Samstag, 23. Juni 2012
Klappe zu, Affe tot
ziegen, 13:03h
Erstveröffentlichung 2006 in Nr. 139 der Zeitschrift Die Brücke
Elstern sehen so aus, wie sie John James Audubon vor rund 200 Jahren malte. Das kann ich als Vogelkenner versichern. Das Vorwitzige und Gaunerhafte ihrer Bewe-gungen fing er ebenfalls ein. Wir könnten, was unsere Unterrichtung angeht, getrost auf die Fotografie verzich-ten. Wir brauchten sie überhaupt nicht. Leider hat sich nämlich längst unser Unvermögen gezeigt, die eine oder andere technische Erfindung nur zum Teil, nur begrenzt zu nutzen. Ich nenne neben der Kamera bloß Auto und Computer. Die Technik duldet keine Grenzen. Statt durch Reproduktionen lassen sich Gemälde natürlich auch anders verbreiten, etwa durch Stiche oder Lithografien. Oder SchriftstellerInnen schildern sie nicht weniger gut wie sie Herrn Tobias Wendehals oder den oberhessischen Vogelsberg beschreiben. Wem das zu ungetreu ist, der möge sich zu den Gemälden hinbegeben.
Am besten scheint mir allerdings beraten, wer sich an die Fersen der Vögel selber heftet. So verfuhr Audubon. Unter großen Entbehrungen unternahm er viele Reisen, um die Vögel Nordamerikas an ihren Orten aufzusuchen. So wurde er nebenbei zum bewanderten Ornithologen. In solcher Liebesmüh lernt man die Objekte seiner Begierde gründlich kennen, achten, schätzen. In Lewis Mumfords Mythos der Maschine wird erwähnt, Audubon habe Tauben, Wachteln oder Stare nicht nur erlegt um sie zu malen, sondern auch etlicher hübscher Mahlzeiten wegen. Hoffentlich nahm er – uns zuliebe – statt der Flinte Pfeil und Bogen. Denn wie sich Gewehr, Kamera und der rasche Blick auf Reproduktionen gleichen, entsprechen Pfeil und Bogen der mühsamen Annäherung. Der Laie wird auf 40 Schritte mit Pfeil und Bogen keine Scheune treffen, aber mit einem Gewehr. Gewiß erfordern solche Annäherungen viel Geduld und Zeit. Noch im Barock waren gedruckte Noten zu rar und kostspielig für den gewöhnlichen Musikstudenten. So sah sich ein Jüngling namens Johann Sebastian Bach gezwungen, auf seinen Reisen durch Deutschland jede Partitur, die er zu studieren gedachte, eigenhändig abzuschreiben, was so lästig wie eindringlich gewesen sein dürfte. Gewiß entging ihm durch diese aufwendige Arbeit so manches lehrreiche Musikstück. Doch es ist besser, wenige Dinge gründlich als zahllose Dinge oberflächlich zu kennen. Letztlich gewinnen wir dadurch sogar Zeit, weil sich auf den Oberflächen doch viel Überflüssiges räkelt.
Als so um Spitzweg herum die ersten chemisch behan-delten Platten belichtet wurden, war sich noch niemand darüber im klaren, wie gewaltig die Fotografie die allgemeine Verflachung befördern sollte. Walter Benjamin sah es um 1930 dann wohl ein, fand es aber prima so. Sein massenrevolutionäres Sätzchen, jeder heutige Mensch könne den Anspruch vorbringen gefilmt zu werden, ließ er sogar kursiv drucken. Dankeschön, Walter! Inzwischen hat sich im Haushalt zur Waschmaschine die Videokamera gesellt. Die Flut von mehr oder weniger reellen Abbildern ist nicht mehr aufzuhalten. Wer will mir weismachen, er könne unter diesen Umständen noch irgendetwas so verdauen wie Audubon seine Tauben?
Katze im Sack
Höffelstein zeichnet oft im Freien. Als er sich einmal an einem gotischen Portal versuchte, hielt ein Tourist inne, um seine Kamera zu zücken und dem Maler gleich darauf mit einem neckischen Händeheben zu versichern: „Schon im Sack!“ Anschließend kassierte er den verdutzten Höffelstein selber auch noch ein.
In dieser Anekdote haben wir auf einen Schlag die Mühelosigkeit und die Schamlosigkeit des Fotografierens. F. G. Jünger sprach schon vor über 50 Jahren von fliegenhafter Zudringlichkeit (Die Perfektion der Technik). Inzwischen flimmern die Fliegen über unsere Bildschirme. Wer denkt noch an einen Uwe Barschel, der tot und aufgedunsen in der Badewanne eines Hotelzimmers trieb? Der Film macht klar, was Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals heißt. Meuten von Bildjägern, die durch astronomische Honorare scharf gemacht werden, treiben anerkennungssüchtige Prinzessinnen in den Tod. Diana, das paßt ja zur Jagd. Wie uns ein zum Teil gelähmter Mann und seine Lebensgefährtin nackt vor der Kamera demonstrieren, läßt sich der Liebesakt auch in einem Rollstuhl vollziehen. Wer anspruchsloser ist, nutzt das Teleobjektiv seiner Kamera um zu überprüfen, ob die gebückte Nachbarin ihr Unkraut ordentlich jätet. Ein Zeitungsfoto versetzt uns in die britische Stadt Sheffield. Panik im Fußballstadion! Wir sehen die verzerrten Gesichter der Fans, die am Schutzgitter erdrückt zu werden drohen.
