Freitag, 7. März 2025
Ümmershand 8–16
ziegen, 09:30h
8 Verkehrtes Plakat
Anderntags ging Laskirow zum Gutshof, weil Ute sie einem Schnellkurs im Reiten zu unterziehen gedachte. Für Freitag war nämlich das Scharfschießen auf dem Heuberg angesetzt, den Laskirow, nach Pohls Vorschlag, in Gesellschaft von dessen Gefährtin, hoch zu Roß in Angriff nehmen sollte. Pohl war bei einer Sitzung im Rathaus. Laskirow kam jedoch Pohls Zimmer in den Sinn, als sie ihre krachenden Knochen ins Gutshaus schleppte, um in dem Saal, den sie bereits kannte, mit Ute Mittag zu machen. Am Sonntag habe sie dort ein merkwürdigerweise verkehrt herum aufgehängtes großes, hochformatiges Bild an der Wand gesehen. Es zeige einem lediglich den öden Papprücken. Nur habe sie sich nicht getraut, es vielleicht einmal umzudrehen oder wenigstens zu lupfen, um in den Spalt zu linsen. Ob Ute ihr nicht verraten könne, was es mit dem Bild auf sich habe. Es verberge ja hoffentlich kein nacktes Rubens-Weib ..?
~~~ Ute lachte wiehernd. »Nein, das nicht! Wir können gern einmal hinaufgehen, dann drehen wir das Ding mal um.«
~~~ Ute war freilich auch ein recht dralles, im übrigen schwarzgelocktes Weibsbild. Ihre Reitstiefel verbargen stramme Waden. Während sie gemeinsam ins Mansardengeschoß stiegen, erzählte sie eine Art Vorgeschichte. Offenbar ging es schon wieder um Patriotismus. Vor einigen Jahren hätten sie hier in der BRD eine unter bewährter Bertelsmann-Führung von 25 Medienkonzernen ins Werk gesetzte Kampagne unter der Losung Du bist Deutschland gehabt. »Viele Volksgemüter empfanden das als spaßigen, neuen Einfall der PR-Leute. Die Junge Welt sei den Bertelsmännern damals jedoch auf die Schliche gekommen. Das ehemalige DDR-Blatt brachte ein Foto aus dem Ludwigshafener Stadtarchiv, das altmodisch gekleidete Menschen zeigte, die unter Straßenbäumen sowie einer gemalten Hitler-Visage ein langes Transparent in die Kamera hielten. Der Schriftzug Denn DU bist Deutschland war von authentischen Hakenkreuzen eingerahmt. Das Foto stammte von 1935.«
~~~ Sie hatten inzwischen Pohls Stube mit dem Ruhesofa erreicht. Ute ging zu dem Bild, stemmte es hoch und hängte es »richtig herum« wieder an seinen Haken. Dann trat sie erwartungsvoll beiseite.
~~~ Es handelte sich nicht um ein Gemälde, vielmehr ein Plakat. Man hatte ein Foto verwendet. Die Bildmitte wurde von einem Mann mittleren Alters im blauen Overall beherrscht, der sehr kämpferisch wirkte. Sein Haarschnitt war ordentlich kurz. Er war umgeben von Roten Fahnen und glänzenden Gesichtern. Die in großen Lettern ausgegebene Parole hieß: Die DDR, das sind WIR.
~~~ Laskirow grinste und schüttelte ungläubig ihre blonden Fransen. »Wo habt ihr das her?«
~~~ »Jemand stöberte es beim Umbau der Ziegelei auf dem Speicher der Bürobaracke auf, rettete es und schenkte es Hilmar, als der ihn darum bekniete«, erklärte Ute belustigt. »Etliche einheimische ehemalige Werktätige versicherten ihm bereits, das hätten sie wiederholt bei Maiaufzügen an Holzlatten genagelt durch Ümmerstadt getragen.«
~~~ »Verstehe«, nickte Laskirow lächelnd. »Notfalls könnte dieses Museumsstück Ihrer Landeskasse in ein paar Jahrzehnten eine Stange Geld einbringen.«
~~~ »Schon möglich«, erwiderte die Pferdetrainerin achselzuckend. Sie verließen Pohls Stube.
~~~ Was sie alles an deutschen Redewendungen beherrscht, das ist schon erstaunlich, sagte sich Ute plötzlich auf der Treppe nach unten. Stange Geld ..! Nur mit dem Schenkeldruck hapert es noch beträchtlich. Zu verkrampft, wie so oft! Man hat es in ihrem Moskauer Gymnasium versäumt, ihr die Angst zu nehmen …
9 Bergwacht
Das Wetter hielt, was die Internet-VorhersagerInnen versprochen hatten: mäßig sonnig, mäßig warm. So trabten die beiden ungleichen Frauen gutgelaunt zum Heuberg hinaus. Den Pferden gefiel das sowieso. Die schwarzgelockte Ute schmiegte sich an eine arabischstämmige Schimmelstute, die am liebsten auf den 768 Meter hohen Berg geflogen wäre. Allerdings übte Ute Rücksicht auf Laskirows Gaul, der das Lammfrommste war, was ganz Ümmershand beherbergte. Es war ein Fuchswallach namens Rotbauch. Zum Glück verstand er kein Deutsch.
~~~ Man kann Rotbauchs Zockeln dazu nutzen, die Sache mit der Ümmershänder »Sicherheit« zu umreißen. Nach der Überlassung der beiden Flaks durch Rußland hatte sich Schritt für Schritt eine originelle Einrichtung aus dem Ländchen erhoben, deren Betreuung inzwischen zu Nancy Litbarskis Hauptaufgaben zählte, nämlich die sogenannte Bergwacht auf dem Heuberg. Seitdem war der Berg, der eine Burgruine aufwies, lückenlos rund ums Jahr besetzt. Die von Nancy organisierten Wachen könnte man sicherlich auch Camps oder Freizeiten nennen. TeilnehmerInnen waren stets für eine Woche 12 Freiwillige aus der Republik, außerdem zwei Alte Hasen als Lehrkräfte. Auch Litbarski war oft auf dem Berg, zwecks Inspektion oder Unterricht. Die Wachablösung der 12 Freiwilligen fand immer Montag Mittag statt. Sie schloß eine kurze Übergabe ein, die die Bestände und den Stand verschiedener Arbeiten betraf. Die Wachen hatten ihre Gewehre oder Pistolen aus den GO-Waffenschränken mitzubringen. Anfänglich hatten die Dörfer regelmäßig »Wehrübungen« veranstaltet, doch durch die neue Einrichtung hatten sich diese inzwischen weitgehend erübrigt.
~~~ Gewiß standen bei den Camps militärische Übungen im Vordergrund, etwa Zielschießen, Waffenkunde, Partisanenkampf. Uniformen und Abzeichen gab es nicht. Umbauten, Naturschutz, Pferdepflege und nicht zuletzt der Haushalt des Camps waren allerdings auch nicht unwichtig. Der Bergfried war instandgesetzt, daneben ein Dienst- und Unterkunftsgebäude errichtet worden. Die beiden Flaks, fahrbare leichte Kanonen, standen trocken im Erdgeschoß des Turms. Die Pferde hatten für den Winter Ställe. Eine nahe Quelle lieferte Trinkwasser. Die Freiwilligen reisten ganz unterschiedlich mit Pferdewagen, Fahrrädern oder zu Fuß an. Nach etlichen Jahren waren Litbarski die Freiwilligen nie ausgegangen. Die »Katastrophenrätin« versuchte sogar, wiederholte Berufungen zu vermeiden, damit die Früchte der Bergwacht möglichst vielen Ümmershändern zugute kamen.
~~~ Die Bergwacht schlug mehrere Fliegen mit einer Klappe. Da der Heuberg fast im Zentrum des Landes lag, konnte er, bei Entfernungen zwischen 7 und 14 Kilometern, gleichsam als natürlicher Wachturm für sämtliche Republikgrenzen dienen. Man hatte natürlich starke Ferngläser. Drohten gegenwärtig auch keine militärischen Angriffe durch die Nato, so war es doch schon mehrmals zu Übergriffsversuchen feindlicher Kräfte gekommen. Die Haßerfüllten oder Strohköpfe in deutschen Landen schliefen nicht. Vor allem diverse Sabotageakte hatte die Bergwacht bereits vereitelt. Daneben förderte sie Wehrkraft und philosophische Erkenntnis der Beteiligten. Selbst für die Anbahnung von Freund- und Liebschaften war sie gut. Im Monatsblatt Blick hatte die Bergwacht fast eine feste Rubrik.
~~~ Zur Bergbesatzung zählten stets mehrere Kutsch- und Reitpferde. Sie waren unter anderem bei den »Flachland«-Übungen im ehemaligen Basaltbruch des Heuberges für den Transport der Geschütze (die auch Panzer aufs Korn nehmen konnten) und die Absicherung des Schußfeldes unentbehrlich. Die Flaks etwa schossen von Feldwegen aus geradewegs in den Steinbruch, wo Attrappen feindliche Panzer oder Flugzeuge markierten. Eben dies war auch an diesem Freitagvormittag gegen 11 der Fall, als sich der Schimmel und der Fuchs dem Bergfuß näherten. Jetzt hieß es auch für Ute und Laskirow äußerst wachsam zu sein – scheute nämlich ein zu Tode erschrockenes Pferd, konnte es in panischer Angst durchaus bis nach Bayern preschen.
~~~ Allerdings war der Schimmel das Krachen der Flaks bereits gewöhnt – und Laskirows Rotbauch war es egal. Sie stiegen hinter den Geschützen ab und sahen eine Weile zu, wie sie den stillgelegten, verwilderten Steinbruch in eine dröhnende oder jaulende Trommel verwandelten. Selbstverständlich waren einige Leute »der Woche«, wie das Slangwort lautete, auf dem Berg geblieben, um nicht nur ins Land, sondern auch am oberen Steinbruchrand Wache zu schieben. Man konnte nie wissen. Ein Dörfler aus Thüringen suchte im Bergwald Himbeeren oder Pilze, warf mal eben einen Blick in den romantischen Steinbruch – Rumms! fiel er in die Tiefe und war mausetot.
~~~ Nach den Flaks kamen auch noch ein paar zukünftige Scharfschützen zum Zug, die mit tragbaren Gewehren versuchten, auf 700 bis 1.200 Meter einen Kürbis zu zerfetzen, der im Steinbruch auf einer Kiste thronte und freundlicherweise in der Sonne blinkte. Diese Schußbahnentfernungen hatte der Bergrücken kaum zu bieten. Als der Kürbis in alle Winde zerstreut war, rollte und schob man die Flaks wieder auf den Pferdewagen und nahm den Rückweg zur Burg in Angriff, der sich in mehreren Schlaufen um den Berg zog. Schützen, WächterInnen und die beiden berittenen Frauen aus der Stadt schlossen sich an und waren verblüffenderweise in der Lage, unterwegs noch zu scherzen, obwohl sie ja eigentlich ein todernstes Geschäft hinter sich hatten. Es war Laskirow freilich immer noch lieber als eine Moskauer Parade mit 700 Schützenpanzern oder Sattelschleppern mit Langstreckenraketen gewesen.
~~~ Auf der Burg erfrischten sich alle Leute und enterten den Gemeinschaftsraum. Ein dicker Mann aus Drais hatte eine ähnlich dicke Suppe gekocht, die er »Kicherheiners Eintopf« nannte. Er hieß wirklich Heiner, jedenfalls in seiner GO. Kaum hatte Laskirow daran geschnuppert, geriet ihr Pitt Effesheimers schmales Gesicht in den aufsteigenden Dampf. Er wirkte durchaus angenehm überrascht und winkte die blonde Botschafterin an seinen Tisch. Man rückte gern zusammen.
~~~ Während sie sich Suppe auf den Teller lud, sagte Laskirow: »Wie kommen Sie denn hierher, Herr Effesheimer?«
~~~ Er winkte, kauend, mit dem Löffel ab. »Hab halt gerade die Woche. Hat man Ihnen das nicht gesagt?«
~~~ »Nö. Wer soll mir das schon sagen?«
~~~ »Na, Nancy, Ute, Hilmar vielleicht ..?« zwinkerte Pitt.
~~~ »Nichts dergleichen!« versicherte Laskirow keck. »Ich bin Inspektorin, nicht Spionin! Wie ist es, Herr Effesheimer, hätten Sie nach dem Essen Zeit, mich sachkundig durch die Burg und das Gelände zu führen und mir alles Wichtige zu zeigen?«
~~~ »Alles ..?« erwiderte Pitt lauernd.
~~~ Da faßte sie sich verwirrt ans Kinn und errötete sogar leicht.
~~~ Effesheimer wandte sich zu einem Tisch am Fenster und rief: »Was meinst du, Hiltrud, kannst du mich nach dem Essen für ein Stündchen entbehren? Frau Laskirow möchte unsere Trutzburg erläutert haben.«
~~~ »Kein Problem!« mümmelte die stämmige Frau zurück. »Ich weiß doch, du bist bereits ein echter Saubermann ...«
~~~ Jetzt wirkte Effesheimer etwas verlegen. Er sagte zu Laskirow: »Sie ist Ausbilderin hier. Sie gibt vorwiegend Waffenkunde und Waffenreinigung.«
~~~ Diese Erklärung quittierte Laskirow mit einem Grinsen, sagte aber lieber nichts.
