Freitag, 7. März 2025
Ümmershand 1–7
ziegen, 09:27h
1 Im Gutshaus • 2 Vom Bahnhof ins Land • 3 Ein Blick zurück • 4 Kar-toffelsonntag • 5 Die Weiße Post • 6 Unterricht bei Lydia • 7 Grüße vom Tod • 8 Verkehrtes Plakat • 9 Bergwacht • 10 Jovis ländlich • 11 Die große Verflüssigung • 12 Öff im Rathaussaal • 13 Rauhbeiniges • 14 Ihren Ausweise, bitte • 15 Erntedankfest mit stilwidrigem Feuer • 16 Auf Wiedersehen
1 Im Gutshaus
Die GO Gutshof nutzte den großen Salon im Ümmer-städter Gutshaus verständlicherweise als Gemeinschaft-sraum. Immerhin zählte sie, Greise und Säuglinge eingeschlossen, rund 90 Personen. Das Eichenparkett hatte man gern übernommen. Viele RepublikanerInnen tanzten gern, und wischte der zweijährige Max zuweilen seinen Becher vom Tisch, sickerte sein Trinkwasser nicht gleich in einen wertvollen Teppich.
~~~ Gewiß waren selten alle 90 Personen an Deck. Jemand war krank, jemand verreist oder Schlafgast in einem Nachbardorf. An den wöchentlichen Vollversamm-lungen nahmen vielleicht 50 Erwachsene und ein paar Jugendliche teil. Man saß im Kreis. Was das gemeinsame, diesmal an etlichen Tischen eingenommene Frühstück angeht, konnte es sich etwa von sieben bis fast neun Uhr strecken, da es keinen vorgeschriebenen Antritt gab. In der Regel wurde das Frühstück mit einer kurzen Arbeitsbe-sprechung abgeschlossen. Das dauerte meistens kaum mehr als fünf Minuten, weil ja viele Leute ihre Aufgaben (oder Freizeiten) schon kannten.
~~~ »Ehe ichs vergesse«, sagte Hilmar Pohl und klopfte mit dem Teelöffel in die aufkommende Aufbruchstim-mung, »für Ende der Woche hat sich die Russin
angesagt ...«
~~~ Er machte wohlweislich eine kleine Pause, damit die Leute erwartungsvoll ihre Ohren spitzen konnten. Pohl war ein stämmiger, verschmitzter Kerl um 50, den jeder Filmausstatter sofort als gräflichen Kutscher akzeptiert hätte: derbe Kleidung, grob gehauenes, von Bartstoppeln übersätes Gesicht, aber einen prächtigen Schnauzbart. Der Bart sei der einzige Makel an ihm, hatte Landesschieds-rätin Blecherer einmal geschimpft, doch Pohl dachte gar nicht daran, sich von ihm zu trennen. Seine Gefährtin Ute hatte sich im Lauf der Jahre an Hilmars Bürste gewöhnt. Sie war die Zureiterin in Ümmershand.
~~~ Wera Laskirow treffe am Samstag in Hildburghausen mit dem Mittagszug ein, falls nichts dazwischen komme, fuhr Pohl fort. Er würde sie gerne mit dem neuen, bequemen Gig abholen, nur sei der ja noch nicht ganz fertig. »Vor allem die Polster fehlen.«
~~~ Pohl faßte einen hochgewachsenen Mann mit zurückgekämmter schwarzer Mähne ins Auge, der sich gerade Kaffee nachgeschenkt hatte. »Kriegst du das noch hin, Pitt ..?«
~~~ Der 44jährige Polsterer und Sattler dachte einen Augenblick nach. »Na, das müßte schon zu schaffen sein. Allerdings schwebt mir für den Bankrücken eine echte Rautenheftung vor. Das läßt sich nicht in ein paar Stunden bewerkstelligen, falls man es ordentlich macht. Somit wäre es nicht übel, wenn ich diese Woche nicht in die Kartoffeln müßte.«
~~~ Eine junge Frau, Gerda mit Namen, winkte beruhigend ab. »Kein Problem, Pitt. Die GO Molkerei hat Kinderbesuch aus Bayern, ganze fünf Stück, die spannen wir ein!«
~~~ Der Gig war ein lediglich einachsiger Einspänner mit einer Sitzbank für zwei Personen. Der vom Gutshof hatte schmale, aufgepumpte Gummireifen. Und eben, als Pitt am Donnerstag vorzeitig fertig war, eine gepolsterte, mit schwarzem Leder bezogene Rückenlehne, die sich wirklich sehen lassen konnte. Die hochkant stehenden Rauten waren mit Roßhaar zu prallen Kissen geformt und durch tiefliegende Knöpfe voneinander abgetrennt. Das Klappverdeck zeigte helles Segeltuch. Das Stahlrohr-Gestell des Wagens war orangefarben lackiert. Pohl und Pitt Effesheimer schoben die leichte, schnittige Kutsche auf den Hof. Schon stiegen die ersten »Ah« und »Ohs« auf. Bald umringten ein Dutzend Leute die Neuheit, puhlten unzüchtig in den Knopfvertiefungen herum und sprachen den beteiligten Handwerkern ihr Lob aus.
~~~ »Naja«, wehrte Pitt verlegen einen Kuß von Ute ab, »für die Sonderbotschafterin einer Großmacht legt man sich schon mal ins Zeug ...«
~~~ »Für Ute etwa nicht?« murmelte Pohl beiseite mit gespieltem Groll. Sie war eben nur Zureiterin.
2 Vom Bahnhof ins Land
Der hügelige Landstrich Ümmershand stemmte sich südlich der oberen Werra ähnlich einer Faust oder einer in der Mitte fingerstümpfigen Hand gegen Bayern. Bis zu dem Umsturz 2002 hatte er zu Thüringen gehört. Mit dem ziemlich zentral gelegenen Hauptstädtchen Ümmerstadt hatte er die kleinste Stadt des Bundeslandes vorzuweisen, rund 450 EinwohnerInnen. Kreisstadt war natürlich Hildburghausen gewesen, das im Norden unmittelbar an der Werra lag. Da der dortige Bahnhof sogar südlich der Werra am Stadtrand zu finden war, stellte er ein recht günstiges Ausfalltor in die Freie Republik Ümmershand dar. Der Staatsvertrag mit Erfurt und Berlin garantierte den Republikanern freien Zugang zur Stadt, damit auch zur Hauptpost, die mehrmals wöchentlich von der Ümmershänder vierspännigen Postkutsche angelaufen wurde. Gegen diese war der neue Gig nicht mehr als ein Spielzeug.
~~~ Wera Laskirow erblickte ihn natürlich sofort, als sie an einem späten Septembertag 2010 aus dem Bahnhof trat. Pohl hatte seinen braven schwarzen Traber auf der anderen Seite der Bahnhofstraße unter einer Linde geparkt, die bereits die ersten Blätter verlor. Sie trudelten teils auf Pohl selbst, da es erfreulicherweise, trotz bedeckten Himmels, nicht regnete. Sonst hätte er das Verdeck aufklappen müssen, und die hohe Besucherin hätte einstweilen nur seine Kniescheiben und Reitstiefel gesehen, die zur Fahrbahn hin aus der Kutsche baumelten, weil die Bank selbst für Pohl, nur 172 groß, nicht breit genug war. Er hatte sich verfrüht, hatte Müdigkeit verspürt und sich deshalb rücklings auf Pitts exklusiver Polsterbank ausgestreckt. Er schnarchte leise. Seinem Schwarzen in der Deichsel hatte er einen Futtersack mit Hafer umgehängt. Krönung des kräftigen Rappens war jedoch eine Standarte, die ihm Pohl auf den Schädel gebunden hatte. Deren Wimpel zeigte die Farben Weiß, Blau und Rot – die von Rußland also.
~~~ Sonderbotschafterin Laskirow war entzückt. Übrigens sprach sie ausgezeichnet deutsch. Das wußte Pohl. Man hatte die in Moskau beschäftigte Russin beauftragt einzuschätzen, ob sich verschiedene, bereits bestehende Verträge zwischen Rußland und Ümmershand bewährt hätten und daher deren Erweiterung erwogen werden könne.
~~~ Im Vergleich zu dem schwarzen Pferd war die Frau mit der blonden Ponyfrisur eher zierlich. Sie spannte sich vor ihren eigenen »Gig«, den zeitüblichen Seesack auf zwei kleinen Rädern. Zufällig war er gleichfalls aus schwarzem Leder. Als sie vor Pohls aus dem Wagen hängenden Stiefeln Halt machte, hatte sie bereits die Röhre entdeckt, in der seine Peitsche steckte. Sie zog sie möglichst geräuschlos heraus und kitzelte ihn mit der baumelnden Schnur an seiner braunen Rotzbremse. Da schreckte er natürlich auf.
~~~ Pohl rieb sich die Augen, nickte im Liegen höflich und führte sogar eine Hand zum militärischen Gruß an seine Schläfe. Die Botschafterin gefiel ihm durchaus. Gottseidank hatte sie keine Stupsnase. Pohl verärgerten Stupsnasen, für die man gewöhnlich eine Lupe benötigte, vorwiegend deshalb, weil Pferde nie welche hatten – weder Stupsnasen noch Lupen. Er schätzte die fesche Blondine auf 40. Dann rappelte er sich auf und sagte trocken:
~~~ »Sie haben Humor. Ich bin Hilmar Pohl, der wichtigste Pferdewirt, Tierarzt und Kutscher weit und breit.«
~~~ Sie lachte und gab ihm die Hand.
~~~ Während Pohl ihren Rollsack auf der rückwärtigen Gepäckablage verstaute, bat er sie, schon einmal auf der Polsterbank rechts Platz zu nehmen. Dann holte er auch den Futtersack und tätschelte den Rappen dankbar. Als er schließlich auch noch die Pferdeäpfel aufgefegt und in eine Art von wageneigenem Briefkasten gekippt hatte, fuhren sie los.
~~~ Bis zur Nordgrenze der Freien Republik waren es lediglich knapp vier Kilometer. Dort legten sie den ersten Halt ein. Eine Schranke oder gar Grenzbeamte konnte die Besucherin nicht entdecken. Selbst ein Auto war ihnen bislang nicht begegnet. Die Coburger Straße, auf thüringischer Seite auch L 1134 genannt, war an beiden Rändern von betafelten Grenzpfosten flankiert, das war alles.
~~~ Die paar Zeilen auf den Tafeln wiesen vor allem auf die Ümmershänder Ächtung von Kraftfahrzeugen und Hunden hin. Daneben deuteten sie an, das übliche touristische Verhalten sei unerwünscht. Es gebe ohnehin weder Gasthäuser noch Boutiquen. Gäste, die in Ümmershand zu übernachten gedächten, benötigten grundsätzlich eine ausdrückliche Einladung von irgendeinem Einwohner der Republik. Wer unbedingt Geld loswerden wolle, möge es im Ümmerstädter Rathaus beim jeweiligen Chef vom Dienst (CD) abliefern, als Spende.
~~~ Das Prunkstück beider Tafeln war sicherlich das Wappen der Republik. Es bediente sich sogar der bekannten deutschen Farben, nur waren sie hochkant gestellt und leicht umgestaltet. Links zeigte es Rot, in der Mitte, aber breiter Schwarz, schließlich rechts am schmalsten Gold. Dieser goldene Streifen ließ an einen Strohhalm denken, in welchen rechts oben eine kleine fröhliche Sonne bläst. Laskirow kannte das Wappen selbstverständlich, nämlich von diversen Broschüren, dazu Zeitungs- oder Briefköpfen, ferner Urkunden her. Trotzdem pries sie es hier vor Ort.