Sie werden auch erdrückt. Der Fotograf schreitet nicht ein oder reißt sich, weil keine Leiter zur Hand ist, vor Verzweiflung die Haare aus; vielmehr schießt er das „Foto des Jahres“ und ergattert so den begehrten Pulitzer-Preis. Indem sie starben, machten ihn die Fans unsterblich. Seine Verdauung ist in Ordnung, und auch die Chefredak-teure und PreisrichterInnen schlafen gut.
Einige Schutzgitter sind offenbar doch gefallen. Neben den Grenzen duldet die Technik auch keine Tabuzonen und keinen Anstand mehr. Man darf hier selbst an die scheußliche Berliner Mauer denken, denn die DDR wurde schamlos einkassiert. Offenbar schwinden Takt- und Schamgefühl in ähnlicher Rasanz, wie sich unser Arbeits- und Lebenstempo erhöht. Die Kamera ist eine schnelle Waffe. Sie wird ständig mehr automatisiert. Für eine neue Videokamera warb Canon auf deutschen Plakatwänden: „So leicht war Perfektion noch nie.“ Das nenne ich erstaunlich. Etwas Vollkommenes – ob nun eine Bach-Kantate oder ein Steilpaß von Günter Netzer auf Erwin Kremers – soll inzwischen leicht fallen? Nur ein Druck auf den Knopf und jeder ist Gott.
Inszenatoren
Es ist gewitzelt worden, der postmoderne Mensch befinde sich in Spaßhaft. Das Wortspiel mag neu sein; die Sache nicht. Wie Arthur Miller in seinen Erinnerungen Zeit-kurven erwähnt, hatte er bereits um 1960 den Eindruck, das ganze Land (die USA) verfalle in eine Sucht nach Ablenkung, genannt Unterhaltung – „Unterhaltung bedrohte nichts, rettete nichts und bedeutete nichts außer Vergessen.“ So kündete sich für einen sehenden Menschen der Triumph der Oberfläche an. Dazu passend, äußert Miller auch die Befürchtung, die Autoren hätten ihr Zepter zunehmend an die Inszenatoren abzugeben. War das zumindest neu? In seinem 1946 veröffentlichten Lebens-rückblick Die fetten und die mageren Jahre berichtet der Kunstkritiker Karl Scheffler vom Heraufkommen der berühmten Theaterregisseure um 1900, allen voran Max Reinhardt. „Das Dichtwerk, ob bedeutend oder unbedeutend, wurde mehr und mehr zum Vorwand für den Regisseur: die Ausarbeitung des Regiebuches war die entscheidende Tat.“ Damit sei es dem Theater wie dem Buch ergangen: der schöne Einband wurde wichtiger als das, was drinstand.
Wie Sartre in seiner köstlichen Betrachtung Die Berufung zum Schriftsteller von 1950 bemerkt, ist jedes Kunstwerk zunächst eine Abwesenheit. In Gestalt des leeren weißen Blatt Papiers, das vor ihm liegt, kann sie unserem Dramatiker enorme Angst einjagen. Hält er durch und erkämpft sich einen packenden Entwurf, können sich alle Regisseure die Hände reiben. Sobald nämlich erst einmal etwas da ist, läßt es sich erstaunlich leicht verbessern, aber vielleicht auch verschlechtern. Und für diese Verunstal-tungen sind die Inszenatoren da. Sich selber einer Abwe-senheit zu stellen, fehlt ihnen das Zeug. Also schmücken sie sich mit fremden Federn.
Die vollkommene Oberfläche finden wir an der Kugel. Sie weist jede Verstörung ab, weil sie keine Grenzen hat. Es ist ein Vergnügen, sich auf ihr zu bewegen, solange man es vermeidet, sie durchdringen zu wollen. Eben darin liegt die „Spaßhaft“. Wir haften der Oberfläche an. Auf dieser vollkommenen Oberfläche ist alles gleich gültig. Selbst solche krass verschiedenen Phänomene wie die Wirklich-keit und die Fiktion verschwimmen auf ihr. Sie verschmel-zen zu etwas Drittem. Da der Bildschirm das angemessene Medium der Oberfläche ist, achten die gefeierten Theater-regisseure darauf, ihre Verunstaltungen von vornherein „fernsehgerecht“ zu inszenieren. Nicht der Wirklichkeit und nicht der Fiktion haben sie sich verschrieben – sie dienen der Illusion.