~~~ Nachdem sie beim Abwasch geholfen hatten, führte Effesheimer sie zuerst auf den Turm. Von der im obersten Geschoß eingerichteten Wachstube aus hatte man tatsächlich einen einzigartigen Blick über ganz Ümmershand. Falls das Ländchen und der Berg nicht unter einer Nebeldecke lagen. Die Wachstube war immer rund um die Uhr von mindestens einem Beobachter besetzt. Im Augenblick war das ein hagerer, schon grauhaariger älterer Mann namens Hubert. Er reichte Laskirow ein Fernrohr und sagte:
~~~ »Damit können wir sogar nachts was sehen. Brände natürlich sowieso. Richten Sie es einmal auf Hildburghausen. Dort können Sie beispielsweise das Logo am Gebäude der Druck- und Verlagsanstalt entziffern. Habe ich recht?«
~~~ Sie stocherte etwas herum, dann hatte sie das Logo. »Stimmt! HDV mit einem D, in dem zwei Druckwalzen angedeutet sind.«
~~~ »Bravo!« lobte Hubert – und zwinkerte Effesheimer anerkennend zu. Hubert hatte wohl gemerkt, zwischen den beiden knisterte es. Für solche Brände war er nicht mehr zuständig.
~~~ Bald darauf kam es, wie es kommen mußte. Effesheimer wollte die Pferdeställe eigentlich übergehen, weil die meisten Gäule ohnehin auf der nahen Bergwiese grasten. Laskiro meinte jedoch, gerade die Ordnung in den Ställen müsse sie inspizieren. Drinnen deutete sie auf eine Leiter und wollte wissen, was »da oben« sei. Pitt erwiderte ohrkratzend: »Heu.« Das müsse sie überprüfen, erwiderte Laskirow sofort in strengem Ton. In Pitts Bauch erhob sich bereits ein Pulsen, als stelle jemand mit der Mittagssuppe galvanische Versuche an. Sie gehe vor, befahl die blonde Inspektorin, aber er müsse auf der Leiter dicht hinter ihr bleiben, falls sie einen Schwächeanfall erleide und abzustürzen drohe.
~~~ Es war ein Wunder, daß sie überhaupt noch hinaufkamen, ins Heu. Den Rest kann man sich denken.
10 Jovis ländlich
Anderntags half Laskirow der Fahrtwind, die schwärme-rischen Grillen aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Sie radelte ins südliche Dorf Sielen, wo Jovis wohnte. Er machte einen redaktionsfreien Tag. Er hatte zu Laskirow gesagt, es könne nichts schaden, wenn sie auch einmal ein »richtiges« Dorf der Republik kennenlerne. Wie sich herausstellte, bewohnte er einen ehemaligen Zirkuswagen, der hinter der Scheune von Hämmerchens Hof stand. So hieß auch die ganze GO, Hämmerchens Hof. Vom Zirkuswagen aus schweifte der Blick über eine ausgedehnte, von einem Bach durchquerte Viehweide bis zu einem schon gelb sprühenden Pappelhain. Es war noch wärmer als am Vortag. Auf der Weide grasten etliche rotbraune Kühe. Auf den Oberkanten der geöffneten Scheunentore erörterten Rauchschwalben die Frage ihres Abzugtermines und vollführten dabei akrobatische Wenden, sodaß sie mal den Hof, mal die interessante blonden Besucherin im Auge behalten konnten. Es war die reinste Idylle.
~~~ Sie unterhielten sich zunächst vor dem Wagen über die gestrige Scharfschützenübung. Redakteurin Mechthild war auf dem Berg gewesen und würde darüber schreiben. Effesheimer und Laskirow hatten den nachmittäglichen Sieg über das große, motorgetriebene Modellflugzeug keineswegs versäumt. Sie hatten sich nur, bevor sie auf die Flakterasse unterhalb der ehemaligen Burgmauer wankten, das Heu aus den Kleidern gezupft. Das feindliche Flugzeug, selbstverständlich von Ralf Blecherer (per Funk) gesteuert, kam aus Richtung Hildburghausen. An der Flak saß Nancy Litbarski persönlich, weil ihre Schützlinge es so wollten. Sie machte ihrem Ruf alle Ehre und traf den Jäger der Nato mit dem ersten Schuß. Dessen qualmenden Trümmer trudelten auf ein bereits gepflügtes Stoppelfeld. Schon nahte Hilmar Pohl mit einem Einspänner, trat ein paar glimmende Stoppeln aus und warf die Trümmer auf seinen Wagen. Er hatte es schließlich versprochen. Das Publikum johlte ihm Beifall klatschend zu.
~~~ Jovis hatte einen Gang durchs Dorf vorgeschlagen. Er wurde viel und durchaus freundschaftlich gegrüßt. Allerdings wußte er seiner Begleiterin, die ihm, ähnlich wie in Pitts Fall, nur bis knapp zum Kinn ging, auch von manchen unschönen Streitigkeiten zu berichten. »Sehen Sie den vierschrötigen Kerl da hinten an der Schubkarre mit Mist?« Sie nickte. Das sei Heinrich der Zänker, so sein heimlicher Spitzname. Er sei zu DDR-Zeiten Melker in der LPG gewesen. »Was soll man da machen? Auswandern wollte er nicht, wegen seiner Familie und seinem Häuschen. Jetzt gehört die Familie samt Häuschen wohl oder übel der GO Kolkrabe an. Neulich legte Heinrich ebendort eigenmächtig einen ihn oder seine Frau störenden Walnußbaum um – da wäre es fast zu Handgreiflichkeiten gekommen … Immerhin konnte sich die Tischlerei den dicken Stamm seines Opfers sichern. Erstklassiges Möbelholz!«
~~~ An der großen Tischlerei waren sie bereits vorbeigekommen. Die Leute bauten oft Fenster nach Maß für Sanierungen oder Neubauten im ganzen Land. Unter Walnußbäumen am Friedhof plauderten die SpaziergängerInnen etwas später mit einer Schar Kinder und einem jungen Mann, der auch durchs Gras grätschte. Sie sammelten Nüsse auf. Alle hatten dünne Handschuhe an, weil die Nüsse unangenehm abfärbten. Der Mann war der BG-Leiter der Kinder, erklärte Jovis auf dem Heimweg. Sielen hatte mehrere Bildungsgruppen. Daneben hatte es sogar ein eigenes Depot. In dem ehemaligen HO-Geschäft gab es vom überzähligen Beil zum Brennholzmachen bis zum gebrauchten Kinderwagen allerlei Devisen sparende Güter. Laskiro erspähte durch die Scheiben sogar einen fast neu wirkenden Zimmermannshut, unter dem sie wahrscheinlich gar nichts mehr gesehen hätte. Das Depot war aber zur Stunde sowieso geschlossen. Sielen hatte einen fünfköpfigen Dorfrat und einen Schiedsrat, der ihn leitete. Der Dorfrat tagte in der Regel nur monatlich, um Fragen zu behandeln, die alle fünf GOs betrafen. In geringfügigen oder dringenden Fragen fällte der Schiedsrat auch Entscheidungen allein. Er ähnelte einem herkömm-lichen Bürgermeister, aber auch Friedensrichter. Von daher durfte er also keine sozialpsychologische Niete sein.
~~~ Laskiro dachte noch an den Zimmermannshut. »Ist das denn keine Versuchung für Raffzähne und Geizhälse, wenn man in solchen Verteilungsstellen alles umsonst bekommt?« wollte sie auf dem Rückweg zu Hämmerchens Hof wissen.
~~~ Jovis schüttelte in seiner bedächtigen Art den Kopf. »Die RepublikanerInnen mögen gelegentlich unangenehme Streithammel sein, aber habgierig und verstockt eigennützig sind sie sehr selten. Sie haben viel Gemeinschaftssinn. Das verdankt sich zum Teil auch der DDR. Ja, viele Leute schenken sogar ausgesprochen gern. Die denken, das könnten doch die oder die gut gebrauchen, und freuen sich über deren Freude.«
~~~ Auf dem Hof roch es bereits verlockend. Sie gingen zum Mittagessen. Die GO hatte in ihrem größten Wohnhaus zwei Zwischenwände entfernt und so einen Gemeinschaftsraum geschaffen, der bequem für 50 bis 80 Leute ausreichte, die speisen oder sich streiten wollten. Es gab Schupfnudeln, Rosenkohl und ein wenig gebratenes Feldhasenfleisch, wie sich Laskirow von ihrem linken Tischnachbarn aufklären ließ. Witzigerweise war der Mann, vielleicht Mitte 40, Indonesier. Man sah es natürlich gleich. Er hieß Sofian. Als Laskirow von dem Schützenfest auf dem Heuberg erzählte, war er ganz Ohr. »Ich hatte die Woche schon zweimal!« versicherte er ihr stolz. Offenbar wußte Litbarski seine fernöstlichen Kampf- und Meditationskünste zu schätzen, die er auf den Camps einbrachte.
~~~ Die asiatischen Großstädte vermißte Sofian »um keinen Zoll«, wie er es ausdrückte. Dabei hielt er Laskirow seinen zum Tisch gestreckten Daumen vor die Nase. »Der reinste Horror, sage ich Ihnen!« Der mittelgroße, schlanke Mann war als städtischer Beamter Wasserbauingenieur in Surabaya gewesen. Inzwischen leite er das Projekt im Prollwald. Er meinte den Bau des neuen Wasserkraft-werkes, von dem Laskirow bereits gehört hatte. Sofian behauptete, es werde ganz Ümmershand mit Strom versorgen, weil die Republik auch im Stromverbrauch sehr sparsam sei. In Deutschland oder Rußland verhalte es sich bekanntlich genau umgekehrt. Man werde zum Verpulvern von möglichst viel Energie angehalten, weil sich die Konzerngiganten daran dumm und dämlich verdienten.
~~~ »Von Wind- oder Sonnenkraftanlagen halten Sie nicht viel?«
~~~ »Sie sagen es«, erwiderte Sofian und leckte seinen leergegessenen Teller ab.
~~~ Eine ältere zäh wirkende Frau von schräg gegenüber pflichtete ihm bei. »Diese riesigen Betonmasten mit den Windrädern sind doch zum Weglaufen!« schimpfte sie. »Und was soll das, ein ganzes Hausdach oder jede Kartoffelmiete mit blinkenden Solarzellen zu bepflastern? Die kriegen ja Schüttelfrost!«
~~~ »Wer?«
~~~ »Na, die Häuser und die Kartoffelmieten und obendrein die bedauernswerten RepublikanerInnen, die ihren Anblick ertragen müssen. Habe ich recht, Jovis?«
~~~ Er nickte schmunzelnd. Jetzt fiel Laskirow auch die von Pohl erwähnte Tirade über den Schutz des Öffentlichen Raumes ein. Sie war damals just von Jovis für das Monatsblatt Blick verfaßt worden.
~~~ »Davon einmal ganz abgesehen«, sagte Sofian im Aufstehen, »fallen diese Dinger, Wind- und Solaranlagen, auch nicht gerade vom Himmel. Sie sind sauteuer.«
~~~ Der Asiate nickte Laskirow mit einer kleinen Verbeugung höflich zu, brachte sein Geschirr zur Durchreiche und verschwand im Hausflur. Laskirow sah ihm beeindruckt nach.
~~~ Jovis nahm das als Zeichen und erhob sich ebenfalls. »Ziehen auch wir uns zurück, Frau Laskirow? Ich hätte in meinem Wohnwagen ein kleines hübsches Espressomaschinchen, das wird Ihnen gefallen ...«
~~~ Der ehemalige Zirkuswagen hatte an der Längsseite eine richtige Vortreppe, drei Stufen aus Holz. Zwar hatte Jovis morgens noch eingeheizt, aber jetzt ließ er die Tür aufstehen, wegen der Nachmittagssonne. Allerdings schloß er seine vorgebaute leichte Mückenschutztür. Sie bestand hauptsächlich aus feinem Fliegengitter aus Draht. An seinen vier Fenstern hatte er Netze. Laskirow durfte sich im Wagen umsehen, während Jovis den Espresso kochte. Die Wände waren beinahe edel mit hellem Holz vertäfelt. Auf einer erhöhten Bettstatt im Heck hatte der Bewohner etliche bunte Kissen so aufgetürmt, daß man seinen Ordnungssinn unmöglich anzweifeln konnte. Unter der breiten Matratze waren Schranktüren und Schubladen zu sehen. Der ganze Wagen war mückenfrei.
~~~ Durch das gute »Altweibersommerwetter« im Lande hatten sich in der Tat noch einmal ein paar Mücken aus ihren Schlupflöchern gewagt. Ein Stich ärgerte Laskirow bereits. Sie hatte, unterwegs im Dorf, gleich ein paar Tropfen aus ihrem Mücks-Fläschchen draufgetupft, nur etwas spät. Die berühmte Ümmershänder Mückenschutz-droge, unabgekürzt Mückenschreck genannt, wirkte ja vor allem vorbeugend und abwehrend. Den Schmerz von Stichen und entsprechende Schwellungen linderte sie freilich auch. Laskirow hatte in der Apotheke am Ümmerstädter Markt recht ausgiebig mit einem jüngeren Kollegen gefachsimpelt, der ihr Einblick in die Herstellung und den Vertrieb des Exportschlagers gab. Die häufigen Paketsendungen mit Mücks trugen die ApothekerInnen natürlich gleich zu der schräg gegenüber liegenden Poststelle.