~~~ Sie nahmen einen ovalen Kurs durch alle vier Dörfer der Republik. Dabei hatten sie stets den knapp 770 Meter hohen, zum Teil bewaldeten Heuberg, oft auch den mächtigen Stadtkirchturm des Hauptstädtchens im Blick. Das »Staatsgebiet« maß ungefähr 20 mal 15 Kilometer. Der Boden war überwiegend ausgesprochen fruchtbar. Als Pohl 1991, bald nach der sogenannten Wende, in Ümmershand aufgetaucht war, hatte er bei seinen Streifzügen immer wieder Halt gemacht, sich gebückt und eine Ackerkrume zwischen seinen klobigen, schruntigen Fingern zerrieben. Jedesmal seufzte er dabei wohlig. Er war von Hause aus gelernter Landwirt und hatte in Mecklenburg ein Volkseigenes Gut geleitet. Dann erstritt sein Erzeuger von der Treuhand einen Sack voll Geld. Den hatte Pohl an der Ümmer wieder ausgeschüttet.
~~~ Der Boden in Ümmershand ernährte rund 2.500 EinwohnerInnen. Überdies wurden Walnüsse, Mückenöl (von der Krümelheide) und Pferde oder Pferdewagen sogar in beträchtlichen Mengen ausgeführt. Sie alle hatten sich beinahe zu »Exportschlagern« gemausert. Die 2.500 EinwohnerInnen, von denen sie hervorgebracht wurden, waren in 27 »Grundorganisationen« eingeteilt – die bereits erwähnten GOs. Auf jedes Dorf – Ümmerstadt fiel gleichfalls unter diesen Begriff –kamen somit im Schnitt fünf GOs. Jeder im Lande mußte einer GO angehören, konnte sie freilich verhältnismäßig leicht wechseln. Allein die GOs, nie über 100 Köpfe stark, verliehen, was anderswo »Staatsbürgerschaft« hieß. Diese Vorschrift sollte man nicht geringschätzen. Sie bedeutete: kein Politiker, Richter, Bürokrat oder Republikrat konnte bestimmen, wer RepublikanerIn war und wer nicht. Das konnten nur die GOs.
~~~ Die Ümmer selbst, ein eher schmaler Fluß, zog sich gen Norden ungefähr der Länge nach durch die Republik, bis sie in Hildburghausen von der Werra geschluckt wurde. Eindrucksvollster Bestandteil des Landstrichs war aber sicherlich der Heuberg. Er erhob sich drei Kilometer nordwestlich von Ümmerstadt. Er beherrschte jedoch die ganze Republik. Entsprechend wurde er genutzt. Laskirow sollte ihn in einigen Tagen näher kennenlernen, hatte man doch eine Sonderscharfschützenübung für die Sonder-botschafterin vorbereitet. Rußland hatte der Zwergrepu-blik nämlich zwei Flugabwehrgeschütze zur Verfügung gestellt. Zu Laskirows Aufgaben zählte die Überprüfung, ob und wie die einheimischen Schützen damit umgehen konnten. Nancy Litbarski, Ex-Polizeichefin aus Suhl, inzwischen Rätin für Katastrophenschutz (Volksarmee, Feuerwehr) in Ümmershand, hatte sogar ein großes, von einem Benzinmotor angetriebenes Modellflugzeug besorgt, das ihre Leute bei der geplanten Übung zu zertrümmern gedachten. Die Erörterung über diesen Teil der Übung war streckenweise eine unterhaltsame Posse gewesen. Einige »Ökos« hatten geschimpft, der Abschuß würde die schon oft gerühmten heimischen Äcker oder den saubersten Fluß Mitteldeutschlands, eben die Ümmer, verseuchen. Landwirt Pohl hatte zurückgeschimpft, er werde die paar Fingerhüte voll Benzin eigenhändig mit seiner Mütze auffangen, wenn sie es wünschten. Notfalls werde er auch die Modellflugzeugtrümmer vollständig einfangen, mit dem Lasso von seinem feurigsten Araber aus. Die Ökos beruhigten sich wieder.
~~~ Pohl erzählte seinem Fahrgast von der Posse, während sie zuletzt auf Ümmerstadt zuhielten. Laskirow bedankte sich durch Kichern. Dann machten sie freilich, kurz vor der Stadt, am Gedenkstein für den erschossenen Markus Luhse Halt, und das war nun wirklich nicht mehr zum Lachen. Damals, vor gut acht Jahren, hatten sie rondellartig Linden um den Stein gepflanzt. Auch von denen lagen bereits ein paar gelbe Blätter im Gras. Laskirow las den Namen und die Lebensdaten des damals 17jährigen, dann die Inschrift, ehe sie mit Kutscher Pohl auf einer diesmal ungepolsterten Bank Platz nahm. Eine Gesandte aus Pingos hätte der Inschrift womöglich einen Anflug von Kitsch bescheinigt, aber Laskirow kam ja aus der ehemaligen Sowjetunion; sie merkte nichts. Die Inschrift lautete: Sein junges Blut tränkte diese Scholle, der bald darauf die Freie Republik Ümmershand entsproß. Ohne ihn wäre es niemals zu unserem Umsturz gekommen. Diese Ehre gebührt ihm allein.
~~~ Jovis, eigentlich Jochen Vissler mit Namen, hatte damals beteuert, er habe diese Inschrift weder formuliert noch redigiert. Der schlanke, blasse, großäugige Mann war der inoffizielle Chef in der dreiköpfigen Blick-Redaktion. Der Verdacht auf seine Urheberschaft lag nahe, weil er nahezu sämtliche »amtlichen« Texte und Verlautbarungen des Republikrats verfaßte. Viele davon erschienen dann sowieso im Blick. Jovis wußte sich immer klar und treffend auszudrücken, was vielleicht mit der ungewöhnlichen Größe seiner rehbraunen, etwas melancholisch wirkenden Kulleraugen zusammenhing. Sie beherrschten seinen schmalen »Langschädel«, wie Welskopf-Henrich dazu gesagt hätte. Zwar bewegte er sich trotz seiner Schlankheit stets bedächtig, doch an energischem Zugriff fehlte es ihm nie, jedenfalls in journalistischen Belangen nicht. Sein Liebesleben konnte Pohl kaum beurteilen. Den Urheber der Inschrift hatte Jovis einmal Pohl und Pitt Effesheimer gegenüber in Isolde Blecherer vermutet. Doch das war nicht amtlich. Sie hatten in Effesheimers Giebelzimmer auf dem Gutshof einen neuen Walnußlikör begutachtet, den Pohl gerade erfunden hatte.
~~~ Jetzt erkundigte sich Pohl bei seiner Banknachbarin unter den Linden, von was sie bei der kleinen Rundfahrt vielleicht besonders beeindruckt worden war. Sie dachte nicht lange nach. Aber sie nannte weder den Heuberg noch Pohls herrliche Gäule, die ihnen auf etlichen Koppeln oder Wegen begegnet waren. »Wirklich auffällig ist die Abwesenheit von allem Auffälligem«, sagte sie lächelnd. »Das ist Balsam für die Augen und fürs Gemüt, falls man aus Deutschland oder Rußland kommt.«
~~~ »Ach!«, erwiderte Pohl verdutzt. »Wie meinen Sie das?«
~~~ »Na, sehen Sie doch«, erklärte sie mit einer ausholenden Handbewegung in die Runde: »Keine Verkehrsschilder, keine Reklametafeln, keine Wahlplakate, keine erleuchteten, bunt flackernden Glaskästen mit Speisekarten, keine wandelnden modischen Kleiderständer, keine Steckbriefe der Kriminalpolizei, noch nicht einmal Wohnungsgesuche!«
~~~ Pohl grinste erleichtert. »Verstehe! Sie haben natürlich völlig recht. Als Einheimischer sieht man all dies Abwesende gar nicht mehr so richtig ...«
~~~ Er blickte neben sich und tätschelte den wadendicken Lindenstamm, der dort zu Ehren des erschossenen Luhses stand. »Eine Linde ist schließlich keine Litfaßsäule. Sie hat ihre eigene Würde wie jedermann. Jovis sprach vor Jahren von einem dringend benötigten Schutz des Öffentlichen Raumes, wenn die Zukleisterei oder Zumalerei von Wänden mit Aufforderungen und Durchhalteparolen so weitergehe wie bisher. Gottseidank gewann er den Streit!«
~~~ Laskirow nickte schweigend. Nach einer Weile erhoben sie sich, um in die Stadt zu fahren – die gar keine Stadt mehr war.
~~~ Pohl setzte die Gesandte an der GO Gymnasium ab, der Außenrätin Susanne Hopf angehörte. Dort wurde Laskirow einquartiert. Hopf beherrschte Russisch fließend und noch ein paar Sprachen mehr. Cappucino mit Sahne aufbrühen konnte sie auch, wie sich zeigte. Den Rest des Nachmittags bummelten die beiden Frauen durch Ümmerstadt und legten die Marschroute für die nächsten Tage fest. Nach dem Abendessen im Gemeinschaftsraum der GO fielen Laskirow schon fast die Augen zu. Die Anreise hatte sie doch ermüdet. Hopf begleitete sie zu ihrem Gastzimmer, küßte sie keck auf die Wange und wünschte ihr eine gute Nacht.
3 Ein Blick zurück
Die Chance, in Ümmershand eine Freie Zwergrepublik aufzumachen, wurde vor allem von zwei Glücksfällen und einem schweren Schicksalsschlag eröffnet. Zunächst bekundete der wohlhabende, ökologisch gestimmte Landwirt Pohl, wie bereits angedeutet, gleich nach der »Wende« sein Interesse, in dem fruchtbaren Zipfel an der Ümmer zu investieren. Wie sich rasch zeigte, war er auch freiheitlich gestimmt. Bald saß er mit anderen Genossen des Anarchistischen Bundes Ümmershand (ABÜ) im Stadtrat und eroberte sogar die absolute Mehrheit. Es kam zu ersten durchgreifenden Reformen im Sinne von Basisdemokratie. Das Volk war angetan und entwickelte ungeahnten Schwung. Nur wenige zogen weg. Dafür kamen auswärtige Genossen.
~~~ Der zweite Glücksfall stellte sich erst nach und nach als Zünder eines wahren Umsturzes heraus. So etwas kann niemand voraussehen. Und zwar widerfuhr dem stadtbekannten, keineswegs beliebten Apotheker Krüger beim Wandern und Heilkräuter sammeln ein Mißgeschick. Er stürzte an einer sandigen, mit Felsen gespickten Böschung der Ümmer ab und blieb mit Beinbruch im Heidekraut liegen. Zum Glück kam nach einer Stunde Lehrer Jodel mit seinem Fahrrad vorbei und leistete Erste Hilfe. Er richtete und schiente das Bein sogar. Dann wollte er sich sputen, um in Ümmerstadt sein Auto zu holen und Krüger zum Arzt zu schaffen. Aber ein Anflug von Mitgefühl und Scherzlust ließ ihn innehalten. »Ich hoffe, Sie sind nicht schon wie ein Schweizer Käse gelöchert, Krüger. Das wimmelt ja heute an der Ümmer wieder von Mücken.« – »Ach woher«, winkte der Apotheker ab. »Nicht ein Stich in einer ganzen Stunde, Jodel! Glück muß man haben. In meinem Hinterhof tummeln sie sich immer, diese Biester!«
~~~ »Merkwürdig«, murmelte Jodel, musterte das Kraut, in dem Krüger lag und schnupperte auch etwas. Bißchen bitter roch es hier schon. Jodel schwang sich jedoch auf sein Rad. Unterwegs dachte er über die Angelegenheit nach. Vielleicht war Krüger zufällig in ein günstiges Kräuterpolster gefallen, das die Mücken fernhielt. Und genau so war es auch. Jetzt wälzten sie an der Ümmer Bestimmungsbücher und erörterten den Fall. Sie vereinbarten Stillschweigen. Anscheinend war Krüger in die ziemlich seltene Krümelheide gefallen. Deren Geruch ähnelte entfernt dem Salbei. Vom Arzt aus fuhr Jodel gleich wieder an die Ümmer und legte sich an Krügers Stelle ins Kraut. In einer halben Stunde nicht ein Stich, obwohl er ringsum Mücken erspähte! Nun packte Jodel ein Bündel Krümelheide in seinen Korb und rauschte frohlockend wieder in die Stadt.