Wenn Walter Benjamin das Kino für die Vollendung des Theaters hielt, kann er das Theater leider nur mißver-standen haben. Es war nie der Illusion, nämlich der täuschenden Vorspiegelung von Wirklichkeit verpflichtet. Zwar verstrickt sich Willy Loman offensichtlich in seine Lebenslüge, ein prächtiger Staubsaugerverkäufer, Vater und Gatte zu sein, woran die Gattin selber nebenbei keinen geringen Anteil hat. Vieles deutet darauf hin, daß sich Loman umbringen wird. Trotzdem bleiben die Zuschauer gefaßt in ihren Sesseln sitzen. Sie stürzen nicht auf die Bühne, denn sie verwechseln das dort gegebene Stück Der Tod des Handlungsreisenden keineswegs mit der Wirk-lichkeit. Sonst müßten sie eingreifen. Doch das Künstliche des Geschehens hält sie auf Distanz. Damit sei auch gewährleistet – so Alain in seinem Propos Die Tragödie vom November 1923 – daß die Handlung sie niemals mehr ergreife, als sie selber wollten.
Es handelt sich also um ein Spiel. Loman tut so als ob. Er führt uns etwas vor, damit wir Lehren daraus ziehen. Wir sollen uns ein Urteil bilden. Was ist der Mensch? Wie sollte er sein? Darum geht es auf dem Theater. Das Kino dagegen verurteilt – nämlich uns. Wir sollen bleiben, wie wir sind: in „Spaßhaft“. Gefangene der Oberfläche.
Die Rose ist nicht die Rose
Unser Wort Vervielfältigung ist falsch. Eine Serie von Drucken hat so wenig Vielfalt wie eine Serie von fotografischen Abzügen. Vielfalt kann nur einem Original erwachsen, das man nicht zu wiederholen wagt. Die Blätter wiederholen nicht die Wurzel, die Blüten nicht die Blätter. Verwandtschaft liegt natürlich vor. So läßt sich das Wurzelwerk im Geäder des Laubes wiederfinden. Der Stempel, der in einer Rosenblüte sitzt, ist nicht weit vom Stiel der Rose entfernt. Kein Dorn gleicht dem anderen. Man wird an einer Rose so wenig Gleichheit aufspüren wie in einer Rosenhecke und in der Natur überhaupt. In der Welt, die ich schätze, gibt es nur Ähnlichkeiten. Von daher dürften die fotografischen Abbildungen das Seitenstück zu den sogenannten Naturgesetzen sein, mit denen uns die exakten Wissenschaften beglückten. Beide sind um den größten gemeinsamen Nenner bemüht. Wir sollten also in Zukunft von Vervielflachung sprechen.
Gewiß kommt der Mensch nicht ohne Ablösungen aus. Sein größtes Ablösungswerk ist die Sprache. Die Rose, von der ich spreche, ist nicht identisch mit der Rose, die hier oder dort im Garten steht; bei jener handelt es sich um einen Inbegriff. Was ich jedoch aus ihm mache, ist meine Sache. Er schimmert oder duftet in jedem Zusammenhang anders. Ähnlich pflegt sich beim Gebrauch von Pfeil und Bogen, Spaten, Sense oder anderer VorläuferInnen unserer Maschinen und Automaten die Eigentümlichkeit ihres Handhabers in die Aufgabe zu mischen. Auch der Polsterer mit seinem Haarzieher im Palmgras oder der Radierer mit seiner Kaltnadel angesichts von Wolken, Bäumen, Affen spielen ihre Handschrift aus. In allen Versuchen, sich die Welt schöpferisch anzueignen, kann es niemals zu Tautologien kommen. Dagegen pflegt sich alles, was uns Teiche, Bleche oder beschichtete Glasscheiben spiegeln, unserem Einfluß zu entziehen. Es liegt nicht in unsrer Hand.
Im Grunde zeigt das Foto lediglich, wie etwas ist. Es fördert nichts zutage. Es duckt sich unter der Dimension „Sein und Sollen“ hindurch – worauf sich die auf der anderen Seite lauernden Werbefritzen die Hände reiben, denn sie wissen ganz genau, was wir sollen. Das Foto ist nie mehr als Stellvertreterin; es verkörpert das Realitäts-prinzip. Als Begleiterscheinung der kapitalistischen Warenproduktion erinnert es stark an deren zentrale Kategorie des Tauschwertes, der alles einebnet. So gesehen, könnten wir das Foto auch als Gleichmacherin anprangern. Höffelstein behauptet, selbst das beste Foto rühre nicht wirklich an; höchstens der abgebildete Gegenstand, aber dann liege das eben an diesem. Dagegen könnten selbst mittelmäßige Gemälde eine solche Anrührung bewirken. Der Grund liegt für ihn auf der Hand: das Foto kann nur das Sichtbare zeigen. „Dies kommt natürlich all den vielen Leuten entgegen, deren Gehirnrinde das Format eines gelochten Nistkastens für Vögel hat.“ Soweit der Maler.