~~~ Sie schlürften den Espresso. Laskirow nickte über ihre Schulter Richtung Scheune. »Sie haben ja eine merkwür-dige Wanduhr. Verglast! Wegen dem Staub?«
~~~ Jovis kicherte. »Wegen dem Lärm!«
~~~ »Wegen dem Lärm ..?«
~~~ »Jawohl. Die Uhr tickte mir zu laut. Nun gibt es heute schon geräuschlos laufende Uhren, aber die hätten wir ja kaufen müssen. Da hatte ein hiesiger Glaser, der mich besuchte, eine Erleuchtung. Tom nahm Maß, spitzte Marianne aus der Tischlerei an – und schon besaß ich einen Uhrendämpfkasten. Gehen Sie mal hin und legen Ihr Ohr an. Hören Sie etwa Ticken?«
~~~ »Nein.«
~~~ »Na also. Kaum hatte sich die Sache rumgesprochen, kamen die nächsten RepublikanerInnen und wollten ebenfalls einen maßgeschneiderten Uhrendämpfkasten. Inzwischen gibt es bereits Dutzende in Ümmershand. Man kann sich ein bestimmtes Holz wünschen oder eine ausgefallene Form des Kastens – Tom und Marianne richten es. Und niemand muß dafür auch nur einen Cent zahlen.«
~~~ Laskirow war belustigt und beeindruckt. Dann nickte sie auf Jovis‘ Bücherbord: »Und das Tagebuch von Renard haben Sie auch? Man hat mir neulich eine Übersetzung ins Russische vorgeschlagen. Ich bin noch unschlüssig, weil ich bislang nur diesen deutschsprachigen Auswahlband kenne.«
~~~ Er hieß Ideen, in Tinte getaucht, München 1986, Auswahl und Übersetzung Liselotte Ronte, Nachwort Hanns Grössel.
~~~ Der Blick-Chef dachte eine Weile nach. Dann verstülpte er seine Lippen und schüttelte wieder langsam seinen Kopf. »Ich rate eher ab. Jules Renard mag ein netter Mensch gewesen sein, dem oft treffende, knapp formulierte Beobachtungen gelangen. Aber als Denker war er eher eine Niete. Unangenehmer finde ich freilich noch, daß er immer wieder auf denselben Themen beziehungsweise Klagen herumreitet. Die Stichworte Talent, Seele, Theater, Faulheit etwa nerven einen auf jeder dritten Seite. Er meinte seine eigene Faulheit. Vielleicht nicht zu unrecht, denn wirklich ergründen tut er jene Phänomene nicht. Das aphoristische Glänzen entpuppt sich als Ausweichmanöver ... Ich muß dazu allerdings betonen: man weiß nicht genau, ob die vielen ermüdenden oberflächlichen Wiederholungen allein auf sein Konto gehen. Wenn ich mich recht an das Nachwort erinnere, wurde genauso oft an den ursprünglichen Aufzeichnungen herumgedoktert. Renard hatte sich mit einer wohlhabenden Frau verheiratet und wirkte winters in Paris, wo er auch als Dramatiker und Kritiker zu Ruhm kam, sommers in Burgund auf einem Dorf, von dem er sogar zeitweise Bürgermeister war. Er war verschwom-mener Sozialist. Er starb früh (1910) an Erschöpfung, Melancholie oder Narzismus. Seine Witwe sträubte sich zunächst grundsätzlich gegen eine Veröffentlichung der nachgelassenen Aufzeichnungen; der erste französische Herausgeber strich und verfälschte von sich aus beträchtlich; der Witwe paßt dies und jenes immer noch nicht – und dann kam auch noch Frau Ronte und rührte abermals in der mageren Suppe herum … Vermutlich wäre es für Sie, Frau Laskirow, äußerst aufwendig, bis zu den Ursprüngen vorzudringen. Ob dieser Aufwand sich lohnte, bezweifele ich. Renard war offensichtlich ein Selbstbespie-geler, der unablässig an seine Minderwertigkeitsgefühle, sein Seelenheil und seinen Nachruhm dachte. Auf Rontes Auswahlband würde ich mich jedenfalls auf keinen Fall stützen. Übersetzen Sie lieber was von Wiglaf Grote.«
~~~ Laskirow mußte sich von der Betäubung durch dieses spontane Kurzreferat erst erholen. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn und bat Jovis um ein Glas Wasser. Dann hakte sie nach: »Wiglaf Grote? Wer ist das?«
~~~ »Ein Kollege von mir aus alten Zeiten. Er hat sich inzwischen von der Jungen Welt abgewandt und schreibt unter anderem regelmäßig für den Blick. Ein scharfzüngiger Kurzessayist, obwohl er auch hübsche Gedichte liefert. Er hat uns gerade eine Attacke gegen die sogenannte Digitalisierung geschickt, die neuerdings in aller Munde ist. Ich habe mir einen Ausdruck mitgenommen, um ihn noch einmal in Ruhe zu lesen und durchzusehen. Was meinen Sie? Wir könnten den recht kurzen Text ja gemeinsam lesen. Oder ich lese ihn vor, damit ich mir gleich Randnotizen machen kann.«
~~~ Seine Besucherin war einverstanden. Sie sprachen auch noch eine Weile über Grotes Beitrag, aber dann schwang sich Laskirow aufs Rad, um dem Einbruch der Nacht zuvorzukommen. Hier ist der ziemlich hellsichtige Text, der bald darauf auch im Blick zu lesen war. Grote hielt ihn ursprünglich als Vortrag auf einer Konferenz in Berlin.
11 Die große Verflüssigung
Die Tage der gedruckten Texte sind gezählt. Immer mehr Blätter legen sich sogenannte Online-Ausgaben zu. Gedruckte Tageszeitungen werden um 2030 Antiquitäten sein. Auch die Buchproduktion wandert schon emsig auf die Bildschirme. Schließlich gibt es wunderbare grüne Vorwände: Wir müssen die Wälder retten! Papier ist Gift! Wie das CO² ...
~~~ Dies alles ist Unfug, doch er wird auch die VerfertigerInnen von wirklicher Literatur zur Abdankung zwingen. Denn diese ist in dem täglich anschwellenden, schwappenden Pichelsteiner Eintopf, den sie »online« oder »Internet« nennen, so gut wie verloren. Vielleicht haben Sie ja zu Hause noch ein richtiges Buch zur Hand, etwa von Alain, Egon Friedell, Friedrich Georg Jünger. Oder wenigstens eine Druckausgabe der Berliner Zeitung. Vom Ümmerstädter Blick will ich ja gar nicht sprechen. Und was sehen und spüren Sie da? Etwas Handfestes. Etwas Überschaubares und Unverrückbares. Sie sehen Wortmeldungen, auf die man bauen kann, weil sie sich über nacht und selbst durch die Jahre um keinen Deut verändern. Das ist die unabdingbare Voraussetzung für jede fruchtbare Auseinandersetzung: Festigkeit. Jene Suppe dagegen schlägt Ihnen stündliche Änderungen in den Texten und Werbeanzeigen um die Ohren, verfälscht Erscheinungsdaten oder streicht ganze Beiträge kurzerhand, selbst aus den Archiven. Sie bombardiert uns mit Laufbändern oder Schildern, nämlich Befehlen, jetzt dies zu lesen oder das zu tun und so endlos fort. Wer sich da nicht krankscrollt, muß das dicke Fell von Helmut Kohl haben. Die Suppe schwappt auf einer Sie durchschüt-telnden Tragbahre zum Irrenhaus. Auf dieser sind Sie bei der Wahrheitssuche garantiert auf dem falschen Dampfer. Nur beherrscht das Schwappen leider alle Flüsse und alle Weltmeere. Digitalisierung heißt das Zauberwort. Sie können es getrost mit Verflüssigung übersetzen. In dieser bunten Brühe werden wir alle noch im Laufe dieses Jahrhunderts jede Wette untergehen. Gewiß könnte die Buch- und Zeitungsverlagsbranche einige rettende Trittsteine setzen – doch sie hustet uns was. Sie kriecht der IT-Mafia in den Arsch, die uns weiter umzuerziehen gedenkt. Wir sollen Texte nur noch am Bildschirm lesen. Denn auf diese Art sind die Texte viel leichter zu manipulieren – und wir, die LeserInnen, viel besser zu überwachen.
~~~ F. G. Jünger hätte sich vielleicht weniger gossenhaft ausgedrückt als ich. Die Perfektion der Technik, von der er, mit Lewis Mumford, pionierhaft sprach, läuft auf Verzeitlichung hinaus. Die uhrenhaft aufgefaßte Zeit befehligt die herkömmlichen Maschinen, alle Computer und das ganze Internet. Wir können natürlich auch genauso gut von Entkörperlichung sprechen. Der Raum wird abgeschafft. Es ist jener Raum, in dem einmal Auseinandersetzung stattfand. Ja, es lebten sich sogar herzliche Gefühle in ihm aus. Nun gehen Sie einmal auf die Straße und beobachten Sie die Kinderwagen schiebenden jungen Frauen, die ungleich gebannter auf ihr Smartphone als auf ihr Kleinkind schauen. Glauben Sie, das Plag merkte das nicht? Daß es immer weniger beachtet und immer weniger geliebt wird? Aber es weiß es nicht. Und so wird es in einigen Jahren genau der richtige Mensch dafür sein, den Roboter Soundso in den Bundestag zu wählen.
~~~ Vielleicht läßt sich der junge Mensch noch retten? Wir häufen interessante Computerspiele auf seine Kinderwagendecke, und sobald er 18 ist, darf er in den Genuß jener Wehrpflicht kommen, die jetzt hier und dort schon wieder erwogen wird. Bilden Sie sich allerdings nicht ein, es ginge da noch ums Robben, Schießen und Handgranatenwerfen. Diese Wehrpflichtigen werden nur noch Kleiderständer für die BundeswehrausstatterInnen sein, die schließlich auch leben wollen. Wird der Raum grundsätzlich abgeschafft, gilt es selbstverständlich auch im militärischen Bereich. Die Kriege werden nur noch digital geführt. Zum Robben haben wir ein paar Kampfroboter, und was die unumgängliche Zerstörung von Feinden und feindlichen Landstrichen angeht, sitzt unser junger Mensch am Bildschirm und führt die zielgenauen Befehle aus, die ihm die Kommandeure des Bundesver-teidigungsroboters, ersatzweise das Management von Rheinmetall, übermitteln. Mit kämpfen und töten hat das nichts mehr zu tun. Es ist Büroarbeit.
~~~ Gewiß kann es geschehen, die andere Seite ist noch besser auf Draht als unser junger Mensch. Dann fliegt dessen Büro eben zuerst in die Luft. Für ihn wird die Verflüssigung zur Verflüchtigung. Er kann nur hoffen, in den Tiefen des Universums gebe es wenigstens ausreichend Buden für Dosenbier.
12 Öff im Rathaussaal
Eigentlich war Laskirow nur eine Woche für ihren amtlichen Auftrag in Ümmershand gewährt worden. Sie hatte jedoch, per Email, eine kleine Verlängerung bis Donnerstag erwirken können, weil für Mittwoch das bedeutende jährliche Erntedankfest der Republik angesetzt war. Das hatte sie nicht gewußt. Es war die einzige regelmäßige Feierlichkeit, die sich Ümmershand gestattete. Laskirow hatte überdies das für Montag angesetzte Öff ins Feld geführt, bei dem es, für Moskau gesprochen, um juristische Fragen ging. Pitt Effesheimer hatte sie wohlweislich nicht ins Feld geführt.
~~~ Als Effesheimer am Montag nachmittag, die Wachablösung auf dem Berg hinter sich, mit wehender schwarzen Mähne, umgehängtem Gewehr und Mantelsack hoch zu Roß auf dem Gutshof eintraf, hätte man fast einen Wildwestschmarren drehen können. Seine neue blonde Flamme hatte im Saal am Fenster gelauert. Jetzt lief sie hurtig hinaus, sodaß Effesheimer ihr gleichsam aus dem Sattel in die Arme fallen konnte. Es kostete ihn eiserne Disziplin, seinen Rappen erst einmal abzusatteln und zu versorgen. Dann verschwanden die beiden, vor einigen GO-Augen, im Gesindehaus, um Effesheimers Dachstube zu erklimmen.
~~~ Zum Abendbrot im Gutshaus hatten sie sich offen-sichtlich wieder in ordentliche RepublikanerInnen verwandelt. Effesheimer erzählte an ihrem Tisch aufgeräumt von dem Abschuß des Nato-Jägers; Laskirow steuerte Heinrich des Zänkers Übergriff auf den Walnußbaum bei. Das zweite paßte sogar zum Thema der Veranstaltung im Rathaussaal, zu der sie sich dann zu Fuß mit drei anderen Leuten begaben.
~~~ Der Rathaussaal war schon 10 vor Acht rappelvoll. Man hätte vielleicht doch in die Kirche gehen sollen, murmelte Isolde Blecherer. Aber dann hätte die große Stadtkirche mit den Publikumsrängen geheizt werden müssen – vielleicht doch zu aufwendig für den anstehenden Fall. Im Grunde hielt sie ihn für eine Posse.