~~~ Die beiden Männer waren Feuer und Flamme. Sie wurden jetzt durch Eigennutz und Habgier geeint, wenn sie auch früher gelegentlich aneinander geraten waren. Der Apotheker stellte einige Fläschchen mit ätherischem Öl her, das hauptsächlich auf der zerstoßenen Krümelheide fußte. Die Nagelprobe an sich selber – Einreiben verschiedener Körperstellen – verlief günstig. Darauf boten sie ihr neues Anti-Mücken-Öl in Krügers Apotheke am Markt zu einem Wucherpreis an. Jodel, auch Kunstlehrer, hatte ein Plakat erstellt und einen Artikel in die Heimatzeitung rücken lassen. Das Wort Krümelheide kam selbstverständlich nicht vor. Das war ja ihr Geschäftsgeheimnis. Es garantierte ihnen ein Monopol. Jedenfalls vorläufig.
~~~ Da es erst Mai war, kam Krüger auf die glänzende Idee, in seinem nahezu geschlossenen Hinterhof ein ganzes Hochbeet mit Krümelheide zu bepflanzen. Schließlich hatte er eine riesige gefleckte Dogge. Nur die rückwärtige Mauer zum benachbarten Hospitalgarten war eine Schwachstelle. Jodel, der Werklehrer, mauerte sie gleich höher und brachte auf der Krone auch noch einen nach außen geneigten Stacheldraht an. Krüger düngte und goß fleißig, und siehe da, seine Krümelheide gedieh.
~~~ Als der ABÜ die Geschäftsstrategie der beiden Männer durchschaute, prangerte er sie sofort in dem Blatt des Bundes an. Es hieß schon damals Blick vom Heuberg und sollte noch eine steile Aufwärtsentwicklung nehmen. Krüger und Jodel ließen sich allerdings von den Enthül-lungen nicht beeindrucken. Die überteuerten Fläschchen gingen weg wie warme Semmel. Da hatte nun Fifi, eine junge Fotografin, ihrerseits eine Idee. Sie schraubte ihr stärkstes Teleobjektiv in ihre Spiegelreflexkamera, hängte sie sich um und erklomm eine mächtige Blutbuche, die rund 15 Meter jenseits der Mauer im Hospitalgarten stand. Es klappte! Ganz oben bekam sie durch eine Lücke im Laub einen günstigen Ausschnitt des Kräuterbeets ins Rohr. Die Dogge merkte nichts.
~~~ Jetzt war es dem ABÜ ein Leichtes, die Krümelheide zu bestimmen, die Ümmer nach ihr abzusuchen und das wirksame Mückenschutzöl eigenhändig herzustellen und äußerst preiswert in ganz Ümmershand anzubieten. Der Fall schlug Wellen. Krüger und Jodel zogen den Schwanz ein und verließen Ümmershand. Zahlreiche Glückwünsche, dazu Bestellungen, trafen ein. Pohl erwog bereits, einen ganzen Acker mit Krümelheide zu bepflanzen. Allerdings wurde es erst einmal Herbst. Die Ümmerstädter Stadtkirche war ein prächtiger barocker Zentralbau mit vorgebautem Turm. Sie wirkte fast wie ein ovales Opernhaus. Als die Einheimischen vorschlugen, eine Art Erntedankfest zu veranstalten, sagte Pohl: »Ausgezeichnet! Nur hat man Regen angesagt. Wißt ihr was? Wir gehen endlich auf das Angebot von Pfarrer Knierim ein, die Kirche am Markt umzubauen. Wir schmeißen die Bänke raus und errichten unter der umlaufenden Empore Ränge wie im römischen Kolosseum. Im ganzen passen dann sicherlich 2.500 Leute hinein. Ich kenne einen Architekten, der für die gute Akustik bürgen wird, sodaß wir noch nicht einmal Mikrofone und Verstärker benötigen. Keine Woche, und unser Plenarsaal steht.«
~~~ Das war ein zündender Vorschlag. Er trug so weit, daß das Erntedankfest in eine Vollversammlung der künftigen Republik und die Erklärung von deren Unabhängigkeit mündete. Man könne sich gern noch als deutsche BundesbürgerInnen begreifen, aber darüber hinaus laufe nichts mehr. Pohl und Isolde Blecherer, bald darauf Landesschiedsrätin, hatten wohlweislich bereits mehrere Pferdegespanne mit beschilderten Grenzpfählen bereit gestellt. Jetzt fuhren Rudel von Republikanern am dritten Tag des Festes die Linien um das Gebiet ab, das man beanspruchte. Im Süden war das erfreulicherweise weniger dringlich, weil die Bayern ja die Grenze mit Schäferhunden bewachten, seitdem die Sezessionsbestrebungen ruchbar geworden waren. Die deutschen Medien überschlugen sich, hauptsächlich mit Verdammungsurteilen. So etwas sei unmöglich, abgestandener antiautoritärer Kaffee. Das meinten die Kabinette in Erfurt und Berlin ebenfalls. Prompt stellten sie Ümmershand ein Ultimatum. Die Aufständischen ließen es verstreichen, weil sie auf die vielen Sympathiebekundungen aus allen Bundesländern bauten. Damit wurde es allerdings gefährlich. Die vaterländischen Bosse wollten oder konnten nicht klein beigeben, denn in diesem Fall winkten bereits die NachahmerInnen. Das Vaterland drohte in Trümmer zu zerfallen, die Throne der PolitikerInnen eingeschlossen. Also zog es Truppen zusammen und setzte sie in Marsch. Das war im Herbst 2002.
~~~ Man sollte vielleicht zwischendurch erwähnen, trotz der Bedrohung ließen die Ümmershänder nicht davon ab, mit Hochdruck an den egalitären Strukturen zu arbeiten, die sie im Auge hatten. Das Geld wurde fast über nacht abgeschafft. Die meisten GOs waren ohnehin in hohem Maße SelbstversorgerInnen. Statt Lohnbüros und Banken gab es nun Verteilungsstellen, Depots genannt. Auch die Schulen fielen – dafür wurden nach und nach die unterschiedlichsten Bildungsgruppen eingerichtet. Laskirow wird in Kürze die BG Prokofjew kennenlernen. Desgleichen entfielen Autoverkehr, Gerichte, Polizei. Angestrebt wurde, jede GO hinreichend mit Schußwaffen zu versorgen. Pohl machte auch dafür wieder Geld locker – seine ehemaligen Ländereien waren ohnehin bereits in Gemeineigentum übergegangen. Daneben gab es einige kleine Fabriken. Der siebenköpfige Republikrat saß im ehemaligen Ummerstädter Rathaus. Als Kopf galt die einheimische Korbmacherin Blecherer, damals Ende 40. Sowohl die Räte wie die drei Redakteure des Blicks konnten jederzeit abgewählt werden.
~~~ Einige Tage vor dem Einfall der bundesdeutschen »Sicherheitskräfte« gingen plötzlich die Lichter und Computer in Ümmershand aus. Erfurt und seine lieben Landräte hatten der Zwergrepublik kaltblütig den Saft abgedreht. Es war bereits Oktober. Aber jetzt zeigten sich die vielen Vorteile einer kleinen, überschaubaren Republik, die keiner aufwendigen und entsprechend anfälligen Infrastruktur bedarf. Auf Pferd und Fahrrad waren die Entfernungen, zwecks Benachrichtigung und Beratung, im Nu überbrückt. Für den Blick, damals noch ein Wochenblatt, zauberte man sogar zwei ältere Handpressen hervor. Geheizt wurde in der Regel ohnehin mit Zimmeröfen, die wahlweise Holz oder Kohle fraßen. Die Stadtkirche bekam zwei große Kachelöfen, die schon in DDR-Wirtshaussälen guten Dienst geleistet hatten.
~~~ Kommen wir zu jenem üblem Schicksalsschlag. Das Schicksal bediente sich der »Schlacht an der Ümmer«, wie es in vielen Medien damals hieß. Die BefehlshaberInnen der bundesdeutschen »Sicherheitskräfte« hatten sich den Plan zurechtgelegt, Ümmerstadt möglichst überraschend einzukesseln, die »RädelsführerInnen« zu verhaften und einen Statthalter einzusetzen. Deshalb sollten je 300 Polizeibeamte in ihren »Wannen« gleichzeitig von Süden (bayerische Amtshilfe) und Norden (Hildburghausen) auf der einzigen größeren Durchgangsstraße der Zwergrepublik anrücken. Dieser Plan drang jedoch durch einen Sympathisanten bei der Polizei und die eigenen Hacker rechtzeitig ans Ohr der Verteidigungskräfte. So zog der Rat rund 1.000 RepublikanerInnen in Ümmerstadt zusammen und warf sie an dem entscheidenden Tag je zur Hälfte den Eindringlingen entgegen – allerdings unbewaffnet. Selbst mit den Gewehren, die dank Pohl bereits beschafft worden waren, wäre man schließlich hoffnungslos im Hintertreffen gewesen. Blecherer predigte überall, um Gottes willen kein Blutbad herauszufordern. Man setzte auf Mut und Masse. Über die eigenen Leute hinaus strömten nämlich mindestens 1.000 UnterstützerInnen aus dem »feindlichen« Umland auf Schleichwegen zur Stadt. Der Rat hatte einen fünfköpfigen Stab gebildet und alles Volk gebeten, dessen Anweisungen streng zu befolgen.
~~~ Durch die Stromsperre konnte man sich natürlich nicht mehr per Internet und Festnetztelefone verständi-gen. Es gab jedoch einige Dutzend Handys im Land – und jenseits der Grenze mindestens fünf freundliche Häuser, in denen man die Handys oder die Laptops aufladen konnte. Da auch ein paar Motorradkuriere vorhanden waren, lief die Stromsperre insofern ins Leere. Während der Stab mit drei Leuten und mit leistungsstarken Ferngläsern in der Burgruine auf dem Heuberg saß, leiteten die beiden anderen Chefs die ausfallenden Verteidigungstruppen. Zwar kreuzten während des Anrückens der feindlichen Truppen auch Hubschrauber auf, doch deren Lärm stachelte die kochende Volksseele gerade noch an.
~~~ Somit war den Polizeikräften immerhin keine Überrumpelung gelungen. Wie sich später herausstellte, forderten sie angesichts der vielen UntersützerInnen bereits Verstärkung an. Da kam es im Norden, 300 Meter vor der Stadtgrenze, zu dem blutigen Zwischenfall. Ihn hatte keiner voraussehen können.
~~~ Während die Polizeiwannen die Landstraße verstopften und die anliegenden Feldweg zermatschten, löste sich ein 17jähriger Junge aus den Reihen der VerteidigerInnen, der als heller, freilich auch hitziger Bursche bekannt war. Das war Markus Luhse. Der Junge war derart aufgebracht, daß er die Bullen mit hochrotem Kopf anbrüllte und auch schon nach einem Stein vom Acker griff. Blecherer rief durch ihr Megaphon: »Bitte nicht, Markus, laß den Stein fallen und komm wieder zu uns!« Das tat er nach kurzem Bedenken sogar. Aber es war zu spät. Sie hörten aus einem vorderen Panzerwagen eine unterdrückte, geraunte Anstachelung, wohl eines Vorgesetzten des jungen Beamten. Dessen Namen sickerte bald darauf in den Medien durch. Stefan Rommelsbacher wollte sich wohl bewähren. Er legte an und schoß. Er traf Markus, der sich bereits abgewandt hatte, in den Hinterkopf. Der zornige Jugendliche brach auf dem Acker zusammen und war nach wenigen Sekunden tot.
~~~ Lähmendes Entsetzen bei den Einheimischen. Dann brach Wehklagen aus. Blecherer und ein Arzt waren zuerst zu dem Opfer gerannt. Der Arzt nickte bedauernd. Die schlanke Schiedsrätin beugte sich über die Leiche und ließ ihren Tränen freien Lauf.