Zeit frißt Raum
Als ich das letzte Mal in meinem Leben vor einem Fernsehgerät saß, lief gerade eine vielteilige Verfilmung des Romans Berlin Alexanderplatz an. Das dürfte 1980 gewesen sein. Ich sah lediglich die erste Folge. Sie genügte bereits, mir sofort die Birne vom Darsteller des Franz Biberkopf ins Auge zu rammen, sobald ich auch nur den Deckel des Romanes lüftete, den ich vorher leider noch nicht gelesen hatte. So blieb es also dabei. Möge sich Alfred Döblin für einen Leser weniger bei Rainer Maria Fassbinder bedanken, der ja auch schon ins Gras beißen mußte. Ich scheue mich nicht, VerfilmerInnen Verbrecher-Innen zu nennen. Die VertonerInnen dürfen sich gleich mitangesprochen fühlen. Mit all diesen „Adaptionen“ wird den Texten Zwang angetan, indem sie festgelegt und damit beschränkt werden. Das färbt natürlich sogleich auf den Betrachter oder Hörer ab. Die Wohltat etwa der geschriebenen Worte „Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See“ liegt ja auch darin, daß sich jeder Leser eine etwas andere Birne und ein etwas anderes Ufer vorstellt. Die LeserInnen dürfen sich ihre eigenen Vorstellungen machen. Gewiß erfordert dies ihre Mitarbeit. Und da Mühe im Zeitalter der Rolltreppen, elektronisch gesteuerten Türen und Computer verpönt ist, sind die VerfilmerInnen so freundlich, uns ihr Bild zu diktieren. Augen auf genügt.
Gute SchriftstellerInnen schreiben keine Leseart vor. Sie lassen Spielraum. Nebenbei weist jeder Text schon insofern Spielraum auf, als er die einzelnen Worte durch „Spatien“ genannte Lücken voneinander absetzt. Entgegen einem verbreiteten Irrglauben wird dies in der mündlichen Rede überwiegend nicht so gehalten – wir alle spulen in unseren Alltagsgesprächen Filme ab (24 Einzelbilder pro Sekunde). Doch auch in schnöderer Hinsicht engt uns der gute Schriftsteller nicht ein. Ich kann sein Buch nach Belieben zur Seite legen oder zur Hand nehmen. Ich kann darin verweilen. Wer dagegen versuchen sollte, im Kino einmal den Film zurückzublättern, dürfte auf der Polizeistation oder in der Klapsmühle landen.
Der zerrüttete Mensch hat keinen Halt mehr. Aber Halt braucht Ort. Die Verbilderung und die Digitalisierung der Welt zielen aufs Gegenteil ab, nämlich auf Ortlosigkeit. Mit dem Raum wird der Mensch zerstört. Alles ist nur noch Durchgang. Wir zappeln wie Fische in einem Internet, von dem kaum ein Schwein zu sagen wüßte, wo es sich eigentlich befindet und wer darin die Fäden zieht. Im Tierreich sind wir an der richtigen Adresse. Denn Tiere benötigen keinen Raum. Sie kennen weder Entfernung noch Tiefe noch Richtung, wie sich an jedem Buchfink beobachten läßt, den wir ein dutzendmal von unserem Weg aufscheuchen. Anders ausgedrückt, sind Tiere keiner Vorstellungen fähig. Denn alles Vorstellen beruht auf Raum; es braucht Distanz. Das Wort „vorstellen“ selber besagt es schon unmißverständlich. Tiere jedoch sind von Bildern umgetrieben. Wir können ein Bild flach oder ortlos nennen, das wäre Jacke wie Hose. Selbst als Gemsen leben die Tiere keineswegs im Gebirge; sie wetzen sich ihre Hufe an einem Prospekt des Gebirges ab. Sie werden von Bildern geknechtet – Bildern des Begehrens, der Angst, des Wahns. Es ist, als müßten sie in unserem Multimediamahlwerk leben.
Die letzte Halt gewährende Zuflucht bietet uns die Sprache. Es gibt einen anderen verbreiteten Irrglauben, wonach gerade die Sprache etwas wunderbar Bildhaftes sei. Die LyrikerInnen unterliegen ihm besonders gern. Doch in Wahrheit ist die Sprache etwas wunderbar Begriffliches. Die zitierten Verse von Hölderlin etwa – gelbe Birnen, wilde Rosen – geben uns einen durchweg begrifflichen Satz. Wie F. G. Jünger in Sprache und Denken (1962) ausgeführt hat, sind auch unsere Dingwörter Schemata, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit den gemeinten leibhaftigen Phänomenen haben. Mit dieser Begrifflichkeit – so Jünger – steht uns „ein Riegel vor der Zudringlichkeit und Übermacht der Wahrneh-mung“ zur Verfügung.
Nehmen Sie, welches Wort Sie wollen: es ist der Zeit abgerungen. Es untergräbt die Macht des Augenblicks. Es schafft Ordnung. Das Multimediamahlwerk kann aber keine Ordnung gebrauchen. Es lebt von der Anarchie. „Zeit frißt Raum“ hat es auf seine blutroten Fahnen geschrieben.