~~~ Öff war das Slangwort für Öffentliches Forum. Die Einrichtung diente für Schlichtungen auf Republikebene. Es hatte auch Züge von Gerichtsverhandlungen. Eine Justiz im herkömmlichen Sinne gab es ja in Ümmershand mit Absicht nicht. Man leistete sich weder Staats- noch Rechtsanwälte und auch keine Gefängnisse. Alle Konflikte wurden von den Betroffenen selbst behandelt, und zwar zunächst dort, wo sie entstanden waren, also überwiegend in den GOs. Dabei konnten nach Gutdünken unbefangene SchlichterInnen beigezogen werden. Das Öff wurde bemüht, wenn der Streitfall von vornherein alle RepublikanerInnen betraf oder aber auf der unteren Ebene nicht beigelegt werden konnte. Es war unter allen Umständen öffentlich. Geleitet wurde es von einem Trio, das Landesschiedsrätin Blecherer von Fall zu Fall bestimmte, wobei sie oft auch Vorschläge der Betroffenen berücksichtigte. Das Trio trat stets einmalig zusammen, durfte also in derselben Besetzung kein nächstes Öff leiten. Den Vorsitz übernahm aber Blecherer meistens selbst. Am Schluß der Verhandlung fällte das Trio – nach öffentlicher Beratung – seinen Schiedsspruch. Ein Revisionsgremium über dem Öff war nicht vorhanden. Wurde der Schiedsspruch von einigen oder allen Betroffenen weder gebilligt noch in die Tat umgesetzt, hatte die Republik Pech. Der Fall blieb offen. Möglicherweise brachen Machtkämpfe aus. Es war bislang noch nicht vorgekommen.
~~~ Das Trio und die Betroffenen saßen sich auf dem niedrigen Podium gegenüber. Die »ZuschauerInnen« saßen oder standen eher ungeordnet im Saal. In der Regel war ihnen bekannt, bei einem Öff hatte man sich mit Wortmeldungen oder Klamauk entschieden zurück zu halten. Das Trio saß an einem kleinen Tisch, auf dem ein altersschwaches Tonbandgerät stand, für das Protokoll. Meist fertigte ein Blick-Redakteur später eine sehr geraffte Zusammenfassung an, die dann in dem Monatsblatt zu lesen war. Blecherers MistreiterInnen waren ein Vollbärtiger um 40 aus Bruhndorf, Willi genannt, und Zureiterin Ute vom Gut. Blecherer selber glich, im Gegensatz zu Ute, eher den Weideruten, die sie gelegentlich noch mit Leidenschaft in Korbwaren verwandelte. Ihre langen kastanienbraunen Haare band sie gern zum Pferdeschwanz oder gar zu zwei Zöpfen. Sie hatte eher etwas Mädchenhaftes als etwas Mütterliches. Sie galt als besonnen, klug und zupackend. Jetzt stellte sie das Tonbandgerät an.
~~~ »Liebe RepublikanerInnen, liebe Betroffene; Willi, Ute und ich danken für euer Erscheinen. Wir verhandeln heute einen Streitfall aus der GO Kirschgarten. Ich fürchte, das eine oder andere davon ist euch bereits zu Ohren gekommen – das ist gerade Teil des Problems. Zu viele Mutmaßungen und Verdächtigungen kamen in Umlauf, bevor ein ernsthafter Versuch der Aufklärung und Schlichtung unternommen wurde. Und auch dabei wurden Fehler gemacht, wie wir glauben. So ist der Fall bei uns gelandet. Ute wird ihn jetzt in aller Kürze umreißen. Anschließend beginnen wir mit der Anhörung.«
~~~ »Die wichtigste Zeugin steht uns leider nicht zur Verfügung«, stellte Ute fest. »Anja ist erst drei. Sie lebt mit ihrer Mutter Gerlinde nicht in der GO Kirschgarten, besuchte dort aber regelmäßig ihren Vater Oliver von der Schuberthof-Kommune der GO Molkerei. Neuerdings läßt ihre Mutter sie nicht mehr hin. Gerlinde hält nämlich Erich vom Schuberthof für einen Kinderschänder. Dies wurde ihm eines Tages von den Männern seiner Kommune eröffnet. Gerlinde habe Oliver empört erzählt, Anja habe sich beim Spielen einen länglichen Bauklotz zwischen die Beine gehalten und festgestellt, jetzt habe sie auch so einen großen Puller wie Erich. Was – du hast Erichs großen Puller gesehen? Das habe Anja bestätigt. Erich schien ehrlich verblüfft. Er beteuerte, von so etwas nichts zu wissen. Die Männer waren es zunächst zufrieden, doch Gerlinde blieb bei ihrer Geschichte, hielt Anja vom Hof fern, stritt sich mit Oliver, der allmählich wütend auf Erich wurde. Das Gerücht von dessen angeblichem Vergehen hatte längst die Hofmauer übersprungen. Er bekam es mit der Angst zu tun, suchte sich zu entlasten. Die Hofversammlungen jagten sich. Mit Ursula vom Schuberthof, Mutter der zweijährigen Inshia, trat eine weitere Anklägerin auf. Erich hatte Inshia zuweilen gehütet. Jetzt habe ein Schamanin aus Nordbayern mit Hilfe einer sogenannten Familienaufstellung nach der Methode Bert Hellinger festgestellt, auch ihre Tochter sei mißbraucht worden. Von wem wohl? Zuletzt war es nur noch Brigitte, die von den sechs Schuberthoffrauen unerschütterlich bei der Meinung blieb, man könne Erich vielleicht manche Schwäche nachsagen, aber niemals das Zeug zum Kinderschänder andichten. Doch auch die meisten Männer der Kommune schwenkten um. Sie gaben Erich zu verstehen, er möge endlich ein Geständnis ablegen oder zumindest den Weg für Anja freimachen, indem er gehe. Darauf wandte sich Brigitte mit Zustimmung von Erich an Isolde. Ich hoffe, meine Schilderung war halbwegs objektiv.«
~~~ »Danke, Ute«, sagte Blecherer. Während sie mit den Fingerspitzen beider Hände ihren Bleistift für Notizen zwirbelte, blickte sie etwas spöttisch zur gegenüberliegenden Betroffenen-Bank und ergänzte:
~~~ »Ich bilde mir allerdings ein, auf einigen Gesichtern Protest gegen deine Darstellung erblickt zu haben. Oder liege ich falsch?«
~~~ Einige Frauen auf der Bank wechselten Blicke, nickten einer der ihren aufmunternd zu, die sich auch durch Fingerheben meldete.
~~~ »Ja, bitte, Gerlinde.«
~~~ »Ute spricht von meiner „Geschichte“ und vom „Andichten“ …« Ihre Stimme wurde schärfer: »Geht es darum, unsere Kinder vor Mißbrauch zu schützen, oder darum, mich als Lügnerin hinzustellen?«
~~~ Zufällig hatte auch sie ihr langes braunes Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Laskirow, die neben Effesheimer auf einer Eichentruhe an der Saalwand saß, konnte sich Gerlinde durchaus in Reitstiefeln vorstellen. Eine gutaussehende, vielleicht verhinderte Gutsherrin.
~~~ »Selbstverständlich gehen wir davon aus, daß du wie alle versuchst, bei der Wahrheit zu bleiben«, erwiderte Blecherer besänftigend. »Das ist aber nicht immer so einfach. Wir haben uns zum Beispiel gefragt, warum du von Anjas Bemerkung her sofort auf einen Kindesmiß-brauch geschlossen hast. Und bald darauf der halbe Schuberthof auch? War das nicht etwas leichtfertig?«
~~~ »Wieso sollte es? Wenn sie von einem „großen“ Puller spricht? Da hat sich jemand einen vor ihr abgewichst!«
~~~ Durch den Saal lief ein gewisses Raunen. Laskirow überlegte sich, welcher von den Männern auf der Betroffenenbank Gerlindes »jemand« sein mochte, denn sie hätte nicht in dessen Haut stecken wollen. Unterdessen hatte sich Willi mit seinen Kollegen verständigt, das Wort zu ergreifen. Der Vollbart sprach sehr sachlich.
~~~ »Ich lebe seit 30 Jahren in Kommunen. Wie wohl auch die SchuberthöferInnen einräumen werden, geht es in Kommunen zumeist nicht sonderlich prüde zu. Da gibt es doch für die Kinder tausend Gelegenheiten, den mehr oder weniger großen „Puller“ eines Kommunarden zu sehen – ihn zu fürchten, aber vielleicht auch zu bewundern. Wir haben gemacht, was ihr versäumt habt: wir haben mit Kinderpsychologen gesprochen. Sie sagen, Kinder hätten mindestens so viele sexuelle Phantasien wie wir Erwachsenen selber. Leider wurde auch versäumt, Anja sofort von einem unbefangenen Fachmenschen befragen zu lassen. Inzwischen glaubt sie verständlicher-weise an die Geschichte, die ihr in gewisser Weise von ihrer Mutter bestätigt worden ist. Ich habe Anja übrigens bei Gerlinde besucht. Traumatisiert wirkt sie auf mich nicht.«
~~~ Eine andere Betroffene meldete sich. Sie war mindestens 50 und trug ihre randlose Brille ganz vorn auf der Nase. Sie hieß Brigitte. Blecherer erteilte ihr das Wort.
~~~ »„Bestätigt“ ist recht zuvorkommend ausgedrückt, Willi. Wenn du mich fragst, ist Anja eine klassische Suggestivfrage gestellt worden – falls es so war. Was – du hast Erichs großen Puller gesehen? Anja hatte ja nichts von „gesehen“ gesagt. Darauf wies ich damals auch sofort hin, aber damit bugsierte ich mich nur in die Rolle einer Abtrünnigen, die einen Kinderschänder decken will. Es war irre! Ich dachte: hier läuft die umgekehrte Hexenjagd. Erich wurde beargwöhnt und geschnitten, und dann trat auch noch Ursula mit ihrer Anklage auf!«
~~~ Blecherer nickte. »Zur Erklärung: Ursula steht uns ebenfalls nicht zur Verfügung, weil sie Ümmershand nach dem Befund der Schamanin, ihre Tochter Inshia sei mißbraucht worden, Hals über Kopf verließ. Sie hält sich gegenwärtig in einer badischen spirituellen Gemeinschaft auf … Es scheint mir nun angebracht, einmal den bezichtigten Schuberthöfer Erich nach seinen damaligen Empfindungen zu befragen.«
~~~ Die Blicke gingen zu einem blonden Mann um 40, der keineswegs häßlich, aber ziemlich unscheinbar wirkte. Laskirow hatte auf ihn getippt, weil er schon die ganze Zeit seine Lippen aufeinander preßte. Jetzt rieb er sich zusätzlich das unrasierte Kinn. Als er sprach, merkte jeder an seiner etwas brüchigen Stimme, daß er seine Erregung unterdrückte.
~~~ »Der Schock traf mich am nächsten Morgen. Ich hatte die Befragung durch die anderen Schuberthof-Männer schon fast vergessen. Aber dann betrat ich die Küche. Es saßen auch ein paar Gäste an unserem großen Eckbanktisch. Das Gespräch stockte; mitleidige oder sensationslüsterne Blicke trafen mich; die Teekanne, die Oliver gerade über den Tisch reichte, gefror für einen Moment in der Luft. Es war offensichtlich: man war bereits dabei, sich über mein angebliches Vergehen das Maul zu zerreißen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und verzog mich auf mein Zimmer. Unter dem Verdacht wurde mir plötzlich siedendheiß, denn mir dämmerte, daß ich Anjas und Gerlindes Geschichte niemals überprüfen, aber auch niemals meine „Unschuld“ beweisen konnte. Die Anschuldigung war ja zeitlich und örtlich nicht gebunden. Somit war kein „Alibi“ möglich. Saddam Hussein fiel mir ein, dem Bush und Blair das Messer auf die Brust gesetzt hatten: Beweise uns, in deinem riesigen Wüstenreich ist nicht ein Gramm Zyankali vergraben! Das fand ich dann immerhin witzig. Allerdings nur vorübergehend. Denn ehrlich gesagt, mir saß schon die Angst im Nacken.«
~~~ »Ängstigst du dich leicht? Neigst du zur Panik?« wollte Blecherer wissen.
~~~ »Leider ja. Ich habe schon mal ein großes Maul, aber kleinste Vorwürfe können mich bereits in Aufregung versetzen.«
~~~ Die Gesichter einiger Mitkommunarden bestätigten diese Selbsteinschätzung. Brigitte rührte sich. Ohne Blecherers Aufruf abzuwarten, warf sie ein:
~~~ »Deshalb hat er ja vermutlich so hektisch reagiert. Mit Hinweisen auf seine Unbescholtenheit, auf Widersprüche, auf möglicherweise unlautere Motive der beteiligten Kommunardinnen versuchte er sich auf unseren Krisensitzungen krampfhaft reinzuwaschen. Da sagten sich einige natürlich: Getroffene Hunde bellen.«
~~~ Ute sprach den Beschuldigten an. »Vielleicht hast du aus dieser Angst heraus an deiner Darstellung festgehalten, obwohl sie nicht der Wahrheit entsprach, Erich? Aus Angst vor Ächtung, Strafe, Vertreibung? Bleibst du überhaupt bei deiner Darstellung?«
~~~ Die Frage war nicht ungeschickt, sagte sich Laskirow, fast eine Falle. Sie merkte, die Spannung im Saale wuchs.