~~~ Wir wissen nicht, was Blecherer getan hätte, wenn nach drei Minuten nicht ihr Handy geklingelt hätte. Es war Stabschefin Nancy Litbarski, die ehemalige leitende Vopo-Beamtin aus Suhl. Sie und ihre beiden Mitwächter auf dem Heuberg bewiesen eine beispiellose Geistesgegenwart. In drei Minuten heckten sie, trotz ihres Schocks, den Plan mit dem Leichen tragenden Schweigemarsch aus und setzten ihn nun Blecherer mit hastigen Worten auseinander!
~~~ Die Landesschiedrätin fing sich und stimmte zu. Inzwischen hatte der Stab bereits eigenmächtig die Hälfte der im Süden stehenden Truppe nach Norden beordert. Blecherer kam vom Acker und erklärte den Leuten: »Es ist schon Verstärkung unterwegs. Wir müssen jetzt eisernen Widerstand bekunden. Paßt auf! Ein paar kräftige Männer schultern die Leiche und reihen sich damit bei uns ein. Wir rücken langsam in auseinander gezogener Front auf die Eindringlinge vor – aber schweigend, liebe Genossen, absolut schweigend. Markus‘ Opfer darf nicht umsonst gewesen sein. Wir werden die Rohlinge einschüchtern und vertreiben! Seid ihr einverstanden?«
~~~ Schon 20 Minuten nach dem Schuß marschieren mindestens 1.500 VerteidigerInnen in breiter Front auf die nördlichen Polizeikräfte zu – bedächtig, schweigend, grimmig, ausgesprochen entschlossen und bedrohlich. Nun weichen die Polizisten Schritt für Schritt oder Rad für Rad zurück. Man spürt, nicht wenige von ihnen haben wirklich Angst. Schließlich bellen Befehle. Die Beamten verdrücken sich in ihre Fahrzeuge, wenden sie und verschwinden. Nach weiteren 10 Minuten ergeht an sämtliche Polizeikräfte im Feindesland der Oberbefehl, sich einstweilen zurück zu ziehen. Das konnten mehrere Motorradkuriere mit eigenen Ohren dem Polizeifunk entnehmen. Sie riefen es den Massen zu, und die atmeten erleichtert auf und fielen sich um den Hals.
~~~ Die Empörung in Deutschland war damals ziemlich groß. Selbst die Frankfurter Allgemeine rügte den »rabiaten« Polizeieinsatz. Erfurt sah sich genötigt, die Aufständischen zu Verhandlungen einzuladen. Man müsse nach Kompromissen suchen. Blecherer aber winkte gleich ab, als sie mit ihrer Delegation im Verhandlungssaal Platz genommen hatte. Auf »Kompromisse« ließe sich die Republik frühstens ein, wenn die Landesregierung Markus Luhse wieder zum Leben erweckt hätte. Schließlich unterschrieben beide Seiten eine Art Autonomiestatut. Es garantierte der Republik unter anderem völlige Selbstver-waltung und die Unantastbarkeit der Versorgungslei-tungen durch die Strom- und Telefonkonzerne. Die neulich abgesteckten Republikgrenzen wurden bestätigt. Die Ümmershänder erhielten das Recht, unerwünschte Personen (und deren Autos) an den Grenzen abzuweisen, durften jedoch ihrerseits jederzeit ins Umland reisen, solange sie sich an die dort geltenden Gesetze hielten. Dann gab es noch die Klausel, falls die Republik sich auflöse oder sich einem Ausland unterstelle, falle Ümmershand wieder an Deutschland zurück.
~~~ Als die Delegation nach Konferenzschluß am Erfurter Hauptbahnhof eintraf, wurde sie bejubelt, als hätte sie gerade einen Fußballweltcup gewonnen. Die Siegesfeier in der Ümmerstädter Kirche dauerte drei Tage lang.
4 Kartoffelsonntag
Das Gut lag unweit des Marktplatzes im Winkel zwischen Luhsestraße und Ümmer. Den Scheitelpunkt des Winkels markierte das Maxtor, das vor dem Umsturz auf jeder Ansichtskarte von Ümmerstadt zu finden war. An dieses mittelalterliche Bauwerk schloß sich, längs der Luhsestraße, unmittelbar das Gutshaus an. Die alte Bruchsteinmauer des Gutshofes war schon zu DDR-Zeiten abgerissen worden, für Baumaterial. Jenseits der Ümmer erstreckten sich die früher »volkseigenen« Äcker des Guts bis zu einem Wald, hinter dem die Ümmershänder Westgrenze verlief. Jetzt gehörten diese Ländereien, praxisbezogen ausgedrückt, weder der GO Gutshof noch der SED, vielmehr der Landesdelegiertenkonferenz, kurz LdK. Aus je zwei Vertretern der GOs gebildet, tagte sie in der Regel halbjährlich. Sieben Räte und drei Blick-Redakteure hinzugenommen, zählte sie keine 70 Mitglieder. Denen »gehörte« das Land also. Sie hätten es freilich nur schwer verkaufen können, weil das Konsensprinzip auch auf dieser »höchsten« Ebene galt. Ein persönliches »Veto«, und die Sache war vertagt. Probte niemand den nächsten Aufstand, konnte man sich wieder den Kartoffeln widmen. Die verkaufte man aber nie; man aß sie selber.
~~~ Waren es für die GO Gutshof, die jene Äcker verwaltete, einfach zuviele Kartoffeln, ließ der Wirtschaftsrat den Löwenanteil der Kartoffeln, je nach Bedarf, zu andere GOs oder Dörfern rollen. So war es nur recht und billig, wenn auch an diesem Sonntag jene bayerischen Besuchskinder aus der GO Molkerei durch den zerwühlten Acker krauchten – oder tollten. Je nach Bedarf.
~~~ Der Acker konnte sogar mit der russischen Sonderbotschafterin glänzen. Von der Außenrätin war Wera Laskirow in eine zerschlissene, etwas schlotternde blaue Latzhose gesteckt worden, doch der leichte Herbstwind zauste an ihren blonden Ponyfransen, und da sogar öfter die Sonne herauskam, stellte Laskirow einen durchaus erfreulichen Anblick zwischen den rund 20 anderen Erntehelfern dar. Das mußte sogar Pitt Effesheimer einräumen, obwohl er sich, durch die mehr oder weniger zufällige Verteilung der Leute, etliche Pferdelängen von Laskirow entfernt nach den gelben Knollen bückte.
~~~ An die drohenden Kreuzschmerzen hatte die Diplomatin am Vortag nicht gedacht. Sie hatte sich zunächst lediglich über die Entweihung des Sonntags, ja über die Aushebelung des ganzen sogenannten »Wochenendes« gewundert, das man auch in Moskau für allerlei Vergnügungen und angebliche Erholungen zu nutzen hatte. Hopf, die Außenrätin, hatte es ihr erklärt. Der Mensch sei nicht auf der Welt, um an bestimmten, vorgeschriebenen Tagen zu arbeiten, an anderen dagegen nicht. Die Entscheidung, was für einen Menschen oder eine Gemeinschaft gerade die sinnvollste und zuträglichste Beschäftigung sei, könne man weder dem christlichen Kalender noch der kommunistischen Innenministerin überlassen. Oft seien zahlreiche Faktoren zu beachten, und der vom Wetterdienst vorhergesagte Sonnenschein könne sogar den Ausschlag geben.
~~~ Laskirow unterbrach ihre Reck- und Dehnübungen und trat beiseite, weil Toivo nahte, der den nächsten Kartoffeldamm umbrach. Vermutlich hatte ihn Paul, der ihn am Zügel führte, in der Frühe nicht gefragt, ob man heute, seiner Ansicht nach, eher arbeiten oder eher faulenzen sollte. Der kräftige braune Wallach wirkte freilich weder widerwillig noch überfordert. Er zog eine einfache Maschine, die sie hier Schleuderroder nannten. Die Kraft von Toivo wurde vermittels der beiden Wagenräder und eines Zahnkranzes auf ein quer zum Kartoffeldamm stehendes Zinkenrad übertragen. Dessen Gabeln gruben und warfen die Kartoffeln zur schon geräumten Ackerseite hin aus. Zwar waren die Gabeln beweglich; trotzdem ließen sich diverse Schäden an soundso vielen Kartoffeln nicht vermeiden. Diese Verletzten hatte Wera in den Eimer mit »Schweinekar-toffeln« zu werfen. Für die Gesunden dagegen war ein Drahtkorb vorgesehen, den Wera zusätzlich mit sich zu hieven, schieben oder ziehen hatte. Nach zwei Stunden konnte sich der ungeübte Erntehelfer durchaus einbilden, jetzt seien seine Arme schon wieder um zwei Zentimeter gewachsen.
~~~ Aufgrund der morgendlichen Verteilung lasen immer zwei HelferInnen einigermaßen gerecht aufeinander zu. Laskirow hatte Pohl vor der Nase. Der sprach von seiner DDR-Zeit her ziemlich gut Russisch. Als die neue Helferin bei ihm eintraf, zwinkerte er und erkundigte sich:
~~~ »Na, wie gehts unserem strohblonden bolyat myshtsy ..?«
~~~ Sie lachte und winkte strafend mit dem Zeigefinger. Er meinte den Muskelkater, der ihr sehr wahrscheinlich drohte. Dann erhob sie sich ächzend, zog ihre dünnen Leinenhandschuhe aus und reckte und dehnte sich wieder in den halbwegs heiteren Himmel.
~~~ Der Wind hatte sich leider noch nicht verstärkt. Das betrübte zwei Kinder, die in ihrer Bildungsgruppe Drachen aus dünnen Leisten und buntem Pergamentpapier gebaut hatten, wie Gerda erzählt hatte. Nun bekamen sie jedoch ihre Drachen, auf dem leergeräumten Ackerteil, einfach nicht vom Boden weg. Laskirow rühmte gleichwohl die Schwänze der Drachen, die aus einer Schnur mit eingeknüpften, ebenfalls bunten »Fliegen« bestanden. Dann nickte sie auf die vergeblich rennenden oder stolpernden Kinder und sagte zu Pohl:
~~~ »Geben Sie ihnen Toivo! Der bringt die Drachen sicherlich in die Luft.«
~~~ Pohl grinste verdutzt. »Keine schlechte Idee, Frau Laskirow! Wir haben sowieso gleich Mittag.«
~~~ Sie waren gut vorangekommen. Nach Pohls Schätzung hatten sie nach der Mittagspause nur noch zwei Stunden auf dem Acker zu tun. Gegen Eins schlenderte man geruhsam zur Ümmerbrücke und tauchte ins Maxtor. Toivo zog bereits einen Wagen mit Kartoffelsäcken – und ein paar Kindern. Paul tränkte das Pferd am hofeigenen Brunnen und brachte es einstweilen auf die Koppel. Dann ging auch er zum Gutshaus zurück.