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Elstern sehen so aus, wie sie John James Audubon vor rund 200 Jahren malte. Das kann ich als Vogelkenner versichern. Das Vorwitzige und Gaunerhafte ihrer Bewe-gungen fing er ebenfalls ein. Wir könnten, was unsere Unterrichtung angeht, getrost auf die Fotografie verzich-ten. Wir brauchten sie überhaupt nicht. Leider hat sich nämlich längst unser Unvermögen gezeigt, die eine oder andere technische Erfindung nur zum Teil, nur begrenzt zu nutzen. Ich nenne neben der Kamera bloß Auto und Computer. Die Technik duldet keine Grenzen. Statt durch Reproduktionen lassen sich Gemälde natürlich auch anders verbreiten, etwa durch Stiche oder Lithografien. Oder SchriftstellerInnen schildern sie nicht weniger gut wie sie Herrn Tobias Wendehals oder den oberhessischen Vogelsberg beschreiben. Wem das zu ungetreu ist, der möge sich zu den Gemälden hinbegeben.
Am besten scheint mir allerdings beraten, wer sich an die Fersen der Vögel selber heftet. So verfuhr Audubon. Unter großen Entbehrungen unternahm er viele Reisen, um die Vögel Nordamerikas an ihren Orten aufzusuchen. So wurde er nebenbei zum bewanderten Ornithologen. In solcher Liebesmüh lernt man die Objekte seiner Begierde gründlich kennen, achten, schätzen. In Lewis Mumfords Mythos der Maschine wird erwähnt, Audubon habe Tauben, Wachteln oder Stare nicht nur erlegt um sie zu malen, sondern auch etlicher hübscher Mahlzeiten wegen. Hoffentlich nahm er – uns zuliebe – statt der Flinte Pfeil und Bogen. Denn wie sich Gewehr, Kamera und der rasche Blick auf Reproduktionen gleichen, entsprechen Pfeil und Bogen der mühsamen Annäherung. Der Laie wird auf 40 Schritte mit Pfeil und Bogen keine Scheune treffen, aber mit einem Gewehr. Gewiß erfordern solche Annäherungen viel Geduld und Zeit. Noch im Barock waren gedruckte Noten zu rar und kostspielig für den gewöhnlichen Musikstudenten. So sah sich ein Jüngling namens Johann Sebastian Bach gezwungen, auf seinen Reisen durch Deutschland jede Partitur, die er zu studieren gedachte, eigenhändig abzuschreiben, was so lästig wie eindringlich gewesen sein dürfte. Gewiß entging ihm durch diese aufwendige Arbeit so manches lehrreiche Musikstück. Doch es ist besser, wenige Dinge gründlich als zahllose Dinge oberflächlich zu kennen. Letztlich gewinnen wir dadurch sogar Zeit, weil sich auf den Oberflächen doch viel Überflüssiges räkelt.
Als so um Spitzweg herum die ersten chemisch behan-delten Platten belichtet wurden, war sich noch niemand darüber im klaren, wie gewaltig die Fotografie die allgemeine Verflachung befördern sollte. Walter Benjamin sah es um 1930 dann wohl ein, fand es aber prima so. Sein massenrevolutionäres Sätzchen, jeder heutige Mensch könne den Anspruch vorbringen gefilmt zu werden, ließ er sogar kursiv drucken. Dankeschön, Walter! Inzwischen hat sich im Haushalt zur Waschmaschine die Videokamera gesellt. Die Flut von mehr oder weniger reellen Abbildern ist nicht mehr aufzuhalten. Wer will mir weismachen, er könne unter diesen Umständen noch irgendetwas so verdauen wie Audubon seine Tauben?
Höffelstein zeichnet oft im Freien. Als er sich einmal an einem gotischen Portal versuchte, hielt ein Tourist inne, um seine Kamera zu zücken und dem Maler gleich darauf mit einem neckischen Händeheben zu versichern: „Schon im Sack!“ Anschließend kassierte er den verdutzten Höffelstein selber auch noch ein.
In dieser Anekdote haben wir auf einen Schlag die Mühelosigkeit und die Schamlosigkeit des Fotografierens. F. G. Jünger sprach schon vor über 50 Jahren von fliegenhafter Zudringlichkeit (Die Perfektion der Technik). Inzwischen flimmern die Fliegen über unsere Bildschirme. Wer denkt noch an einen Uwe Barschel, der tot und aufgedunsen in der Badewanne eines Hotelzimmers trieb? Der Film macht klar, was Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals heißt. Meuten von Bildjägern, die durch astronomische Honorare scharf gemacht werden, treiben anerkennungssüchtige Prinzessinnen in den Tod. Diana, das paßt ja zur Jagd. Wie uns ein zum Teil gelähmter Mann und seine Lebensgefährtin nackt vor der Kamera demonstrieren, läßt sich der Liebesakt auch in einem Rollstuhl vollziehen. Wer anspruchsloser ist, nutzt das Teleobjektiv seiner Kamera um zu überprüfen, ob die gebückte Nachbarin ihr Unkraut ordentlich jätet. Ein Zeitungsfoto versetzt uns in die britische Stadt Sheffield. Panik im Fußballstadion! Wir sehen die verzerrten Gesichter der Fans, die am Schutzgitter erdrückt zu werden drohen.