~~~ »Ich bleibe bei ihr. Ich habe mir in Bezug auf die beiden Mädchen nichts vorzuwerfen … Allerdings muß ich einräumen, daß ich ein paar Tage lang selber an meiner Unschuld zweifelte. Das war eine verrückte Sache. Ich sagte mir, vielleicht „verdrängst“ du etwas. Vielleicht bildest du dir nur ein, dich den Mädchen gegenüber stets korrekt verhalten zu haben. Ich zermarterte mir das Gehirn nach einer Gedächtnislücke, die mich überführt hätte – das war das Verrückte … Inzwischen habe ich ebenfalls einen „Verdacht“, nämlich mit einem ausgeprägten Bedürfnis nach Selbstbestrafung gesegnet zu sein.«
~~~ Blecherer gestattete sich ein leises Lächeln. Dann drehte sie aber eine gespreizte Hand über dem Tisch: »Vielleicht, Erich. Das muß nicht unbedingt ausschlaggebend sein. Die Angst ist ein weites Feld. Warum gestanden bei den Moskauer Prozessen Altbolschewiken Untaten, die sie nie begangen hatten? Selbstbestrafung? Oder doch eher die Angst vor der Ächtung, die Ute erwähnt hat? Durch ihre falschen Geständnisse fielen sie wenigstens nicht aus der großen, sie bergenden Gruppe von Väterchen Stalin heraus. Sie dienten ihr damit nach wie vor. Sie gehörten noch dazu, wenn auch im Sarg … Unabhängig vom Ausgang des Forums schlage ich dir jedenfalls vor, Erich, einmal nach den wunden Punkten in dir zu forschen, die die Pfeile geradezu anzuziehen scheinen. Hilfestellung dazu kann ich gern vermitteln.«
~~~ »Auch das noch! Nennst du das unparteiisch?!«
~~~ Der wütende Einwurf kam von einem sehnigen Langhaarigen mit Hakennase, der auf der Betroffenenbank saß. Blecherer blickte zu ihren Mitstreitern – offenbar wollten sie die Antwort ihr überlassen. Während die Korbmacherin vermutlich darüber nachdachte, wie sie auszufallen hatte, ließ sie ihren Blick durch den Saal wandern. Die Spannung stieg. Oder war es nur der Kniff eines mit allen Wassern der Gruppendynamik gewaschenen Schlitzohrs?
~~~ »Ich wage es, auf zwei unpopuläre Gesichtspunkte aufmerksam zu machen. Ich verstehe deine Ungehaltenheit, Oliver. Schließlich bist du der Vater. Aber darin liegt auch ein Problem – das wäre der erste Gesichtspunkt. So gut wie jeder Vater – entsprechend die Mutter – neigt dazu, sein Kind besonders gut oder heftig in Schutz zu nehmen. Es ist sein ganzer Stolz und nicht selten die wichtigste Quelle seines Selbstwertgefühls. Aber mit Gerechtigkeit hat dieses Clandenken, wie ich es gerne nenne, nichts zu tun. Es übersieht zu leicht, daß Millionen mißbrauchte, hungernde, dahinsiechende Kinder auf der Welt entschieden zu wenig Schutz genießen. Es ist unverhältnismäßig. Ich habe mir heute nachmittag bei einem Spaziergang plötzlich gesagt: mein Gott, jetzt popelst du mit Willi und Ute schon eine Woche lang an diesem Furz herum, der möglicherweise nur aufgeblasen worden ist, und die SchuberthöferInnen haben auch schon wochenlang daran herumgepopelt. Unterdessen schwebt wieder einmal die Giftspritze der Yankees über einem Schwarzen wie Mumia Abu-Jamal, der seit 27 Jahren im Todestrakt sitzt. Damit weg vom Kind und zum zweiten Gesichtspunkt. Da wir bekanntlich nicht dem Vergeltungs- und Rachegedanken, ja noch nicht einmal dem Strafgedanken anhängen, hat auch Erich Anspruch sowohl auf Schutz wie auf faire Behandlung. Auf seine Schuld oder Unschuld kommt es dabei noch nicht einmal an. Er ist unser Mitmensch. Plagt er sich – und andere – aufgrund schwärender Wunden, ist es unsere Pflicht und unser Interesse, ihm bei der Ausheilung zu helfen. Daher mein Angebot an ihn.«
~~~ Das Raunen lief wieder durch den Saal. Die Zustimmung oder gar Bewunderung schien zu überwiegen. Hier und dort gab es ein Kopfschütteln. Oliver starrte auf seine Füße; Gerlinde dagegen trug ihre hübsche gerade Nase ziemlich hoch und streifte das Trio mit höhnischen Blicken.
~~~ Hier hakte Vollbart Willi ein. »Brigitte sprach vorhin von möglichen unlauteren Motiven, die Erich oder auch andere bei seinen Anschuldigerinnen vermuten könnte oder tatsächlich vermutet. Möchte uns jemand dazu etwas sagen?«
~~~ Als sich kein anderer von der Betroffenenbank traute, gab sich ein jüngerer stämmiger Mann einen Ruck und meldete sich, indem er seine dunkel eingefaßte, modisch schlanke Brille anhob.
~~~ »Ja, bitte, Till.«
~~~ Er setzte die Brille wieder auf. »Es ist bei uns ein offenes Geheimnis«, sagte er lässig, »daß weder Gerlinde noch Ursula auf gutem Fuße mit Erich stehen. Gerlinde und Erich neigen beide zu Großspurigkeit, das biß sich seit jeh. Mit Ursula war es anfangs noch anders. Ein Blinder konnte sehen, sie machte sich Hoffnung, Erichs Zuneigung zu gewinnen. Es freute sie, wenn er Inshia hüten half und sich offenbar gut mit dieser verstand. Aber auf Dauer …«
~~~ Da er seinen Satz in der Luft hängen ließ, hakte Willi nach: »Was denn auf Dauer?«
~~~ Erich kam Till zuvor. »Sie merkte, ich hatte zu einer Liebschaft keine Lust. Im selben Maße wurde sie mir gegenüber schnippischer. Dann kam Anjas Geschichte – und in Ursula griff die Wahnvorstellung Platz, ich hätte mich an Inshia vergangen. Offenbar folgte sie dem beliebten Muster: Wenn einer den Bürgermeister ohrfeigt, dann hat er sicherlich auch dessen Amtsvorgänger umgebracht.«
~~~ Till konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. Dann meldete er sich. »Darf ich noch etwas sagen?«
~~~ »Ja, sicher.«
~~~ »Ich glaube inzwischen, daß wir Männer auf dem Schuberthof etwas voreilig unsere Schwänze eingezogen haben. Die Frauen dort waren seit jeher stark. Sie kamen vom Feminismus her, witterten überall Frauenfeind-lichkeit. Mit anderen Worten: wir Männer handelten wie Opportunisten, nämlich feige. Das stelle ich unabhängig davon fest, ob Erich Dreck am Stecken hat. Wir haben ihn im Stich gelassen. Ich sage das auch deshalb, weil mir Brigitte versichert hat, er habe sich in seiner Verzweiflung schon mit dem Gedanken an Selbstmord getragen. Denn was sollte er machen? Blieb er, saß er in der Hölle; flüchtete er, wurde es ihm unweigerlich als Eingeständnis seiner Schuld ausgelegt. Habe ich recht, Brigitte?«
~~~ Sie nickte.
~~~ Das war für Oliver zu viel. Er sah Till verächtlich an, zeigte ihm einen Vogel, stand auf und verließ den Saal. Die hohe Tür schlug ins Schloß. Laskirow, die sie fast im Rücken hatte, zuckte leicht zusammen. Das »Publikum« verhielt sich mucksmäuschenstill. Auf der Betroffenenbank ebenfalls keine Meldung. Erich hatte sich auf seine Schenkel gestützt und das Gesicht in seinen Händen vergraben. Dafür sahen zwei Schuberthoffrauen, die bislang stumm geblieben waren, in den Kronleuchter, der aufgrund des Abgangs von Oliver noch leicht zitterte.
~~~ Blecherer wandte sich an ihre MitstreiterInnen. »Vielleicht sollten wir zur Beratung übergehen?«
~~~ Da Willi und Ute nickten, verkündete sie: »Die Anhörung ist beendet. Bitte keine Äußerungen mehr. Wir beraten jetzt den Spruch. Hört bitte gut zu – ihr werdet als Zeugen benötigt, falls mein gutes altes Tonbandgerät den Geist aufgibt. Aber ich denke, wir sind uns in wenigen Minuten einig geworden.«
~~~ Laskirow würde Effesheimer später versichern, die sogenannte Beratung habe sie am meisten beeindruckt. Denn sie sei ja eigentlich gar keine gewesen. Es sei denn, die drei SchlichterInnen hätten gegenseitig ihre Gedanken gelesen. Dazu meinte ihr neuer Geliebter nur, die drei seien eben besonders erfahren, klug und hellhörig, deshalb hätten sie schließlich da vorn gesessen.
~~~ Sie begannen mit Schweigen. Offenbar versuchten sich alle drei zu sammeln und das Gehörte zu überdenken. Nach knapp zwei Minuten sagte Willi:
~~~ »Ich denke, Gerlinde und Oliver waren von guten Absichten geleitet. An Anjas Geschichte zweifle ich nicht. Allerdings glaube ich an einen harmlosen Hintergrund dieser Geschichte.«
~~~ Ute und Blecherer dachten nach – und nickten.
~~~ Blecherer fuhr fort: »Mich erfreut die Selbstkritik von Till. Sie ist eigentlich erschöpfend. Ich füge dennoch hinzu: es war ein grober Fehler, sich nicht gleich um unbefangene SchlichterInnen zu bemühen. Das hätte die Wogen vielleicht noch im Ansatz geglättet. Aber dann griff das Klima der Hexenprozesse um sich – und damit war alles verloren. Dagegen kommt keiner an.«
~~~ Die beiden anderen stimmten ihr zu. Nach einer Weile sagte Ute:
~~~ »Beweisen läßt sich natürlich nichts. Darauf hat ja Erich selber schon hingewiesen. Somit läßt sich der verheerende Verdacht nicht wirklich ausräumen. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, daß sich Erich einer bösen Verfehlung schuldig machte. Hat er aber selber ein reines Gewissen, muß er wahrscheinlich künftig gleichwohl damit leben, von soundso vielen anderen zeitlebens für einen Kinderschänder gehalten zu werden. Das nenne ich tragisch. Aber es gibt auch Schlimmeres, wie ja Isolde schon angedeutet hat.«
~~~ Blecherer nickte, Willi überlegte. »Na, ich weiß nicht, Ute. Es gibt den Begriff der Verzeihung. Wer ihn anwenden möchte, ist gar nicht mehr darauf erpicht zu wissen, ob X jetzt Z getan hat oder nicht. Vielmehr geht er von der Unzulänglichkeit aller Menschen aus. Wir haben alle das Zeug für Grausamkeiten und begehen mindestens jede Woche eine davon. Für eine revolutionäre Rechtsprechung schwebte Saint-Just vor, den Angeklagten nicht schuldig, sondern schwach zu finden. Er hat diese Idee später als Konventskommissar im Elsaß gnadenlos verraten. Aber ich würde sie gerade noch ausweiten. Sprecht euch aus, verzeiht euch eure Unzulänglichkeit, gelobt Besserung – das wäre mein Vorschlag an die Leute vom Schuberthof. Besteht nicht auf der Wahrheit! Denn in diesem Fall werdet ihr aus eurer Kleinkariertheit niemals herausfinden.«
~~~ Blecherer verstülpte anerkennend ihre Lippen, während sie Willi fast zärtlich musterte. Ute dachte nach und bedeutete nach einer Weile mit einer Handbewegung: vielleicht hat er recht.
~~~ Blecherer wandte sich zunächst an die Betroffenenbank, dann an die RepublikanerInnen im Saal, die sich kaum zu rühren wagten. Ihre Worte klangen so abschließend, wie sie gemeint waren.