~~~ Das zweigeschossige Gutshaus mit Mansardendach war ein stattliches Gebäude. Über der Flügeltür aus Eiche war die Jahreszahl 1675 in den gebogenen Sandsteinsturz eingemeißelt. Das Städtchen hatte einmal irgendeinem unbedeutendem Barockfürsten gehört, dessen teilweise zerbombtes Schloß auch schon den Weg ins DDR-Baumaterial gegangen war. Er hätte »das Gesinde« niemals in seine Gemächer gelassen. Jetzt aber schlängelten sich die Schwaden des zünftigen Mittagessens über die niedrige Freitreppe in den Hof. Es gab angenehm unzerkochtes Wirsinggemüse mit wahlweise Speck- oder Kräuterkäsesoße, im übrigen, verblüffenderweise, statt Kartoffeln Nudeln. Pohl hatte Laskirow zu einem Tisch gelotst, an dem bereits Effesheimer, zwei deutlich ältere Frauen und ein Halbwüchsiger saßen. An einem Nachbartisch thronte ein kleines Mädchen in einem hohen Kinderstuhl und trommelte mit einem Löffel erwartungsfroh auf das Ladebrett. Die Stimmen der GOlerInnen schwirrten eher gedämpft durch den Saal. Als Laskirow das Essen pries und wissen wollte, wie der Koch- und Küchendienst organisiert sei, umriß ihr Pohl die Angelegenheit. Die meisten GOs hätten feste, in der Regel dreiköpfige Küchenbelegschaften, doch sie änderten sich von Zeit zu Zeit. Magdalena zum Beispiel habe im vergangen Jahr auch noch in der Küche geackert. Die Frau saß am Tisch und nickte stolz. Jetzt trete sie etwas kürzer und helfe hauptsächlich dabei, den ausgedehnten Laufstall der Pferde sauber zu halten. Ihr Nicken bekräftigte es. Pohl fuhr fort:
~~~ »Wir wollen den zufriedenen und vielseitig erfahrenen Republikaner. Da kann man ihn ja wohl nicht für Jahrzehnte an eine Stanzmaschine bei Volkswagen oder Lada binden … Nebenbei kommt die Beweglichkeit der GO-Mitglieder auch der Volkswirtschaft unseres Ländchens beträchtlich zugute. Wir können die Kräfte je nach Bedarf oder Notlage jederzeit umgruppieren – im Kapitalismus geht das nicht. Es scheitert am Privateigentum und tausend bürokratischen Hürden.«
~~~ Jetzt nickte Effesheimer Zustimmung. Es brachte seine schwarze Mähne in Bewegung. Sie tranken inzwischen Kaffee, den Pohl eingeschenkt hatte. Effesheimer erklärte: »Ich war zuletzt bei einem nordhessischen Raumausstatter angestellt. Ich verlor die Stelle, weil er nicht mehr genug Aufträge hereinbekam. Er ging pleite. Als ob es jemals zuwenig Aufgaben geben könnte! Nein, sie sind nur falsch verteilt.«
~~~ Laskirow steckte die Spitze gegen Lada klaglos ein. Die beiden Männer hatten ja recht. Effesheimer hatte überdies eine erstaunlich klangvolle Stimme. Sie prostete ihm mit der Kaffeetasse lächelnd zu.
~~~ »Ach ja«, winkte Pohl mit dem Daumen auf Pitt, »ehe ichs vergesse: er hat unseren schönen orange-schwarzen Gig gepolstert, Frau Laskirow – eigens für Sie!«
~~~ »Das war ja nett von Ihnen«, wiederholte die Botschafterin ihr Prosten und nickte nun den beiden Männern abwechselnd freundlich zu.
~~~ Nach einer Weile räumten sie ihr Geschirr auf den nächstgelegenen großen Teewagen und verließen den Saal. Pohls Schätzung mit den zwei Stunden erwies sich als ziemlich genau. Laskirow hatte ihn gefragt, ob er nach Feierabend noch etwas Zeit und Lust hätte, sie durch das ganze Gutsgelände zu führen. Das hatte er »mit Vergnügen« bejaht. So setzten sie sich am Nachmittag zunächst auf den Brunnenrand, wo sie sich sowieso Gesicht und Hände gewaschen hatten. Pohl erläuterte mit entsprechenden Handbewegungen die Nutzung der umliegenden Gebäude. Jenseits der Toreinfahrt stach das erstaunlich mächtige »Gesindehaus« lotrecht von der Luhsestraße gen Norden ab. In ihm wohnten allein rund 25 GOlerInnen. Der Rest des Gevierts bestand aus Wirtschaftsräumen und Werkstätten. Dazu gehörte auch die recht große Stellmacherei, die schon viele Dutzend Pferdewagen nach Deutschland, ja sogar Übersee verkauft hatte. Pohl führte sie jetzt durch diese kleine Fabrik. Sie trafen sogar zwei HandwerkerInnen, die einen Schaden an der Ümmershänder Postkutsche behoben. Die »Devisen« aus dem Export wurden natürlich für diverse Dinge benötigt, die man beim besten Willen nicht eigenhändig herstellen oder anbauen konnte, beispielsweise Kaffee, elektrisch betriebene Zahnbohrer oder den Computer in der Blick-Redaktion, an dem Fifi, die schon erwähnte Fotografin, Satz und Layout des Monatsblatts besorgte. Gedruckt wurde es allerdings »auswärts«. Darauf kommen wir noch zurück.
~~~ Zwar hatten die anderen vier Dörfer durchaus jeweils ein paar Pferde, aber der Löwenanteil an Gäulen stand verständlicherweise auf dem Gutshof. Nicht wenige unter diesen, zugeritten von Ute, zogen gleichfalls Devisen ins Land. Auf dem Gutshof hatten die Pferde in der Nordfront einen ausgedehnten, lichten sogenannten Laufstall mit unmittelbarem Ausgang auf die Koppeln. Der Stall verzichtete auf Trennwände, sodaß die Pferde das kommunitäre Leben einüben konnten. Wie Laskirow sah, pflügten sie mit Vergnügen kreuz und quer durch die üppige Bodenstreu und gaben sich allerlei Neckereien hin. Zur Stunde grasten die meisten von ihnen allerdings draußen auf den Koppeln. Pohl hatte den Fahrweg eingeschlagen, der zum »Walnußgarten« führte. Dabei wurden sie sogar von Toivo, dem braunen Kartoffelpferd, erspäht. Er kam angetrabt und ließ sich von der blonden Ponyfrau bereitwillig eine Mohrrübe reichen, die ihr Pohl geistesgegenwärtig zugesteckt hatte. »Reichen« heißt in diesem Fall: Legen Sie die Möhre auf ihren geöffneten Handteller, sonst beißt Ihnen die Mähre aus Versehen die Fingerkuppen ab.
~~~ Laskirow meinte im Weitergehen, die Pferde hätten »elektrisierende Bimsteinlippen«, das gefalle ihr. Pohl verkniff sich die naheliegende Frage nach ihren familiären oder nicht-familiären Moskauer Verhältnissen. Später steckte ihm Außenrätin Hopf, sie sei geschieden und habe irgendwo zwei Kinder.
~~~ Der sogenannte Walnußgarten war wirklich eine Pracht. Die hohen Bäume bildeten einen ganzen Hain, der sich bereits zu verfärben begann. Die ausladenden Kronen mit den gefingerten Blättern stießen fast aneinander und lieferten so ein im Sommer oft erholsames Schatten spendendes Dach. Gleichwohl hatte ein verflossener Gutsherr auch noch ein klassizistisches Tempelchen errichten lassen, wo man die Säulen oder die Angebetete inbrünstig umhalsen konnte. Dort ließen sie sich auf zwei Klappstühlen nieder. Als ein wieherndes Gelächter über ihnen erscholl, zuckte Laskirow verwirrt zusammen. Doch Pohl winkte ab. »Nur der Grünspecht. Er ruft auch außerhalb der Brutzeit hin und wieder. Wahrscheinlich hat er Ihre grünen Augen entdeckt, und da er keine Eule ist, kann er sie Ihnen nicht auskratzen …«
~~~ »Sie machen aber makabere Komplimente«, knurrte die Russin. Pohl zuckte neckisch mit den Achseln. Dann zog Laskirow eine gleichfalls grüne Walnußfrucht, die sie aufgepickt hatte, aus ihrem Brustlatz, entfernte die gutgepolsterte Schale und sah Pohl fragend an.
~~~ »Sie wird noch nicht ganz reif sein«, sagte Pohl, »aber kosten sie ruhig. Die Reife ist vollendet, wenn die Früchte an den Zweigen aufplatzen und die Nüsse von selber ins Gras fallen.«
~~~ Laskirow knackte die blaßbraune Nuß unter ihrem ackererprobten Wanderstiefel, mümmelte und verkündete: »Gar nicht übel! Sie hat schon Aroma!«
~~~ Pohl nickte. »Unsere Nüsse sind einzigartig und entsprechend begehrt. Europäische Bioläden und Supermarktketten reißen sie uns aus den Händen, zumal wir keinen Wucherpreis nehmen. In spätestens zwei Wochen tummeln sich hier und ringsum die RepublikanerInnen und ihre Kinder, um zu ernten. Sie haben es ja schon auf der Anreise gesehen, Ümmershand ist geradezu mit Walnußbäumen gespickt.«
~~~ Laskirow hatte bereits in einer Broschüre Hintergründliches über die Ümmershänder Walnüsse gelesen. Sie gediehen hier besonders wegen der günstigen Bodenbeschaffenheit gut. Überdies hatten Pohl und Genossen einen speziellen Dünger entwickelt, den sie jährlich nach der Ernte einbrachten. Es war ein Sud aus Pferdeäpfeln und diversen Mineralien, die Laskirow sogar von Hause aus kannte. Sie war ursprünglich Pharmazeutin gewesen, ehe sie Vertraute von Medwedew und Putin, darunter ihr ehemaliger Gatte, für kulturelle und diplomatische Regierungszwecke heranzogen. Sie war zudem als literarische Übersetzerin gefragt, vor allem aus dem Deutschen und Französischen.
~~~ Sie gingen zum Hof zurück. Sie hatten viel Zeit verbummelt: Die Stadtkirchenuhr schlug eben Fünf. Laskirows Blick verfing sich in einem dicken, langen Strick, der am Nordgiebel des Gesindehauses neben dem obersten Fenster an einem Haken hing und fast das Hofpflaster berührte. Pohl sah ihre Verwunderung und erklärte lachend:
~~~ »Dort oben haust Pitt Effesheimer, der Sattler. Er gehört unter anderem dem Stamm der Ümmershänder Feuerwehr an, müssen Sie wissen. Sobald die Sirene Alarm heult, reißt er das Fenster auf und rauscht an dem Strick auf den Hof – falls er gerade zu Hause ist. Die Feuerwehr liegt am Markt. Natürlich hat er beim Abseilen Lederhandschuhe an, sonst könnte er das Nähen und Gitarrespielen vergessen. Aber die Handschuhe braucht er ja am Brandherd sowieso.«
~~~ »Das ist ja spaßig«, sagte Laskirow unter Kopfschütteln.
~~~ »Naja, wie mans nimmt. Manchmal ist es am Brandherd auch gefährlich – und heiß übrigens …«
~~~ Er sah Laskirow besorgt an und fuhr fort: »Mir scheint, Sie frösteln ein wenig. Passen Sie auf – ehe ichs vergesse! Die Küche hat das heutige Abendbrot auf den Acker verlegt – Kartoffelfeuer, Sie verstehen? Das ist für 18 Uhr 30 angesetzt. Pitt und seine Combo wollen sogar Musik machen. Sie bleiben doch hoffentlich noch? Na also. Ich schlage vor, Sie wärmen sich schon mal etwas auf und ruhen sich dabei auch aus. Sie könnten sich in meinem Zimmer aufs Sofa legen. Was halten Sie davon? Ich selber will einmal nach der Postkutsche sehen. Sie muß ja morgen raus.«
~~~ Laskirow war mit allem einverstanden. Kaum lag sie auf dem Sofa, fielen ihr die Augen zu. Pohl weckte sie jedoch rechtzeitig und ging mit ihr und Ute zum Acker. Ein Fremder hätte den Acker leicht gefunden, denn das mächtig aufgeschichtete, mit Reisig gespickte Kartoffelkraut loderte bereits. Nach und nach trudelten immer mehr Leute ein; am Ende waren es sicherlich 300. Zum Mampfen gab es Kartoffeln, die eigenhändig geröstet oder gebacken wurden. Man steckte sie auf Spieße, die man am besten über die Glut hielt und öfter wendete. Die Küchenleute legte auch welche, die in Alufolie gepackt waren, in die Glut. Dazu gab es Butter, Salz und wahlweise Saure Gurken oder Süßen Kürbis. Viele Republikaner-Innen hatte ihre Feldflasche mit Wasser am Gürtel, das genügte ihnen. Die anwesenden Kinder waren natürlich begeistert, obwohl es weder Bier noch Limonade gab. Sie sorgten für einigen Schlachtenlärm. Schließlich jedoch, als es schon dunkel war, bauten sich die vier MusikerInnen unweit der Feuerstelle auf einem größeren Handwagen der Küche auf, sodaß sich der Lärm fast schlagartig legte. Schon bei dem Eröffnungsstück fingen freilich einige Leute schon wieder zu jauchzen und sogar zu tanzen an. Gitarrist Effesheimer hatte es als Hallo Füchschen angekündigt. Es war ein unkompliziertes, aber schmissiges Instrumentalstück im Polkaton. Die Kinder tanzten selbstverständlich ums Feuer.