Sie werden auch erdrückt. Der Fotograf schreitet nicht ein oder reißt sich, weil keine Leiter zur Hand ist, vor Verzweiflung die Haare aus; vielmehr schießt er das „Foto des Jahres“ und ergattert so den begehrten Pulitzer-Preis. Indem sie starben, machten ihn die Fans unsterblich. Seine Verdauung ist in Ordnung, und auch die Chefredak-teure und PreisrichterInnen schlafen gut.
Einige Schutzgitter sind offenbar doch gefallen. Neben den Grenzen duldet die Technik auch keine Tabuzonen und keinen Anstand mehr. Man darf hier selbst an die scheußliche Berliner Mauer denken, denn die DDR wurde schamlos einkassiert. Offenbar schwinden Takt- und Schamgefühl in ähnlicher Rasanz, wie sich unser Arbeits- und Lebenstempo erhöht. Die Kamera ist eine schnelle Waffe. Sie wird ständig mehr automatisiert. Für eine neue Videokamera warb Canon auf deutschen Plakatwänden: „So leicht war Perfektion noch nie.“ Das nenne ich erstaunlich. Etwas Vollkommenes – ob nun eine Bach-Kantate oder ein Steilpaß von Günter Netzer auf Erwin Kremers – soll inzwischen leicht fallen? Nur ein Druck auf den Knopf und jeder ist Gott.
Es ist gewitzelt worden, der postmoderne Mensch befinde sich in Spaßhaft. Das Wortspiel mag neu sein; die Sache nicht. Wie Arthur Miller in seinen Erinnerungen Zeit-kurven erwähnt, hatte er bereits um 1960 den Eindruck, das ganze Land (die USA) verfalle in eine Sucht nach Ablenkung, genannt Unterhaltung – „Unterhaltung bedrohte nichts, rettete nichts und bedeutete nichts außer Vergessen.“ So kündete sich für einen sehenden Menschen der Triumph der Oberfläche an. Dazu passend, äußert Miller auch die Befürchtung, die Autoren hätten ihr Zepter zunehmend an die Inszenatoren abzugeben. War das zumindest neu? In seinem 1946 veröffentlichten Lebens-rückblick Die fetten und die mageren Jahre berichtet der Kunstkritiker Karl Scheffler vom Heraufkommen der berühmten Theaterregisseure um 1900, allen voran Max Reinhardt. „Das Dichtwerk, ob bedeutend oder unbedeutend, wurde mehr und mehr zum Vorwand für den Regisseur: die Ausarbeitung des Regiebuches war die entscheidende Tat.“ Damit sei es dem Theater wie dem Buch ergangen: der schöne Einband wurde wichtiger als das, was drinstand.
Wie Sartre in seiner köstlichen Betrachtung Die Berufung zum Schriftsteller von 1950 bemerkt, ist jedes Kunstwerk zunächst eine Abwesenheit. In Gestalt des leeren weißen Blatt Papiers, das vor ihm liegt, kann sie unserem Dramatiker enorme Angst einjagen. Hält er durch und erkämpft sich einen packenden Entwurf, können sich alle Regisseure die Hände reiben. Sobald nämlich erst einmal etwas da ist, läßt es sich erstaunlich leicht verbessern, aber vielleicht auch verschlechtern. Und für diese Verunstal-tungen sind die Inszenatoren da. Sich selber einer Abwe-senheit zu stellen, fehlt ihnen das Zeug. Also schmücken sie sich mit fremden Federn.
Die vollkommene Oberfläche finden wir an der Kugel. Sie weist jede Verstörung ab, weil sie keine Grenzen hat. Es ist ein Vergnügen, sich auf ihr zu bewegen, solange man es vermeidet, sie durchdringen zu wollen. Eben darin liegt die „Spaßhaft“. Wir haften der Oberfläche an. Auf dieser vollkommenen Oberfläche ist alles gleich gültig. Selbst solche krass verschiedenen Phänomene wie die Wirklich-keit und die Fiktion verschwimmen auf ihr. Sie verschmel-zen zu etwas Drittem. Da der Bildschirm das angemessene Medium der Oberfläche ist, achten die gefeierten Theater-regisseure darauf, ihre Verunstaltungen von vornherein „fernsehgerecht“ zu inszenieren. Nicht der Wirklichkeit und nicht der Fiktion haben sie sich verschrieben – sie dienen der Illusion.