~~~ »Versucht es also. Für den Fall, es mißlingt, fordere ich alle anderen auf, Erich Angebote für ein neues Unterkommen in unserer Republik zu machen. Wir wünschen nicht, daß er uns verläßt. Wir haben gesprochen.«
13 Rauhbeiniges
Die stämmige, vielleicht etwas kurzhälsige, 57 Jahre alte Katastrophenchefin Nancy Litbarski wäre bei einem DDR-Betriebssportfest sicherlich auch als Kugelstoßerin durchgegangen. Schon immer dunkelhaarig, hatte sie sich inzwischen einen kecken Bubikopf zugelegt. Den schüttelte sie jetzt, während sie den Stiel ihres Weinglases knetete. Sie erwiderte:
~~~ »Aber Frau Laskirow! Wegen solcher Eventualitäten braucht man doch keine Polizeitruppe zu mästen! Die wird nur mißbraucht. Das A & O einer Freien Republik ist die Eigenverantwortlichkeit. Das gilt auch für die Recht-sprechung, wie wir vorhin erst sahen. In der Westlichen oder Östlichen Tauschwertegemeinschaft läuft es natürlich anders. Diesen Schläger soll mal schön die Polizei einladen! sagt der Staatsbürger, geht vom Fenster aus zu seinem Fernsehsessel zurück und vergißt die Hilfeschreie. Oder er liest Zeitung und nickt: Genau richtig so! Solche VerbrecherInnen müssen von beherzten, gut ausge-bildeten, hoch bezahlten Richtern ins Zuchthaus gesteckt werden. Dann köpft der Staatsbürger sein Frühstücksei und denkt schon ans Mittagessen.«
~~~ »Genau«, ergänzte eine junge Frau, die Laskirow nur ganz flüchtig aus der GO Gymnasium kannte. »Die Ver-antwortung ist abgewälzt und das Gewissen beruhigt.«
~~~ Sie wurde Fränzchen gerufen. Sie und Litbarski zwinkerten sich zu, hoben wie auf ein Kommando ihre Weingläser und prosteten der Sonderbotschafterin versöhnlich zu.
~~~ Laskirow hatte sich von Effesheimer nach dem Öff in die Rote Reblaus führen lassen. Die Weinstube lag unweit vom Markt in einer bucklig gepflasterten Gasse und gehörte zur GO Molkerei. Draußen brannten ein paar Laternen, drinnen ein paar Kerzen. An ihrem langen Tisch saßen noch mehr Leute, die den angeblichen Kinder-schänderfall verfolgt hatten, darunter der hagere grauköpfige Kurt Lodenbrink, seines Zeichens Wirtschaftsrat der Republik. Laskirow hatte in seinem Büro bereits ein aufschlußreiches Gespräch mit ihm geführt. Die eher wenigen Kneipen der Republik gehörten stets zu einer GO und wurden von dieser verwaltet. Speisen gaben sie nicht aus. Dafür hatte man schließlich die GO-Küchenbetriebe. Meist hatten sie nur abends geöffnet, wenn der Einheimische mal neue Gesichter sehen oder seine neue Braut zur Schau stellen wollte …
~~~ »Aber sie waren doch selber lange Zeit Polizistin, zuletzt in Suhl, wie ich gehört habe«, sagte Laskirow zur Katastrophenchefin.
~~~ »Das schon. Isolde hat mich nach der Wende bekehrt, als ich einmal auf Besuch in Ümmerstadt war und ihre im Werkstattfenster stehenden Körbe oder Truhen bewunderte. Sie hat mich gleich auf solch eine Truhe gesetzt und mir die Sache mit der Eigenverantwortlichkeit verklickert.«
~~~ »Hm«, machte Laskirow. »Es gibt freilich Vorfälle, bei denen sich mancher nicht selbst helfen kann, weil er einfach zu schwach ist. Da ruft er halt die Polizei. Nicht jeder ist ja so kräftig wie Sie, Frau Litbarski.«
~~~ Während Litbarski geschmeichelt lächelte, mischte sich Lodenbrink ein. »In meiner alten GO, in Wickum, hatten wir einmal einen witzigen Beleidigungsfall. Plötzlich hing bei Hans-Georg, einem bärenstarken gelernten Schlosser, ein weißer Kopfkissenbezug aus dem Zimmerfenster, den er mit dickem Filzstift wie folgt beschriftet hatte: Lisa Soundso vögelt hier mit jedem zweiten Idioten. Ein paar Leute, darunter ich, baten ihn selbstverständlich sofort, sein übel riechendes Banner wieder einzuziehen. Er dachte aber gar nicht daran, so wütend war er auf Lisas Verweigerung und auf weiß der Teufel wen noch alles. Er drohte uns allen Prügel an und warf uns hinaus. Abends erschien er immerhin auf einer Vollversammlung der GO. Seine Zimmertür hatte er abgeschlossen. Auch dem Plenum gelang es jedoch nicht, Hans-Georg zum Einlenken zu bewegen. Nach zwei Stunden verständigte ich mich heimlich mit ein paar anderen GOlern, und wir verdrückten uns. Wir holten zunächst eine Anlehnleiter. Als wir sahen, sie war zu kurz, holten wir eine Fackel, entzündeten sie und hielten sie an das Banner. Nun verkohlte es natürlich. Dann kam Hans-Georg zurück. Kaum hatte er den Brand gerochen, bekam er einen Tobsuchtsanfall und stürmte durchs ganze Haus. Was wollen Sie da machen? Wir stürzten uns mit einem Dutzend Leute auf ihn, fesselten ihn mit einer Wäscheleine und warfen ihn auf sein Bett. Nach zwei Stunden hatte er erstens sein Bett durchnäßt, zweitens rief er um Hilfe und Gnade. Wir umringten sein Bett und besprachen seinen Übergriff beziehungsweise seine Beweggründe für noch einmal zwei Stunden. Er entschuldigte sich schließlich und versprach Besserung. Es war schon weit nach Mitternacht, als wir ihn von der Wäscheleine befreiten. Vorsichtshalber stellten wir allerdings Wachen auf. Bald darauf verließ Hans-Georg Ümmershand und verzog sich nach Norwegen, wo er Leute kannte. Ob seine Reue echt war, könnte wahrscheinlich keiner aus der GO beschwören.«
~~~ Laskirow blieb eine Weile stumm, dann hakte sie nach: »Und wenn er statt Reue Rache gezeigt hätte? In seinem Zorn zum Messer oder zum Gewehr gegriffen hätte?«
~~~ Lodenbrink hob zerknirscht die Arme und wiederholte: »Was wollen Sie machen? Widerstand leisten. Er wäre vielleicht nur verprügelt, aber wohl eher erschossen worden.«
~~~ »Das sagen Sie so unverblümt?«
~~~ Jetzt sprang ihm Litbarski bei. »Das ist immer noch besser, als ihn der kapitalistischen Gesundheits-, Ruhig-stellungs- oder Tötungsmaschinerie auszuliefern, Frau Laskirow. Es ist vor allem für die betroffene Gemeinschaft besser, für die GO oder ganz Ümmershand also. Solche handfesten, zuweilen erschütternden Erfahrungen helfen manches heilen und sogar verhindern. Davon sind wir hier überzeugt. Ist es nicht so, Pitt ..?«
~~~ Effesheimer schwankte für einen Augenblick sichtlich zwischen seiner Befürchtung, Wera vor den Kopf zu stoßen, und seiner republikanischen Solidarität. Doch dann erwiderte er leise: »Ja, so ist es, Nancy.«
14 Ihren Ausweise, bitte
Anderntags ging Laskirow mit Effesheimer zur Bank. Sie hatten sich über nacht gestritten, freilich auch wieder versöhnt.
~~~ Die einzige Bank der Republik lag in der Luhsestraße schräg gegenüber vom Gut. Das mehrgeschossige, zart grün getünchte Jugendstilgebäude gehörte sogar noch zur GO Gutshof, wenn die Bank selber auch »exterritorial« war. Die geschwungenen Fenster waren von weißen Ornamenten umrankt. Die Bank nahm lediglich das Erdgeschoß ein, weil sie wahrlich keine Berge an Goldbarren zu beherbergen und kaum Publikumsverkehr zu bewältigen hatte. Sie unterstand Lodenbrink, dem Wirtschaftsrat.
~~~ Zur Stunde war jenseits des Tresens lediglich ein junger, gemütlich wirkender Mann zu sehen, der sich von seinem Schreibtisch erhob und sie freundlich begrüßte. Effesheimers Schwester Anni hatte einen Haushaltsunfall erlitten und ihren Bruder gebeten, ihr etwas Geld für die Genesungskosten zu schicken. Sie wohnte alleinstehend in Belgien und war arm. Effesheimer gab dem diensthabenden Jürgen, so hieß er, Annis Bankdaten und bat ihn darum, ihr 800 Euro zu überweisen. Jürgen nickte und ging zum Telefon. »Ich kenne dich natürlich, Pitt, aber ich rufe mal vorsichtshalber drüben an.«
~~~ Darauf nickte Pitt seinerseits und erklärte Wera ein paar finanztechnische Gepflogenheiten. Wollten RepublikanerInnen Beträge über 150 Euro abheben oder überweisen, benötigten sie die Zustimmung ihrer GO. In dieser pflegten sie ihren Wunsch am Schwarzen Brett in ein paar Worten zu erläutern, und meistens galt die Sache als genehmigt, wenn bis zum nächsten Wochenplenum der GO kein Veto kam (ein rotes Fragezeichen mit Namenskürzel des Einwenders). Viel einfacher ging es nicht mehr. Mißbräuche hatte es in acht Jahren nie gegeben.
~~~ Jürgen hatte also im GO-Büro angerufen, und die dortige Diensthabende hatte die Berechtigung für Pitt bestätigt. Jürgen erledigte die Überweisung am Computer und gesellte sich wieder zu ihnen an den Tresen.
~~~ Gewiß gab es hin und wieder auch etwas kompli-ziertere Fälle der Identifizierung und des Sichausweisens. Einmal war man in Grenznähe sogar an einen Agenten geraten, der sich als Einheimischer ausgegeben hatte. Deshalb sagte Effesheimer:
~~~ »Könntest du Frau Laskirow einmal unser Schlüsselbrett zeigen, Jürgen?«
~~~ Der gemütliche Banker lächelte und hob leicht die Hände. »Warum nicht? Wenn Moskau das interessiert? Frau Laskirow wird mich ja wohl nicht im Tresorraum einsperren und mit dem ganzen Vermögen der Republik flüchten ...«
~~~ Sie gingen gemeinsam zur Tresortür. Nachdem Jürgen seinen Code eingegeben hatte (immerhin hinter vorgehaltener Hand!), schwenkte er die Tür auf und überließ den Kunden den Vortritt. Der gut erleuchtete schmale Raum schien im wesentlichen für den bunten Klimbim da zu sein, der ringsum in zahlreichen Reihen an den Wänden hing. Es waren verschieden farbige, anscheinend unten gezähnte, kaum daumengroße Kartonstreifen. Ein auswärtiger Kunsthochschulprofessor hätte vielleicht von einer originellen »Installation« gesprochen. Beim näheren Hinschauen sah Laskirow, daß auch die Zähnung unterschiedlich war. Sie machte große Augen und fing sogar zu kicheren an, als ihr Effesheimer an einem Besuchertischchen außerhalb des Tresorraumes den Zweck und die Anfertigung der »Schlüssel« erläuterte. Es waren übrigens um 2.000 Exemplare!
~~~ Die RepublikanerInnen hatten keine eigenen, Ümmershänder Ausweise. In der Regel benötigten sie auch keine, da ja fast jeder jeden kannte, Polizei nicht vorhanden und die Lust zu Verbrechen äußerst gering war. Für die angedeuteten Ausnahmefälle jedoch hatte man die bunten Pappstreifen eingeführt. Der persönliche Streifen wurde für jeden Neuaufgenommenen im GO-Büro angelegt. Man durfte sich einen Streifen wählen. Der diensthabende GOler schnitt die immer etwas andere Zähnung hinein und beschriftete die so erhaltenen Teile mit dem Namen und der GO des Neuen. Den unteren Teil hatte der Neue gut zu verwahren, das Oberteil wanderte zur Bank – eben in den Tresorraum. Das war alles. In den seltenen Fällen der Unsicherheit oder des Argwohns ließ sich die Identität eines Republikaners also überprüfen, indem die beiden gezähnten und farbigen Schlüsselteile wieder aneinander gehalten wurden. Diese Prüfung war in acht Jahren vielleicht viermal vorgekommen. Auf einem anderen Blatt stand allerdings, was man tun sollte, wenn ein Republikaner sein Schlüsselteil verlegt oder verloren hatte. Auch deshalb war die Einrichtung nicht unumstritten. Bislang war diese Nagelprobe noch nicht eingetreten.
~~~ Laskirow war wirklich belustigt. Auch Effesheimer grinste. »Die meisten nehmen die Sache als Scherz. Einer hat das vor Jahren mal ausgeknobelt und durchgesetzt, und allmählich hängt man an der Marotte. Wie der Schlüssel am Brett ...«
~~~ Jürgen hatte ihnen einen Kaffee spendiert. Sie brachten ihm die Tassen und verabschiedeten sich. Effesheimer begleitete Laskirow zum Rathaus, wo sie eine Verabredung mit Isolde Blecherer hatte.
~~~ »Gibt es bei euch eigentlich Trauungen und Ehen?« wollte Laskirow plötzlich wissen. Sie waren um die Stadtkirche auf den Markt eingebogen. Ein paar Kinder ließen auf dem Brunnen Schiffchen fahren. Noch war es dazu warm genug.
~~~ Jetzt mußte Effesheimer erneut grinsen. Er beherrschte sich jedoch. »Nein«, erwiderte er. »Seit dem Umsturz 2002 gibt es jedenfalls keine Trauungen mehr. Was sollte das auch, wenn man keine Reichtümer mehr hat, über die man sich zanken könnte? Und die Kinder in der GO ihresgleichen haben, dazu auch Bildungsgruppen und erwachsene Freunde, wenn sie wollen, und also bestens versorgt sind?«
~~~ »Stimmt eigentlich«, sagte Laskirow nach kurzem Nachdenken. Sie gab Effesheimer vor der Rathaustreppe einen Kuß und scheuchte ihn mit dem Handrücken zur Post. Er wollte dem Blick das Notenblatt eines Liedes bringen. Das bekam er per Email nicht hin.