~~~ Pitts Mitstreiterinnen, alles Frauen, spielten Akkordeon, Querflöte und Percussion. Die stämmige Frau an den Schlaginstrumenten hätte auch auf ihr eigenes Becken trommeln können. Sie hatte einen üppigen Busen, der entsprechend wackelte. Die ausgesprochen begabte Akkordeonspielerin war nur ein Strich in der Landschaft. Daß ihre Quetschkommode sie nicht in die Ackerfurchen warf, war fast ein Wunder. Sie lieferte oft den tragenden Baß, konnte aber auch zarte hohe Töne in die Nacht schicken, die Laskirow glatt in Rührung und Wehmut gestürzt hätten, wenn sie auf die Weiber nicht auch neidisch gewesen wäre. Die rothaarige Flötistin hatte Locken und einen Pferdeschwanz, den sie mit Vergnügen von einer Schulter auf die andere warf. Gleichwohl hielt sie ihre silberne Querflöte stets nach rechts. Laskirow fragte sich, welche von den Dreien wohl Effesheimers Lieblingsbraut sei. Er selbst, 1,83 groß, machte ohne Zweifel etwas her, obwohl seine zurückgekämmte schwarze Mähne in der Dunkelheit stark an Wirkung einbüßte. Er hatte ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht und eine lange, leicht gekrümmte Hakennase.
~~~ Schließlich hielt Laskirow ihre Neugier nicht mehr aus und fragte Pohl, mit dem sie eigentlich Walzer tanzte, welche Musikerin »die Mieze« des Gitarristen und Komponisten sei. »Keine«, erwiderte Pohl prompt. »Er bemüht sich gegenwärtig um eine Genossin aus dem Dorf Wickum. Das liegt im Nordwesten hinter dem Heuberg. Wir sind gestern durchgekommen.«
~~~ Da wußte sie es ganz genau, dachte Laskirow grimmig und trat Pohl versehentlich auf den Fuß.
~~~ Nach einer Konzertpause des Quartetts gab es dem Drängen der Kinder nach, endlich das »Drachenlied« zu spielen. Offiziell hieß das hurtige, hüpfende Stückchen Herbstfahrt. Es hatte nur drei kurze Strophen. Zwischen ihnen war aber kein Refrain zu hören, vielmehr ein hübscher B-Teil, den Akkordeon und Flöte abwechselnd, zuletzt sogar gemeinsam gestalteten. Der Text berichtete von einem Jungen, dem es endlich gelingt, seinen Vater auf die Wiesen zu schieben, zum Drachensteigen. Der zerstreute Vater ist aber nur mißmutig bei der Sache, weil er viel »wichtigere« Verpflichtungen im Kopf hat. Zur Strafe beherzigt der Junge Papis Mahnung, die Schnur schön festzuhalten, übergenau: er läßt sich von dem aufsteigenden Drachen fortreißen und gen Süden entführen. Da macht der Alte ein langes Gesicht.
~~~ Die Kinder jubelten und vollführten um den Wagen mit den MusikerInnen einen dankbaren Ringelreigen. Die Erwachsenen klatschten ausgiebig. Dann kam wieder ein Instrumentalstück, ein Tango.
~~~ Als Laskirow spätabends in Begleitung dreier Gymnasium-GOler durch die nur spärlich erleuchtete Stadt nach Hause ging, war sie leicht betäubt und schon wieder arg müde. Die klangvolle Stimme von Effesheimer hatte sie noch beim Einschlafen in der Nase. Sie roch nach Hufschlag, Lederzeug, Walnußholz und dergleichen mehr. Irgendwie cowboyhaft.
5 Die Weiße Post
Die geräumige Ümmershänder Postkutsche war überwiegend weiß, weil sie nur eine derbe Plane hatte, keine Kabine aus Holz. Die Plane wies schmale Oberlichter aus dickem Plexiglas auf. Bei Sommerhitze konnten die beiden Diensthabenden die Plane bis zu den Oberlichtern hochrollen. Sie wechselten sich beim Kutschieren und Sortieren ab. Die Kutschbank lag außerhalb. Im Winter hatte der Lagerist auch das Kanonenöfchen zu betreuen. Er hatte weniger Briefe, vielmehr Pakete und Frachtgüter für die fünf Dörfer zu sortieren oder auszugeben. Man verfaßte auch in Ümmershand meistens Emails. Waren Personen an Bord, verschmähte der Lagerist auch Plaudereien nicht. Fahrgäste saßen seitlich auf einer schlichten, ungepolsterten Klappbank, da sie selten länger als eine halbe Stunde reisten. Sie legten die Füße auf pralle Säcke mit Kartoffeln oder eine Wanne mit gebrauchten Backsteinen, tauschten Neuigkeiten aus und fuhren niemals schwarz.
~~~ Im Grunde war die Weiße Post also vorwiegend Güterwagen. Daher vier Zugpferde. In Drais, dem nordöstlichen Dorf, gab es eine Art Zwischenstation, sodaß ermüdete Gäule gegen ausgeruhte getauscht werden konnten. Die Kutsche fuhr, dreimal wöchentlich, stets den erwähnten ovalen Kurs durch die Zwergrepublik. Scheitel-punkt war Hildburghausen mit der deutschen Post; Endpunkt wieder Ümmerstadt. Frische Postsendungen an Ümmershand konnten somit teilweise gleich auf die Dörfer verteilt werden.
~~~ Das galt auch für den frischgedruckten Blick, das Monatsblatt. Es wurde nämlich in der Hildburghausener Druck- und Verlagsanstalt gedruckt. Sie verlegte auch eine vergleichsweise kritische, gleichwohl vielgelesene regionale Tageszeitung. Sie gehörte mehrheitlich Herrn Alfons Krömmer, auf den wir noch zurückkommen. Der Blick erschien übrigens in einem größeren Heftformat, darin ungefähr der Hamburger Zeitschrift Konkret vergleichbar. Der farbige Umschlag, der stets ein Hauptthema herausstellte, war derb genug, um auch massenhafte Nutzung zu verkraften. Der Löwenanteil der Blick-Auflage (gegenwärtig 3.200) kam freilich gar nicht nach Ümmershand hinein. Krömmers Leute machten ihn, portioniert, gleich versandfertig und gaben ihn auf die Hauptpost. Das waren die abonnierten Exemplare. Man hatte sogar einen Abonennten in Paris, das Außenministerium. Die Zwergrepublik selber benötigte lediglich 15o Exemplare, da sich die 27 GOs mit je drei begnügten, die eben von Hand zu Hand gingen. In der Regel wurden sie gut aufbewahrt, stellte der Blick doch gleichsam das Gehirn der Republik dar. Man schlug etwas nach, schlug sich an den Kopf und seufzte Tatsächlich, da steht es, schwarz auf weiß und war wieder etwas klüger geworden.
~~~ Übrigens saß die dreiköpfige Blick-Redaktion in der ehemaligen Ümmerstädter Post am Markt. Da man kaum noch Publikumsverkehr zu bewältigen hatte, begnügte sich die dortige Post mit einem Zimmer, in dem angenommen, sortiert und weitergeleitet werden konnte – vornehmlich an die Postkutsche. So war das vergleichsweise stattliche, zweigeschossige Gebäude aus gelbem Backstein für andere Nutzungen frei. Hier lag vor allem die Stadtbücherei, und im Oberstock eben die Blick-Redaktion. Wollte Redakteurin Mechthild etwas im Meyers oder in einer Londoner Enzyklopädie nachschlagen, brauchte sie bloß eine Treppe ins Erdgeschoß zu hüpfen. Sie war nämlich eine grundsätzlich heiter gestimmte Frau Mitte 30, die auf der Treppe sogar gerne Lieder trällerte, zum Beispiel Effesheimers Stück von der Herbstfahrt.
~~~ Heimlicher Chef des Monatsblattes war bekanntlich der lange, großäugige, eher melancholisch gestimmte, trotzdem oft verblüffend bissig formulierende Jovis. Er war früher zeitweise bei der Berliner Jungen Welt gewesen, hatte sich dann jedoch mit deren Chef Arnold Schölzel überworfen, einem strammen Kommunisten. Jovis hatte passend zu seinen braunen Kulleraugen braunes Kopfhaar, das er eigentlich recht unauffällig kurz trug. Trotzdem hatte ihn vor rund drei Jahren bei einem Marktfest in Ümmerstadt ein junger Orthopäde aus Hildburghausen bemerkt. Das war ein doppelter Glücksfall gewesen. Die beiden wurden ein Liebespaar, und bald darauf wurde der Blick bei Alfons Krömmer gedruckt.
~~~ Jovis‘ Gefährte Heinz war nämlich Krömmers Sohn. Er hatte einen Riesenrabatt für das rebellische Monatsblatt erwirkt und kümmerte sich an jedem Monatsbeginn sogar eigenhändig darum, den Blick pünktlich und ordentlich aus dem Verlagshaus zu bekommen. In seiner orthopädischen Praxis war er leicht abkömmlich, weil er eine weibliche Partnerin besaß, die nicht aus reiner Geldgier bestand. Bei ihr und Heinz mußten die Humpelnden und Ächzenden selten länge als 10 Minuten auf den Einlaß ins Sprechzimmer warten. Die leichte Abkömmlichkeit war natürlich auch für Heinzens Kurzbesuche in Ümmershand günstig. Und was meinen Sie wohl, wie der schlanke, blonde, nur mittelgroße Orthopäde zur ehemaligen Ümmerstädter Post oder ins südliche Dorf Sielen kam, wo Jovis wohnte? Richtig, mit der Postkutsche. Gewiß hatte er in Hildburghausen einen eigenen Wagen, sogar einen sechszylindrigen BMW. Aber mit diesem konnte er sich selbstverständlich nicht zur Grenze wagen. Die Leute hätten sich schon bei Drais zu Zehnt mit Mistforken an der Landstraße aufgebaut und hätten dem Liebling ihres bekanntesten Journalisten mindestens die Reifen zerstochen.
~~~ Als Wera Laskirow am Dienstagvormittag über den Ümmerstädter Markt kam und das gelbe ehemalige Postgebäude sah, hatte sie eine Idee. Sie ging ins Postzimmer und fragte den jungen Mann, der dort herumkramte, ob sie eine Postkarte nach Moskau schicken könne. Der Rothaarige mit dünnem Oberlippenbärtchen und ovaler Messingbrille musterte sie aufmerksam. Er konnte kaum über 20 sein.
