überfall auf Jugos-lawien gewann, ließe sich glatt ein Traditionsverband der 68er Veteranen bilden. Die Ungeheuerlichkeit, sich führend für den von ihnen einst bekämpften Imperia-lismus ins Zeug zu legen, versteckten sie unter ganz neuartigen „humanitären Gründen“ ihrer diversen Bom-bardements. Im Grunde beweist ihr Verrat die erstaunliche Flexibilität des Kapitalismus – er kann sich unter den verschiedensten Deckmänteln erneuern.

Diese Beweglichkeit besitzt auch Tobias. Von jener Schmähung abgesehen, hat er übrigens nur ein paar Kleinigkeiten an der VIP-Geschichte zu bemängeln. Aber wie! Peinlicherweise setzen mir bereits diese „Kleinig-keiten“ zu. Ich zähle ein paar von Tobias' Randglossen auf. Entschärfen / Das ist kein Satz! / Exkurs viel zu lang / Lähmung muß raus! / Falsches Verb / Dusche im Flur? / Dieses Wort gibt’s nicht im Superlativ / Bezug? Solche Kleinigkeiten treffen mich wie Ohrfeigen.

Der Grund dafür dürfte ganz wie bei Reutenborn ein Gemisch aus etlichen Gründen sein. Zunächst findet die Kritik nicht auf einer Folie von Anerkennung oder gar Lob statt. Der Korrektor ist ja gewissermaßen der erste Leser meines Buches. Das begrüßt er nun nicht etwa als lesenswertes neues Stück Literatur (das sich sowohl beträchtlicher Mühe wie einer gewissen Begabung verdankt), vielmehr als potentielle Fehlerquelle, wie es scheint. Dafür dürfte ich selber, als Autor, die Bedeutung meiner angekratzten Ausgeburt maßlos überschätzen. Zudem muß ich erkennen, entgegen meinem Selbstbild keineswegs immer recht zu haben, denn ungefähr jede zweite kritische Anmerkung von Tobias ist berechtigt. Treffen aber schon Kratzer mein Selbstbewußtsein derart empfindlich, liegt die Befürchtung nahe, es sei auf Unsicherheit gegründet. In ihr hat man immer das denkbar schlechteste Motiv.

Die Metapher von den Ohrfeigen ist hier keineswegs aus der Luft gegriffen, denn neben den tatsächlichen wirkten um 1960 – als ich „Volks- und Realschüler“ in Kassel-Bettenhausen war – auch die roten Verzierungen in meinen Schulheften wie Ohrfeigen. Auf diese Weise wird man mit knapp 60 noch einmal zur Schnecke gemacht. Redigieren und Lektorieren ist ein Feld für verhinderte Spitzenbürokraten, die es nicht ganz bis in die Admini-stration von Clinton oder Schröder schafften. Die Gattin von Tobias ist übrigens Lehrerin.



Zu „Achtundsechzig“ siehe auch
Schlußteil des Kurz-Referats
Kapitel „Dörnberg“ in Nordhessen, bald nach Beginn des Beitrags
Dieter Duhm & Co in Tamera
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