~~~ Das Ümmerstädter Rathaus war beinahe ein kleiner Bruder des Gutshauses: barock mit Mansardengeschoß. Über dem Sturz der Flügeltür saß das Republikwappen mit dem Strohhalm und der Zwergsonne. Wie die Bank, die Stadtkirche und beispielsweise die Kläranlage war das Rathaus allerdings gleichsam exterritorial, also von der Verantwortung der einen oder anderen GO ausgenommen. Die Räte hatten sich selber darum zu kümmern, wer es zu pflegen und im Winter zu heizen hatte.
~~~ In der kleinen Eingangshalle wurde Laskirow von der Bildungsrätin gegrüßt, die in der linken Ecke hinter einem geschwungenen Tresen an Computer und Telefon saß. Monika war heute CD. In der anderen Ecke schien ein Grüppchen, unter eingetopften Farnen sitzend, ein Gespräch zu führen, möglicherweise über Naturschutz-maßnahmen. Dann gab es noch ein großes Schwarzes Brett. Laskirow nahm die Treppe in den Oberstock.
~~~ CD hieß nicht Schallplatte sondern Chef oder Chefin vom Dienst. Eine Wechseltafel nannte Namen und Amt, außerdem seine GO, wo er etwa mittags oder nachts im Notfall zu erreichen war. Als CD hatte er sogar ein Handy. In der Regel benutzte er aber die Festnetztelefone. Im GO-Alltag war der Mobilfunk ohnehin streng verpönt. Der CD war für einen Tag Sprecher, Mädchen für alles und in dringenden Fällen Entscheider, unter Umständen auch Retter der Republik. Die Räte wechselten sich täglich in dem Posten ab. Das galt auch für das sogenannte Wochenende. Jeden Morgen um Acht fand eine kurze Übergabe statt. »Hier, da hat so ein Heini aus Dresden angerufen, der will die Landesschiedsrätin interviewen. Darunter tut er es nicht.«
~~~ Blecherers Büro im Oberstock mutete ähnlich karg an wie sie selber. Sie trug aber wieder Zöpfe, konnte also nicht völlig unverspielt sein. Einziges Bild an den Wänden war ein recht großes Farbfoto in blassen, bräunlichen Tönen. Es paßte zu Blecherers Haarfarbe. Es zeigte in den unteren beiden Dritteln einen umgebrochenen Acker, im oberen Drittel den milchigen Himmel, dem ein einzelner kahler Baum widerstand. Eine sorgsam erwogene, stimmungs-volle Untersicht-Komposition. Das Foto stammte von Fifi. Den großen Abzug hatte sie Blecherer einmal zum Geburtstag geschenkt. Kanzlerin Merkel, die ja auch aus der DDR kam, hätte sich vielleicht eher einen Wald erwünscht, einen Wald aus vaterländischen Fahnenstangen.
~~~ Nachdem sie einige politische und diplomatische Fragen erörtert hatten, lenkte Laskirow auf die Mühen des Schlichtens. Das schien Blecherer durchaus recht und sogar trostspendend zu sein. Sie ließ durchblicken, wie oft sie sich von ihrem Amt gebeutelt fühle. Ja, im Grunde sei sie von der ganzen Revolutionszeit schon halb ausgehöhlt worden. Man habe es unablässig mit Widersprüchen zu tun, die in vielen Fällen kaum lösbar seien. Wenn sich Laskirow etwa von der Überschaubarkeit und der Erdnähe der Republik beeindruckt zeige, dürfe man doch nicht verhehlen, wie einengend und verletztend sich die ständige »Soziale Kontrolle« für manche Genossen immer mal wieder darstelle. Prompt wendeten Kollegen wie Bildungsrätin Monika ein: Ja, schon. Die Bürgerin in Leipzig oder Moskau poche auf ihre »Anonymität«, die ihr ein Höchstmaß an Freiheit gewähre – und die moralischen und volkswirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten gingen die Elbe oder die Wolga hinunter. Der Einwand sei berechtigt. Die »Solidarität« verkomme zur Anhänglichkeit an die Irren in Washington, London oder Peking. »Sofian aus Sielen, der Asiate, hat uns einmal von den chinesischen Metropolen berichtet – meine Herren, lauter Alpträume!«
~~~ Laskirow nickte und musterte wieder den einsamen kahlen Baum auf dem Wandbild. »Vielleicht spielen ja bei Ihrem Gefühl, ausgehöhlt zu werden, auch persönliche Enttäuschungen mit, Frau Blecherer. Wer von uns ist schon ein Panzerschrank. Nancy Litbarski etwa ..?«
~~~ Die Schiedsrätin lächelte dünn. »Ja, sicher! Diese persönlichen Enttäuschungen, wie Sie es nennen, sind immer im Spiel … Wissen Sie, was geradezu ein Tiefschlag für mich war? Das war 2004, gleichsam noch im Aufbruch der Republik. Da kamen Edith und Friedhelm Luhse zu mir, die Eltern des erschossenen 17jährigen. Wir waren seit Jahren gut befreundet. Isolde, sagten sie, wir wollen uns von dir verabschieden. Wir wandern aus, nach Uruguay. Mit der GO ist schon alles geklärt. Wir wollen nicht, daß Gisela auch noch von Markus‘ Schicksal ereilt wird.«
~~~ »Gisela?«
~~~ »Markus‘ Schwester. Die nahmen sie also mit.«
~~~ Laskirow konnte den Gram der Schiedsrätin sozusagen deutlich in dem kahlen Baum hängen sehen, wie dessen inzwischen umgepflügten und vermodernden Blätter. Blecherer blickte aber wohlweislich auf ihre billige Armbanduhr.
~~~ »Wir müssen leider Schluß machen, Frau Laskirow. Ich habe um 11 eine Kleingruppensitzung. Die Leute werden gleich eintrudeln. Ich muß noch einmal in die Unterlagen sehen.«
~~~ Die Sonderbotschafterin dankte ihr warm und verschwand. Sie ging zur ehemaligen Post, wo Effesheimer sie in der Bücherei erwartete. Sie machten einen kleinen Spaziergang an der Ümmer, bis zum Gutshof, wo es bald Reibekuchen mit Apfelmus geben würde. Ihr Gespräch mit Blecherer überging Laskirow, denn es wäre ihr indiskret vorgekommen. Sie erkundigte sich jedoch bei ihrem Geliebten, welche Bewandtnis es mit »Kleingruppen« habe.
~~~ »Das sind vorübergehende Arbeitsgruppen zu bestimmten ungeklärten Problemen«, erklärte Effesheimer bereitwillig. »Die Räte rufen bei Bedarf auf unserer Webseite dazu auf, und falls der Zulauf zu groß ist, verlosen sie die Teilnahme. Jeder Republikaner kann aber auch von sich aus eine Kleingruppe beantragen. Weigert sich ein Rat, kriegt er spätestens auf der LdK Haue.«
~~~ Da kommt wohl die Bergwacht bei ihm durch, dachte Laskirow. Dann hatte sie noch eine Frage: »Was machen denn RepublikanerInnen, die aussteigen wollen? Die beispielsweise nach Deutschland zurückgehen oder nach Uruguay auswandern möchten? Die haben doch keinen Pfennig Geld!«
~~~ Effesheimer drehte seine gespreizte Hand. »Unter Umständen doch! Es kommt auf ihren sogenannten Ausstiegsvertrag an. Den schließt jeder gleich beim Einstieg mit der GO ab. Er ist nicht lang. Er regelt unter anderem, was der Betreffende im Falle seines Fortgangs, über seine persönliche Habe hinaus, mitnehmen darf. Also auch an Geld. Sein eingebrachtes Vermögen spielt dabei keine Rolle. Es geht nur darum, ihm ein für seinen Fall angemessenes Startgeld zuzusichern. Das sind gegenwärtig im Schnitt vielleicht 3.000 Euro. Veränderungen der Lage beim Ausstieg werden berücksichtigt. Erwartet den Aussteiger ein reicher Onkel oder ein hochdotierter Posten, kriegt er jede Wette weniger. Nimmt er Kinder mit, bekommt er natürlich mehr. Schließlich sind die Fälle, geradeso wie die Persönlichkeiten, nicht gleich. Man hat lediglich das gleiche Veto- und das gleiche Mitwirkungsrecht.«
~~~ »Verstehe«, erwiderte Laskirow und hängte sich stärker bei Effesheimer ein. Dieses Thema hatte sie ja wohl eben mit Isolde Blecherer erörtert.
15 Erntedankfest mit stilwidrigem Feuer
Wie man sich vielleicht erinnern wird, stand das Ümmer-städter Erntedankfest bereits an der Wiege der Republik. Damals wurden in der Stadtkirche hufeisenförmige steile Ränge nach Art des Griechischen Theaters eingebaut. Der Altar aus Sandstein blieb zwar unangetastet, doch man nutzte ihn jetzt nicht, um etwa dem Herrgott oder der Mutter Natur zu huldigen. Das Fest diente hauptsächlich der Begegnung und dem Ausdruck der Freude über gewisse Errungenschaften der Republik und ihre wieder um ein Jahr gewachsene Lebensdauer. Riesenkürbisse wurden nicht prämiert. Somit konnten die RepublikanerInnen aus den vier echten Dörfern mit dem Fahrrad anreisen. Die wenigen ausheimischen Gäste konnten auch nichts kaufen. Die durchtriebene Gulasch- oder wahlweise Zuccinisuppe am Mittag, die sich jetzt auch Laskirow und Effesheimer auf dem Markt schmecken ließen, war für alle umsonst. Für die Beköstigung hatten sich die städtischen Küchenbetriebe zu einer Kompanie an der Gulaschkanone vereinigt. Das war harte Arbeit. Andere mögliche Leidtragenden waren die BewacherInnen des Festes beziehungsweise der Republik. Auf dem Heuberg äugten sie wie immer aus; in den halbleergefegten Dörfern liefen jeweils ein paar Leute Streife. Die Katastrophenrätin achtete auch hierbei darauf, nie dieselben WächterInnen für zwei Jahre hintereinander einzuteilen.
~~~ Das Erntedankfest war das einzige offizielle Jahresfest der Republik. Den größten Gewinn davon hatten die Kinder. Hilmar Pohl zog mit roter Pappnase und zwei Ponys, die als Elefanten kostümiert waren, über den Markt und machte allerlei Späße. Ute hievte fließbandmäßig kleine Kinder auf die Elefanten. Über dem Brunnen war sogar eine Burg errichtet worden, die der Heubergruine ähnelte. Erstklassige Zimmermannsarbeit, und nicht einfallslos. Drohten die VerteidigerInnen der Burg ausgehungert zu werden, konnten sie im Brunnen angeln. Die BestürmerInnen durften sich stilwidrig als Indianer-Innen anmalen und verkleiden. Zwei SanitäterInnen verfolgten das Geschehen von einem nahen Balkon aus, wo sie heimlich Walnuß-Likör süffelten. Effesheimer sollte abends mit seiner Combo von der Rathaustreppe aus zum Tanz aufspielen. Er hatte also noch Zeit. Er wanderte mit Laskirow auf dem Marktplatz umher und stellte sie in zwei Stunden sicherlich 30 Leuten vor.
~~~ Gegen 17 Uhr begaben sich fast alle Leute zur Festversammlung in die geheizte Stadtkirche. Man hörte sich traditionell immer eine kurze Festansprache und verschiedene satirische Beiträge an. Lydia Schulz, die BG-Leiterin vom Friedhof, saß an der Orgel und gab witzige Untermalungen, darunter eine Bearbeitung eines spätromantischen kleinen Orchesterstückes vom Franzosen Chabrier, den Fröhlichen Marsch. Die einleitende Ansprache, nie länger als zwei oder drei Minuten, kam stets von der Kanzel. Diesmal wurde die Kanzel von einem hochgewachsenen Mann in schlotterndem schwarzem Talar erklommen, der sich allerdings, statt Bäffchen, eine knallrote Krawatte mit auffällig plumpem Knoten umgebunden und einen hohen, unförmigen dunklen Rumpelstilzchen-Hut mit grüner Feder aufgesetzt hatte. Es war Jovis. Er räusperte sich umständlich, während er verlegen seinen Krawattenknoten befingerte.