~~~ »Selbstverständlich«, sagte er. »Sind Sie nicht die russische Diplomatin aus der GO Gymnasium ..?«
~~~ Laskirow lächelte. »Sie haben recht. Und wo bekomme ich so eine Postkarte?«
~~~ Er kratzte sich hinterm Ohr und ließ seinen Blick etwas hilflos durch sein Büro wandern. Dann zog er einen hellen DIN-A-4-Karton aus einer Schreibtischschublade und schnitt davon eine Ecke ab. »Nehmen Sie das«, überreichte er ihr das Stückchen. »Sie können draufschreiben oder draufmalen, wie Sie wollen, nur müssen Empfänger und Absender deutlich zu erkennen sein. Das ist leider unerläßlich. Ein Plätzchen für die Marken müssen Sie außerdem frei halten.«
~~~ »Was kostet sie denn nach Moskau?«
~~~ Er winkte ab. »Keine Ahnung! Das besorgt der Postkutscher in Hildburghausen pauschal. Die zählen alles zusammen und schreiben es auf das Schuldenkonto, das wir dort haben.«
~~~ »Gibt es hier einen Spendentopf?«
~~~ Er staunte. »Sie sprechen ja astrein Deutsch! Nö, einen Spendentopf habe ich nicht … Aber nebenan, die Stadtbücherei, müßte einen haben, für Touristen, wissen Sie ..? Da können Sie auch gleich in Ruhe Ihre Postkarte schreiben. Dann geben Sie sie mir wieder zurück. Morgen geht sie raus.«
~~~ Laskirow dankte ihm überschwenglich und verließ das Postzimmer eher rasch, weil sie plötzlich prustend lachen mußte. Der Junge war zu komisch! Später erfuhr sie, er war der Sohn von Isolde Blecherer, der Landesschiedsrätin. Ralf gehörte zur GO Molkerei und machte offenbar regelmäßig für ein paar Wochenstunden Postdienst – nur mit der Kutsche nicht, weil er sich nicht auf Pferde verstand. Er war vor allem Elektrobastler. Er reparierte oft entsprechende Geräte und glänzte sogar als Erfinder. Wer in sein Zimmer in der GO komme, müsse sich in acht nehmen und vorsichtshalber den Kopf einziehen, weil er sogar Zwergflugzeuge durch sein Zimmer schwirren lasse, hieß es in der GO Gymnasium. Er habe für Nancy Litbarski auch das große Modellflugzeug besorgt, das sie am Freitag vom Heuberg aus abzuschießen gedachten.
~~~ Auf die Postkarte schrieb Laskirow das Folgende. »Meine lieben Mädchen! Ich bin hier wohlbehalten eingetroffen, und es gefällt mir bereits recht gut in Ümmershand. Die Menschen sind fast so nett wie die vielen Pferde, die sie hier haben; dafür gibt es nicht einen Politiker, Gott sei dank. Köstliche Walnüsse bauen sie auch an. Ich bringe ein Tütchen mit. Von Schulen halten sie hier übrigens wenig; für morgen bin ich bei einer sogenannten Bildungsgruppe verabredet. Sie heißt sogar Prokofjew, BG Prokofjew. – Viele Grüße und Küsse von eurer Mutter: Wera Laskirow, z. Zt. GO Gymnasium, Ümmerstadt in Ümmershand.«
6 Unterricht bei Lydia
Bei mehr als einem Dutzend BGs allein in Ümmerstadt – die anderen vier Dörfer hatten auch noch welche – konnte man hinsichtlich der Unterrichtsorte nicht wählerisch sein. Kleine BGs, die vielleicht nur fünf Köpfe zählten, tagten in privaten Zimmern, gern auch reihum. Für die größeren Gruppen um 15 Personen kamen die Plenarsäle der GOs leider nicht in Frage, weil es dort viel zu unruhig war. Lydia hatte sich für ihre BG Prokofiew die Friedhofs-kapelle ausgeguckt. Es war ein schmuckloses Gebäude in Barackenform, das nur durch einen kleinen Glockenturm an eine Kirche erinnerte. Im Inneren waren Tische zu einem Oval angeordnet. Auf dem Podium standen ein Klavier und ein Gestell mit Schreib- oder Zeichenblock. Das Deckenlicht war eingeschaltet, weil es heute draußen so trübe war. Während die letzten »SchülerInnen« eintrudelten, lehnte Laskirow am Kachelofen der Kapelle. Laut Lydia, die an einem Tisch in ihre Unterlagen sah, erfüllte der Kachelofen neben physikalischen auch pädagogische Zwecke. Er wurde, falls vormittags nicht ohnehin eine Trauerfeier stattfand, jeden Mittag von einem anderen Schüler angeschürt. Um 15 Uhr war es dann an Frosttagen warm genug. Versäumte jemand den Ofendienst, klapperten 12 oder 14 Gebisse Strafe genug, um zu seiner Läuterung beizutragen. Die Weihe des Ortes konnte Lydias Schützlinge nicht vom Durcheinander-schnattern abhalten. Sie waren überwiegend zwischen 15 und 17. Eine 11jährige wäre hier fehl am Platz gewesen, wie die Besucherin bald merken sollte.
~~~ Lydia Schulz, nicht wesentlich jünger als Laskirow, streifte ihr dunkelblondes Haar über die Schulter und sah in die Runde. Dann griff sie nach ihrer Stimmgabel und hielt sie auf die Tischplatte. Der Ton ließ die Jungen und Mädchen verstummen.
~~~ »Ich grüße euch. Wir sind vor einigen Tagen im Zuge der russischen Oktoberrevolution in das Thema Technik geschliddert. Gestern warnte uns Mario, sie nicht in Bausch und Bogen zu verdammen. Da kommt ihm möglicherweise der Gast am Kachelofen gelegen: Sonderbotschafterin Wera Laskirow aus Moskau.«
~~~ Allgemeines Knöchelklopfen auf die Tische.
~~~ »Oder sollten die MoskauerInnen ihre U-Bahnen noch wie die TreidlerInnen an der Wolga mit Tauen ziehen, Frau Laskirow?«
~~~ Laskirow lächelte etwas gequält. »Das nicht, Frau Schulz. Aber seit ich hier in Ümmershand bin, vermisse ich das Getriebe einer Millionenstadt um keinen Deut.«
~~~ Lydia nickte. »Am Sonntag kam ich beim Kartoffelfeuer des Gutshofs mit einer Querflötistin ins Gespräch, die dort auftrat. Sie erzählte mir von der erforderlichen „Anblas- und Fingertechnik“, die nicht so einfach hinzukriegen sei. Sicherlich spricht man auch von einer Atemtechnik, aber ich glaube, das ginge hier am Kern der Angelegenheit vorbei. Sogar die junge Flötistin betonte, die Atmung sei die Basis des ganzen Flötespielens. Dessen Seele sozusagen. Was könnte uns dieser Vergleich hinsichtlich unseres Themas Der Mensch und die Technik lehren?«
~~~ Ein Mädchen mit rötlichem Bürstenschnitt hob leicht den Finger vom Tisch. »Na, daß sie eben dem Menschen zu dienen hat, die Technik. Seiner Entfaltung, meine ich. Behindert sie seine Entfaltung, ist sie schlecht.«
~~~ »Oder nur Selbstzweck«, warf ein schmächtiger, wieselig wirkender Junge ein.
~~~ »Sie ist auch schlecht, wenn sie einige Leute als Machtmittel mißbrauchen«, stellte ein Mädchen fest, das durchaus kräftig wirkte.
~~~ Lydia nickte. »Ich sehe, ihr denkt mit und wir sind mitten im Thema. Jaromir, du wolltest dich mit ein paar Texten von führenden russischen Revolutionären befassen. Was äußern sie über Industrialisierung, Verstaatlichung und dergleichen? Traust du dir zu, uns einen kurzen Überblick zu geben?«
~~~ Der großgewachsene, blonde Lockenkopf versuchte es. Er sprach mit leichtem Akzent. Er stützte sich auf einen Wust von Zetteln, las aber nicht ab. Seine MitstreiterInnen notierten sich gelegentlich Stichworte. Jaromir knüpfte an Lenins vielzitierten Ausspruch an, Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung, der auch Laskirow durchaus nicht fremd war. Das riesige »rückständige« Land sollte mit Gewalt industrialisiert werden. Man träumte davon, so viele Waren produzieren und konsumieren zu können wie der Goldene Westen. Das geschah natürlich auf den Knochen der ArbeiterInnen – und auch der Bauern. Deren erzwungene Kollektivierung forderte gewaltige Opfer. Die Hungersnöte wurden durch diese Dampfwalze der »nachholenden Modernisierung«, wie KritikerInnen sie später nannten, keineswegs aus der Welt geschafft, im Gegenteil. Die Bürokratie führte zu außerordentlicher Mißwirtschaft. Die Elite sorgte für ihre Privilegien. Die beiden Weltkriege erschwerten die Lage zusätzlich. Und dann sei ja der Witz gewesen, daß Lenins »Sowjetmacht« schon um 1920 im Keim erstickt worden sei. Weder in den Betrieben noch in den Gemeinden war Selbstverwaltung erwünscht. Das Sagen hatte eine Partei- und Staatsmacht, die an allen Hebeln der Fabrikkombinate saß und die natürlich auch die Armee befehligte. Für Denker wie Friedrich Georg Jünger hatte sich dem westlichen Maschinenkapitalismus ein östlicher Maschinensozialismus hinzugesellt. Daß sie sich im Grunde nichts genommen hätten, erweise sich seit 1989, schloß der Referent. Jetzt sei alles wieder eine Banane.
~~~ Die Besucherin aus Moskau schmunzelte. Jaromir wischte sich die Schweißtropfen aus den Stirnlocken und sah seine Gruppenleiterin etwas verlegen an.
~~~ Lydia nickte ihm mit anerkennendem Lächeln zu. »Danke für die Mühe, Jaromir. Das ist doch eine ausgezeichnete Grundlage, um einzuhaken, denke ich. Was meint ihr?«
~~~ Nach dem üblichen Blickaustausch zwischen teils unsicheren, teils mutwilligen Jugendlichen deutete »das Wiesel« zur Saaldecke und erkundigte sich lauernd:
~~~ »Müssen wir die jetzt ausschalten ..?«
~~~ Laskirow war nicht der einzige im Saal, der lachte. Wiesel hatte die Deckenleuchten gemeint.
~~~ Daraus entspann sich ein lebhaftes Gespräch über ein konkretes Problem. Kerzen wachsen nicht auf den Feldern; sie kosten ebenfalls Geld oder Arbeit, vielleicht sogar mehr als unser Strom, den uns nach Abschreibung des geplanten Wasserkraftwerkes im Prollwald Mutter Natur umsonst liefert. Kerzen verderben das Augenlicht. Ja sicher, warf jemand ein: Glühbirnen nicht, aber es wäre mir neu, sie wüchsen auf Bäumen. Für Glühbirnen bedürfe es ja schon einer richtigen Fabrik! Das war der Referent. Sollen wir die Kerzen in Heimarbeit gießen oder drehen? Ja, warum denn nicht!
~~~ Man stieß auf das Problem der Abhängigkeit. Kerzen lassen sich tatsächlich von Einzelnen oder von kleinen Gruppen recht einfach herstellen. Wird auch das Wachs selbstproduziert, ist die Autonomie perfekt. Dagegen ist der moderne Wohlstandsmensch von einer Megamaschine und von tausend sogenannten, jeweils anders zuständigen Experten abhängig. Eine Panne, und ganze Stadtviertel oder Großstädte sitzen im Dunkeln. Ein Defekt im Ölbrenner, und der Experte läßt Familie Hurtig zwei Tage frieren, ehe er kassiert. Hinzu kommt der Machtfaktor, auf den Jaromir ja schon hingewiesen hat. Beherrsche ich die Produktion, beherrsche ich die Menschen. Indem uns die Megamaschine enteigne, entmündige sie uns, formulierte Lydia. Sie nehme uns dankbar alles ab: die Sorge um unser Stück Land, das sie gleich mit 50 anderen Stücken verschmilzt; unser letztes Geld, weil wir uns gegen Notfälle versichern müssen; den Rest unserer Menschenwürde, den wir beim Shoppen und Zappen noch nicht eingebüßt haben.
~~~ Aber die Erleichterung, die uns Technik oft gewähre, lasse sich auch nicht so einfach wegreden, gab die Rötliche mit dem Bürstenschnitt zu bedenken. Wer das Brennholz für die ganze Kommune nur mit der Hand sägen wollte, käme zu keiner BG-Sitzung mehr, vom Muskelkater ganz zu schweigen. In der Ziegelei liefen die Band-, Kreis- und Kettensägen den ganzen Tag. Verstoße das gegen den Anarchismus?