Wenn Walter Benjamin das Kino für die Vollendung des Theaters hielt, kann er das Theater leider nur mißver-standen haben. Es war nie der Illusion, nämlich der täuschenden Vorspiegelung von Wirklichkeit verpflichtet. Zwar verstrickt sich Willy Loman offensichtlich in seine Lebenslüge, ein prächtiger Staubsaugerverkäufer, Vater und Gatte zu sein, woran die Gattin selber nebenbei keinen geringen Anteil hat. Vieles deutet darauf hin, daß sich Loman umbringen wird. Trotzdem bleiben die Zuschauer gefaßt in ihren Sesseln sitzen. Sie stürzen nicht auf die Bühne, denn sie verwechseln das dort gegebene Stück Der Tod des Handlungsreisenden keineswegs mit der Wirk-lichkeit. Sonst müßten sie eingreifen. Doch das Künstliche des Geschehens hält sie auf Distanz. Damit sei auch gewährleistet – so Alain in seinem Propos Die Tragödie vom November 1923 – daß die Handlung sie niemals mehr ergreife, als sie selber wollten.
Es handelt sich also um ein Spiel. Loman tut so als ob. Er führt uns etwas vor, damit wir Lehren daraus ziehen. Wir sollen uns ein Urteil bilden. Was ist der Mensch? Wie sollte er sein? Darum geht es auf dem Theater. Das Kino dagegen verurteilt – nämlich uns. Wir sollen bleiben, wie wir sind: in „Spaßhaft“. Gefangene der Oberfläche.
Unser Wort Vervielfältigung ist falsch. Eine Serie von Drucken hat so wenig Vielfalt wie eine Serie von fotografischen Abzügen. Vielfalt kann nur einem Original erwachsen, das man nicht zu wiederholen wagt. Die Blätter wiederholen nicht die Wurzel, die Blüten nicht die Blätter. Verwandtschaft liegt natürlich vor. So läßt sich das Wurzelwerk im Geäder des Laubes wiederfinden. Der Stempel, der in einer Rosenblüte sitzt, ist nicht weit vom Stiel der Rose entfernt. Kein Dorn gleicht dem anderen. Man wird an einer Rose so wenig Gleichheit aufspüren wie in einer Rosenhecke und in der Natur überhaupt. In der Welt, die ich schätze, gibt es nur Ähnlichkeiten. Von daher dürften die fotografischen Abbildungen das Seitenstück zu den sogenannten Naturgesetzen sein, mit denen uns die exakten Wissenschaften beglückten. Beide sind um den größten gemeinsamen Nenner bemüht. Wir sollten also in Zukunft von Vervielflachung sprechen.
Gewiß kommt der Mensch nicht ohne Ablösungen aus. Sein größtes Ablösungswerk ist die Sprache. Die Rose, von der ich spreche, ist nicht identisch mit der Rose, die hier oder dort im Garten steht; bei jener handelt es sich um einen Inbegriff. Was ich jedoch aus ihm mache, ist meine Sache. Er schimmert oder duftet in jedem Zusammenhang anders. Ähnlich pflegt sich beim Gebrauch von Pfeil und Bogen, Spaten, Sense oder anderer VorläuferInnen unserer Maschinen und Automaten die Eigentümlichkeit ihres Handhabers in die Aufgabe zu mischen. Auch der Polsterer mit seinem Haarzieher im Palmgras oder der Radierer mit seiner Kaltnadel angesichts von Wolken, Bäumen, Affen spielen ihre Handschrift aus. In allen Versuchen, sich die Welt schöpferisch anzueignen, kann es niemals zu Tautologien kommen. Dagegen pflegt sich alles, was uns Teiche, Bleche oder beschichtete Glasscheiben spiegeln, unserem Einfluß zu entziehen. Es liegt nicht in unsrer Hand.
Im Grunde zeigt das Foto lediglich, wie etwas ist. Es fördert nichts zutage. Es duckt sich unter der Dimension „Sein und Sollen“ hindurch – worauf sich die auf der anderen Seite lauernden Werbefritzen die Hände reiben, denn sie wissen ganz genau, was wir sollen. Das Foto ist nie mehr als Stellvertreterin; es verkörpert das Realitäts-prinzip. Als Begleiterscheinung der kapitalistischen Warenproduktion erinnert es stark an deren zentrale Kategorie des Tauschwertes, der alles einebnet. So gesehen, könnten wir das Foto auch als Gleichmacherin anprangern. Höffelstein behauptet, selbst das beste Foto rühre nicht wirklich an; höchstens der abgebildete Gegenstand, aber dann liege das eben an diesem. Dagegen könnten selbst mittelmäßige Gemälde eine solche Anrührung bewirken. Der Grund liegt für ihn auf der Hand: das Foto kann nur das Sichtbare zeigen. „Dies kommt natürlich all den vielen Leuten entgegen, deren Gehirnrinde das Format eines gelochten Nistkastens für Vögel hat.“ Soweit der Maler.