~~~ >>Liebe Gemeinde, ich weiß schon, die Krawatte sitzt noch nicht tadellos. Der modebewußte Herr des deutschen Biedermeiers konnte seine Taler in Schulungskurse bringen, die eigens für das Studium des verwickelten Anlegens der Krawatte, den letzten Schrei, angeboten wurden. Nun, mit diesem kostspieligen Unfug hat die Ümmershänder Revolution aufgeräumt. Es gelang uns sogar, das kostspielige Bedürfnis nach Frömmigkeit zu unterhöhlen. Ihr wißt ja, anfänglich gab es an der Ümmer vergleichsweise starke Strömungen der hippiehaften und anthroposophischen Art. Sie verliefen sich dank unserer praktischen Erfolge. Jetzt aber meldet sich aus dem Münsterland wieder ein sogenanntes anarchistisches Monatsblatt zu Wort, das unser militaristisch untermauertes Heidentum rügt. Wir ballerten bereits mit Kanonen herum und stießen jede spirituelle Bemühung um Friedensstiftung und demütigen Lebenswandel eifrig vor den Kopf. Was das sei, Spiritualität, fragt ihr vielleicht? Es ist alles, was verwaschen und nebelhaft genug ist, damit es keiner auf den Schlips treten kann. Es ist Gefühlsduselei, aber das darf man nicht laut sagen, weil man sonst die Götter, Mutter Natur oder den ganzen Kosmos verstimmt. Stattdessen soll man Demut an den Tag legen, wie schon gesagt. Vor wem denn, bitteschön? Vor Phänomenen und Mächten, die noch nie ein Mensch gesehen geschweige denn berührt hat? Vor völlig undurch-sichtigen, uns himmelweit überlegenen Strukturen, an denen wir keinen Fingerhut voll Mitbestimmungsrecht hatten, sollen wir uns verbeugen? Nein, da ist ja wohl nicht die rechte anarchistische Art. Den irdischen Machthabern und ihren Überredungskünstlern sagt es allerdings zu, weil sie in dieser wallenden Frömmigkeit wunderbar ihr einträgliches Süppchen kochen können. Ich hoffe, unsere Gulasch- oder Zuccinisuppe hat euch geschmeckt. Vielen Dank an die beteiligten Küchenleute.<<
~~~ Es gab auch im Folgenden viel Gelächter und Beifall. Den Schlußpunkt setzte dieses Mal Isolde Blecherer mit einem unerwarteten Beitrag. Sie lehnte sich an den Altar und teilte mit:
~~~ »Der Republikrat wagt es aus aktuellem Anlaß, einen außerordentlichen Festbeitrag zu liefern. Er hält es für ratsam, euer massenhaftes Erscheinen zu einer Art Plebiszit zu nutzen. Zwar tagt in Kürze auch die LDK, doch unser Vorschlag ist heikel und betrifft noch die letzte Feldmaus in unserem idyllischen Winkel. Wir möchten ihn auch gern schon im nächsten Blick veröffentlichen, der ja in wenigen Tagen herauskommt.
~~~ Ihr werdet wissen, daß unsere Dörfer Wickum und Drais seit rund anderthalb Jahren unter nächtlichem Hubschrauberlärm leiden, der ihnen im Schnitt alle zwei Wochen zugemutet wird. Nach unseren thüringischen Gewährsleuten kommen die Hubschrauber stets von Meiningen oder Bad Salzungen her. Dies alles ist dokumentiert und auf unserer Webseite einzusehen. Anscheinend handelt es sich bei dem meist um 20 Minuten anhaltenden Lärmterror um Nachtflugübungen der Bundeswehr. Wir haben nacheinander die Bundeswehr, den Erfurter Landtag und zuletzt sogar den deutschen sogenannten Bundesverteidigungsminister angeschrieben. Das Echo? Überwiegend Schweigen, zuletzt vertröstende Phrasen. Jetzt haben wir, um es einmal proletarisch auszudrücken, die Schnauze voll. Offenbar glauben die genannten Stellen, mit einem Zwerg wie uns könne man ja so verfahren. Sie befürchten vielleicht nicht zu unrecht, zuviel Nachtflug über thüringischem Gebiet könne zuviele ThüringerInnen aufbringen; ergo fliegen wir ein gutes Stück weit, nachweislich, über Ümmershand. Die Klausel über den Schutz unseres Luftraums im Staatsvertrag mit Deutschland halten sie offensichtlich für Luft. Diese Frechheit muß jetzt enden! Wir möchten den genannten Stellen und der Öffentlichkeit deshalb mitteilen: Sollte der Lärmterror gegen unsere beiden nördlichen Dörfer nicht sofort aufhören, werden wir den nächsten Hubschrauber, der unsere Grenze verletzt, abschießen. Ihre Schlapphüte vom MAD dürften ja inzwischen spitzgekrieg haben, wir besitzen zwei Luftabwehrgeschütze und verstehen diese auch durchaus zu bedienen. Wir hoffen, Sie haben uns verstanden. Schärfen Sie unser Ultimatum auch den zuständigen Offizieren und den betreffenden Piloten oder Flugschülern ein. Wenn diesen Uniformierten der Schneid für eine sogenannte Gehorsamsverweigerung fehlt, sollen sie eben ins Gras von Ümmershand beißen. Mit freundlichen Grüßen – der Rat der Republik.«
~~~ Man hatte zuletzt geradezu hören können, wie einige Leute auf den Rängen leise durch die Zähne pfiffen. Andere grinsten oder kratzten sich hinterm Ohr. Blecherer ließ eine Minute verstreichen, dann erkundigte sie sich:
~~~ »Seid ihr einverstanden? Gibt es Einwände? Oder gar ein Veto?«
~~~ Nach einigem Tuscheln auf den Rängen meldete sich ein ältere Frau aus Bruhndorf. »Nehmen wir mal an, die scheißen uns was, ihr holt den Hubschrauber herunter – und dann? Dann kommen die deutschen Rettungswagen angerast. Wollt ihr die ebenfalls abschießen?«
~~~ Blecherer blickte zu Litbarski, die sich das Grinsen nicht verkneifen konnte. Jetzt zwinkerte sie der Schiedsrätin ermunternd zu.
~~~ »Gute Frage, Hilde. Wir haben sie uns auch schon gestellt. Wir glauben jedoch daran, sie werden nicht auf uns scheißen. Dabei muß man ja auch bedenken, wir sind mit einer größeren östlichen Macht verbündet, der die Fortsetzung der Erfurter und Berliner Ignoranz unseres Anliegens jede Wette gar nicht schmecken würde. Darüber habe ich auch schon mit unserem derzeitigen ausländischen Gast gesprochen, Wera Laskirow. Da sitzt sie übrigens.«
~~~ Sofort wandten sich viele Köpfe zu Laskirow, die wieder einmal leicht errötete. Dann prasselte Beifall. Er galt ihr, dem hohen Gast.
~~~ Als der Beifall verebbt war, sagte Blecherer: »Also, wie steht es? Seid ihr einverstanden?«
~~~ Es sah so aus. Keine Wortmeldung mehr.
~~~ »Dankeschön«, sagte Blecherer und löste sich endlich von dem kalten Sandsteinaltar.
~~~ Erneut Beifall, aber diesmal für sie.
~~~ Damit war die Versammlung beendet – 50 Minuten. Die Leute schwärmten auf den Markt aus, um sich ihren Abendimbiß auszugucken. Es wurde schon dunkel. Ein Lampionschein brachte Laskirows Haar zum glänzen, während sie sich durch eine Käsestulle futterte. Der Hubschrauberbeschluß war doch kräftezehrend gewesen. Pitt widmete sich der berühmten Ümmershänder Rostbratwurst und hielt seiner Geliebten nebenbei einen inoffiziellen Vortrag über Lärmterror. Er war vom Fach. Er hatte als junger Mann in einer Rockband gespielt, die von ihren Verstärkertürmen aus am liebsten nach erlegbaren Kronleuchtern Ausschau hielt. In einer Stunde sollte er wieder zur Gitarre greifen. Er spielte eine bauchige Westerngitarre ohne Stromanschluß, manchmal auch Banjo. Am Vormittag hatte er bereits geholfen, vor der Rathaustreppe einen ausgedehnten Tanzboden aus Balken und Bohlen zu verlegen. Das Marktpflaster war zu uneben. Die Balken und Bohlen wurden nur verkeilt, nicht genagelt oder verschraubt, weil sie noch verwendet werden sollten. Aber heute würden sie ihren Verwendungszweck verfehlt haben.
~~~ Effesheimer wollte gerade eine zweite Bratwurst in Angriff nehmen, als die Feueralarmsirene aufheulte. Er riß die Brauen hoch und ließ die Bratwurst fallen. Sie hatten sich vor der Apotheke an einen hochbeinigen Tisch gestellt. Laskirow hinderte die Bratwurst am herunterrollen. Effesheimer rannte inzwischen schon Richtung Rathaus. Das Spritzenhaus lag gleich dahinter an einem ehemaligen Schulhof. Die Motoren der beiden Katastrophenlastwagen tuckerten bereits. Nancy Litbarski stand mit dem Megaphon auf einem Mäuerchen im Laternenlicht und erklärte ihren herbeieilenden Mitstreitern:
~~~ »Es brennt in Sielen. Der Heuberg hat mich angerufen. Er hat es aber auch nur gesehen. Wir wissen also noch nichts Genaues. Nehmt vorsichtshalber die Ersatzkanister mit!«
~~~ »Ja, was ist denn mit der verdammten Sielener Streife!« schimpfte Landesbrandmeister Siegfried Huckenwalde, während er in seine Schutzhose stieg. »Machen die ein Schläfchen?«
~~~ »Keine Ahnung. Wir werden es gleich sehen.«
~~~ Man hatte den rosigen, hünenhaften Brandmeister per Handy aus einer Skatrunde in der Kneipe der GO Marstall gerissen. Er hatte sich gleich auf ein geliehenes Fahrrad geschmissen.
~~~ Die beiden Laster rasten mit Blaulicht davon. Litbarski fuhr nicht mit. Sie ging auf den Markt zurück und sah sich nach Isolde Blecherer um. Dann standen die beiden Rätinnen auf der Rathaustreppe und gaben den Volksmassen mit Hilfe des erfreulicherweise nicht überdrehten Megaphons erste Aufklärung. Es brenne im Südzipfel des Landes. Genaueres sei noch nicht bekannt. »Laßt euch nicht einschüchtern. Der Tanz muß allerdings voraussichtlich ausfallen, weil Pitt Effesheimer an dem Rettungseinsatz beteiligt ist. Wir melden uns wieder, sobald wir Näheres wissen.«
~~~ Anschließend steckten Blecherer und Redakteur Jovis ihre Köpfe zusammen. Bei »Brand« hatte er natürlich gleich aufgehorcht, sozusagen aus dienstlichen Gründen. Aber jetzt eröffnete ihm die Schiedsrätin:
~~~ »Jovis, es brennt in Sielen!«
~~~ »Ach du Scheiße!« sagte er. »Soll ich mir ein paar Einheimische schnappen und gleich mal hinfahren?«
~~~ Sie nickte. »Das wäre wohl angemessen. Nehmt das Ratsauto. Hier ist der Schlüssel.«
~~~ Man wird sich wahrscheinlich die Zerknirschung vorstellen können, die Jovis bald darauf an der Brandstätte übermannte. Das Feuer war ausgerechnet von seinem Zirkuswagen ausgegangen. Dann hatte es rasch auf die Scheune übergegriffen. Immerhin war es den Einsatzleuten inzwischen gelungen, das Wohngebäude von Hämmerchens Hof abzuschirmen. Auch Verletzte waren bislang nicht zu beklagen, sieht man einmal von der Sielener Streife ab. Man hatte sie in der Dämmerung an den Dorfrand gelockt, dort überfallen, verprügelt und schließlich als verschnürte Pakete in einen Schuppen geworfen. Die ersten Vermutungen gingen auf TäterInnen aus Bayern, denen sowohl Schwule wie Freie Zwergrepubliken verhaßt waren.
~~~ Effesheimer, verschwitzt und abgekämpft, hatte tröstend seinen Arm um den Redakteur gelegt, während dieser in die schwelenden Überreste seines Wohnwagens starrte.
~~~ »Ich hoffe, du hast keine wichtigen Dokumente verloren, Jovis!«
~~~ »Nee, nee«, murmelte das lange Kullerauge nicht ohne Sarkasmus. »Nur eine seltene Wanduhr.«
16 Auf Wiedersehen
Sie nahmen erneut den flotten schwarz-orange farbigen Gig. Pohl hatte allerdings das Verdeck aufgeklappt, weil es dünn regnete. Auf ihren Schößen war eine gummierte Decke ausgebreitet, die auch den Fahrtwind abmilderte.
~~~ Hinter der Grenze kamen sie wieder auf den Brand zu sprechen. Davon wußte Laskirow sogar mehr als Pohl. Im Dachstuhl des Wohngebäudes von Hämmerchens Hof gebe es noch zwei freie Gästezimmer, die nun umgenutzt würden, erzählte sie Hilmar, den sie inzwischen duzte. Dort könne Jovis vorläufig unterkommen.
~~~ »Und wer bekommt das andere Zimmer?«
~~~ »Ich!« strahlte Wera.
~~~ »Nicht möglich! Das freut mich ja außerordentlich. Und warum bekommst du es?«
~~~ »Die GO wird meinen Probezeitantrag auf der nächsten Wochensitzung „positiv bescheiden“, haben mir alle versichert. Vielleicht bin ich demnächst Ümmershänderin.«
~~~ Pohl beglückwünschte sie, gab freilich zu bedenken: »Die westlichen Medien werden dich als Putins Wühlmaus verleumden ..!«
~~~ Sie zuckte mit den Achseln. »Schon möglich. Auf die Art wird man auch berühmt.«
~~~ »Als vergoldete slawische Wühlmaus ...«, schob Pohl nach.
~~~ Er zwinkerte, nicht ohne Zärtlichkeit, und ließ den Rappen in Trab fallen, damit sie nicht etwa ihren Zug versäume.
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