Als ich das letzte Mal in meinem Leben vor einem Fernsehgerät saß, lief gerade eine vielteilige Verfilmung des Romans Berlin Alexanderplatz an. Das dürfte 1980 gewesen sein. Ich sah lediglich die erste Folge. Sie genügte bereits, mir sofort die Birne vom Darsteller des Franz Biberkopf ins Auge zu rammen, sobald ich auch nur den Deckel des Romanes lüftete, den ich vorher leider noch nicht gelesen hatte. So blieb es also dabei. Möge sich Alfred Döblin für einen Leser weniger bei Rainer Maria Fassbinder bedanken, der ja auch schon ins Gras beißen mußte. Ich scheue mich nicht, VerfilmerInnen Verbrecher-Innen zu nennen. Die VertonerInnen dürfen sich gleich mitangesprochen fühlen. Mit all diesen „Adaptionen“ wird den Texten Zwang angetan, indem sie festgelegt und damit beschränkt werden. Das färbt natürlich sogleich auf den Betrachter oder Hörer ab. Die Wohltat etwa der geschriebenen Worte „Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See“ liegt ja auch darin, daß sich jeder Leser eine etwas andere Birne und ein etwas anderes Ufer vorstellt. Die LeserInnen dürfen sich ihre eigenen Vorstellungen machen. Gewiß erfordert dies ihre Mitarbeit. Und da Mühe im Zeitalter der Rolltreppen, elektronisch gesteuerten Türen und Computer verpönt ist, sind die VerfilmerInnen so freundlich, uns ihr Bild zu diktieren. Augen auf genügt.
Gute SchriftstellerInnen schreiben keine Leseart vor. Sie lassen Spielraum. Nebenbei weist jeder Text schon insofern Spielraum auf, als er die einzelnen Worte durch „Spatien“ genannte Lücken voneinander absetzt. Entgegen einem verbreiteten Irrglauben wird dies in der mündlichen Rede überwiegend nicht so gehalten – wir alle spulen in unseren Alltagsgesprächen Filme ab (24 Einzelbilder pro Sekunde). Doch auch in schnöderer Hinsicht engt uns der gute Schriftsteller nicht ein. Ich kann sein Buch nach Belieben zur Seite legen oder zur Hand nehmen. Ich kann darin verweilen. Wer dagegen versuchen sollte, im Kino einmal den Film zurückzublättern, dürfte auf der Polizeistation oder in der Klapsmühle landen.
Der zerrüttete Mensch hat keinen Halt mehr. Aber Halt braucht Ort. Die Verbilderung und die Digitalisierung der Welt zielen aufs Gegenteil ab, nämlich auf Ortlosigkeit. Mit dem Raum wird der Mensch zerstört. Alles ist nur noch Durchgang. Wir zappeln wie Fische in einem Internet, von dem kaum ein Schwein zu sagen wüßte, wo es sich eigentlich befindet und wer darin die Fäden zieht. Im Tierreich sind wir an der richtigen Adresse. Denn Tiere benötigen keinen Raum. Sie kennen weder Entfernung noch Tiefe noch Richtung, wie sich an jedem Buchfink beobachten läßt, den wir ein dutzendmal von unserem Weg aufscheuchen. Anders ausgedrückt, sind Tiere keiner Vorstellungen fähig. Denn alles Vorstellen beruht auf Raum; es braucht Distanz. Das Wort „vorstellen“ selber besagt es schon unmißverständlich. Tiere jedoch sind von Bildern umgetrieben. Wir können ein Bild flach oder ortlos nennen, das wäre Jacke wie Hose. Selbst als Gemsen leben die Tiere keineswegs im Gebirge; sie wetzen sich ihre Hufe an einem Prospekt des Gebirges ab. Sie werden von Bildern geknechtet – Bildern des Begehrens, der Angst, des Wahns. Es ist, als müßten sie in unserem Multimediamahlwerk leben.
Die letzte Halt gewährende Zuflucht bietet uns die Sprache. Es gibt einen anderen verbreiteten Irrglauben, wonach gerade die Sprache etwas wunderbar Bildhaftes sei. Die LyrikerInnen unterliegen ihm besonders gern. Doch in Wahrheit ist die Sprache etwas wunderbar Begriffliches. Die zitierten Verse von Hölderlin etwa – gelbe Birnen, wilde Rosen – geben uns einen durchweg begrifflichen Satz. Wie F. G. Jünger in Sprache und Denken (1962) ausgeführt hat, sind auch unsere Dingwörter Schemata, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit den gemeinten leibhaftigen Phänomenen haben. Mit dieser Begrifflichkeit – so Jünger – steht uns „ein Riegel vor der Zudringlichkeit und Übermacht der Wahrneh-mung“ zur Verfügung.
Nehmen Sie, welches Wort Sie wollen: es ist der Zeit abgerungen. Es untergräbt die Macht des Augenblicks. Es schafft Ordnung. Das Multimediamahlwerk kann aber keine Ordnung gebrauchen. Es lebt von der Anarchie. „Zeit frißt Raum“ hat es auf seine blutroten Fahnen geschrieben.
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