~~~ »Tja, der Streit ist alt«, sagte Lydia lächelnd. »Der Engländer William Godwin gilt als Begründer des politischen Anarchismus. Er will bereits um 1800 – als die Industrie noch in den Kinderschuhen steckt – alle Möglichkeiten der Automation ausgeschöpft wissen; er sei davon überzeugt, dadurch könne die täglich notwendige physische Arbeit des Menschen auf eine halbe Stunde verringert werden. Nichts anderes glaubten Leute wie Lenin und Zuse, der Erfinder des Computers. Wer weiß, daß Godwin ursprünglich evangelischer Prediger war, könnte hier einen uralten Menschheitstraum als Vater des Gedankens wittern …«
~~~ Sie blickte fragend in die Runde. Das Wiesel krähte: »Schlaraffenland! Paradies!«
~~~ »Ganz genau, Tim. Und ich wage zu bezweifeln, die Bestimmung des mit Würde begabten Menschen liege darin, wie ein Säugling an der Brustwarze der Megamaschine zu hängen. Ist es nicht vielmehr so, daß wir überhaupt erst durch die Aneignung unserer Umwelt zu Menschen werden?«
~~~ Laskirow schluckte. Die »Aneignung« war selbst für sie ein wenig zu hoch. Eine Diskussion ergab: Die Notwendigkeit, für unseren Lebensunterhalt, für unser Fortkommen zu sorgen, gestaltet uns selbst nicht weniger, wie sie unsere Umwelt gestaltet. Der Mensch »erschafft sich« im Prozeß seines Eingreifens – durch Arbeit im weitesten Sinne.
~~~ »Nun ja«, wagte ein schon bärtiger Bursche zu bemerken. »Es kommt vielleicht doch auf die Art der Arbeit an. Letzten Herbst half ich in der Mosterei der Talmühle in Bruhndorf mit. Wenn da einer im Stehen stundenlang einen Plastikschlauch in leere Flaschen tunken muß, trägt er wohl kaum zu seiner eigenen Vervollkommnung bei – er ist vor allem geschafft. Und wenn er nicht gut auf sich aufpaßt, kommt er sogar dümmer aus der Mosterei heraus, als er hineinging.«
~~~ Allgemeines Gelächter. Die Runde einigte sich darauf, es gebe keine Pauschallösungen. Man müsse von Fall zu Fall entscheiden, ob Einsatz von mehr Technik sinnvoll sei oder nicht. Dabei seien sich die meisten Menschen nicht darüber im klaren, wie komplex die zu entscheidende Frage sei, betonte Lydia. Jedem Vorteil stehe ein Nachteil gegenüber, und es gebe immer Dutzende dieser Paare. Man bedenke nur, was alles an einem Auto hänge. Lydia war im Ruhrgebiet aufgewachsen, Tochter eines Bergmanns. »Doch meinem Vater winkte aus jedem abbiegenden VW-Käfer, dem er neidisch nachblickte, nur die große Freiheit aufzubrechen, wohin er will – die man nach Hölderlin allerdings verstehen lernen muß. So in seinem Gedicht Lebenslauf.«
~~~ Ein bislang schweigsames Mädchen, das viel mitschrieb, hatte offenbar über irgendetwas gegrübelt. Jetzt sagte es ziemlich bestimmt:
~~~ »Abwägen ist ja schön und gut – nur hat die Sache einen Pferdfuß. Es wird nämlich immer schwieriger und irgendwann sogar unmöglich. Harry – das ist mein Vater – sagt, es liegt an der Verselbständigungstendenz der Megamaschine. Sie drückt uns ihre Bedürfnisse auf, sie fordert ihr Recht. Das nennt man dann Sachzwänge. Jedenfalls sei es im kapitalistischen Ausland so. Welcher deutsche Bundesbürger könne denn noch auf ein Auto verzichten, ohne gesellschaftlich abgehängt zu werden? Und wenn die BRD auf die Autoproduktion verzichte, bräche die halbe Wirtschaft zusammen. Harry verhöhnt die vielen angeblichen Linken, die neuerdings vom notwendigen Umbau der Industriegesellschaft sprechen – wartet mal …«
~~~ Sie kramte in ihren Papieren, bis sie fündig geworden war. »Er hat mir eine Stelle aus Lenins Staat und Revolution gezeigt, das in seinem Bücherregal steht. Da schwärmt der Führer des Proletariats von einer Schule der Fabrik, die den revolutionären Erfordernissen – also dem bürokratischen Zentralismus – sehr zugute komme. Mit der Maschine oder Keule revolutionärer Geschlossenheit werde nach und nach weltweit jede Ausbeutung erdrückt und erst, wenn sie restlos vom Erdboden getilgt sei, werden wir diese Maschine in den Winkel stellen. Dann wird es weder Staat noch Ausbeutung geben. Das verhöhnte Harry mit einem Beispiel aus dem Reich der Haustiere. Lenin kauft sich einen kleinen Kläffer, den der Hundezüchter als Pinscher bezeichnet. Nach zwei Wochen macht Lenin Urlaub in Ümmershand, wo ja Hundeverbot herrscht. Zurückgekehrt, hat sich sein angeblicher Pinscher, unter der Obhut seiner Haushälterin, zu einem Säbeltiger ausgewachsen. Lenin erschrickt nicht; er holt schnell einen Keks aus der Küche, um den Säbeltiger damit ins Tierheim zu locken. Lenins Ende könne ich mir wohl selber ausmalen.«
~~~ Sie erntete Gelächter. Lydia blickte zur Wanduhr: kurz vor halb vier.
~~~ »Vielleicht sollten wir das zunächst einmal so stehen lassen; die Zäsur bietet sich an. Ich schlage vor, wir bewegen uns etwas und kochen Kaffee, bevor wir noch eine Stunde Russisch machen. Jaromir hat übrigens einen Kuchen mitgebracht.«
~~~ Jubel! Die SchülerInnen erhoben sich. Jaromir verschwand höchstpersönlich in einer Tür, um den Kaffee aufzubrühen. Während andere nach draußen gingen, setzte ein dürres Mädchen einen CD-Player in Gang, den es bereits mit lüsternen Blicken angepeilt hatte. Es begann sofort, sich in dem beachtlichen marschmäßigen Groove des nun erklingenden schlichten Popsongs zu bewegen. Eine Frauenstimme sang nicht unpassend auf russisch. Doch beim Refrain wechselte sie ins Deutsche! Eins zwei drei schicke schicke Schweine sang sie – etwas lispelnd, dazu frivol. Die Dürre sang verzückt mit. Als der Song vorbei war, machte sie den Player wieder aus.
~~~ »Wer singt das?« wollte Laskirow von ihr wissen.
~~~ »Glukoza.«
~~~ »Glukoza?«
~~~ »Ja, eine geile russische Sängerin. Kennen Sie sie nicht? Ganz jung ist sie noch. Und sie hat ein Video zu dem Lied gemacht, das ist noch geiler! Steht im Internet.«
~~~ »Worum geht es denn?«
~~~ »Die Schweine sind die Nazis. Sie haben auch scharfe Doggen, also Hunde, und Kampfflugzeuge. Aber dann kommt Glukoza mit ihren Freunden und macht sie alle nieder.«
~~~ »Ah ja«, sagte die Sonderbotschafterin. »Man lernt nie aus, danke.«
~~~ Die Dürre lief nach draußen. Lydia hatte lächelnd zugehört. Jetzt schüttelte sie ihren Kopf. »Peggy ist in ihr Spiegelbild verliebt! Sie vergaß zu erwähnen, daß wir Glukoza, so witzig sie immer sein mag, auch kritisiert haben. Vor allem werden die Nazis in dem Video nur als blutrünstige Horden jenseits aller politökonomischen Zusammenhänge dargestellt. Sie waren ja immerhin die Speerspitze des traditionell aggressiven deutschen Kapitals.«
~~~ »Ah ja«, wiederholte Laskirow fast verdutzt. »Noch mehr gelernt!«
~~~ Sie zwinkerte und eilte in der Annahme, dort befänden sich Sanitärräume, zu der Tür, in der Jaromir verschwunden war. Damit lag sie nicht falsch. Sie fand eine Klo-Zelle. Ein Waschbecken befand sich im Vorraum, wo Jaromir gerade die Kaffeemaschine einschaltete. Während sich Laskirow die Hände wusch, erklang das Klavier; das war vermutlich Lydia. Dann musterte sie das Wasserrohr an der Wand. Zwar war es ummantelt, doch es lief ein paar Meter um die Wände, ehe es im Fußboden verschwand. Sie wandte sich an Jaromir, der Geschirr auf ein Tablett stapelte:
~~~ »Was macht ihr denn bei anhaltendem Frost, Jaromir? Droht dann nicht das Wasser einzufrieren?«
~~~ Der junge Referent schüttelte seinen Lockenkopf und deutete mit einem überlegenen Lächeln auf die Zuleitung: »Sehen Sie mal genau hin. In den Lücken an den Schellen sieht man es.«
~~~ Nun war Laskirow überfordert; sie sah und verstand nichts.
~~~ »In der Isolation läuft ein Heizkabel mit«, erklärte Jaromir nachsichtig. »Es wird durch einen Fühler geschaltet, der auf Frost reagiert. Da passiert nichts!«
~~~ »Ach so«, rieb sich Laskirow die kalten Hände. »Und womit heizt das Kabel?«
~~~ »Richtig!« grinste Jaromir und nahm das Tablett auf. »Mit Strom.«
~~~ Laskirow schmunzelte und folgte ihm. Durch die Fenster sah sie einige SchülerInnen, die auf dem Vorplatz der Friedhofskapelle schnell eine Runde Kubb spielten. Man wirft dabei mit einem kurzen Stab nach kleinen Kegeln. Die im Saal verbliebenen machten Gymnastik, unterhielten sich, blätterten in ihrer russischen Grammatik, halfen Jaromir beim Decken der zusammen-geschobenen Tische. Lydia saß noch am Klavier, aber verkehrt herum. An den geschlossenen Deckel und einen Teil des Aufbaus gegossen, blinzelte sie gegen die Saal-decke und dehnte und reckte sich dabei. Ein reizendes Bild!
~~~ Laskirow zog sich einen Stuhl herbei. »Ihr seid ja wirklich gut aufgelegt hier. Das Schulklima gefällt mir. Und das Engagement der jungen Leute! Wie erreicht man das?«
~~~ Lydia verstülpte die Lippen und dachte nach. »Vielleicht zuerst: Keine Pädagogik! Die Mädchen und Jungen müssen als künftige RepublikanerInnen ernst genommen werden.«
~~~ »Gilt bei euch die bundesdeutsche Volljährigkeitsgrenze?«
~~~ »Ja. Sie beläuft sich aber darauf, daß eine 17jährige kein Vetorecht und keinen Zugriff auf die Bank hat. Ansonsten gestaltet sie mit wie jeder Erwachsene.«
~~~ »Und was wäre noch wichtig?«
~~~ »Keine Schulpflicht! Selbst in unsere Grundschulen wird kein Kind gezwungen. Wir brauchen den freiwilligen Einsatz und die selbsterrungene Erkenntnis des jungen Menschen – nicht seine Unterwürfigkeit. Während Lenin, wie wir hörten, die Schule der Fabrik rühmte, geißelte der von mir angeführte Godwin die Sklaverei des Schuljungen – 120 Jahre vor Lenin. Und Sie werden es vielleicht schon wissen: nötige ich ein Kind ans Klavier, kommt nur Krampf dabei heraus.«
~~~ Laskirow lächelte etwas schwermütig, denn bei ihr war es just so gewesen. Dann hakte sie nach: »Ihr trefft euch an fünf Nachmittagen der Woche jeweils für drei Stunden, hat mir ein Mädchen gesagt. Zwängende Zeitrahmen lehnt ihr also nicht ab?«
~~~ »Sie werden oft überdehnt, manchmal auch gesprengt. Heute sitzen wir bestimmt noch bis halb Sieben hier. Im Sommer kann es geschehen, daß wir zur Ümmer rennen, um uns hineinzustürzen. Das Entscheidende ist gar nicht die Unterrichtsdauer, sondern die Vorbereitung auf den Unterricht, die die Mädchen und Jungen individuell oder in Untergruppen leisten. Vorträge vermeide ich. Es gibt Bücher, es gibt das Internet – bei uns wird gebündelt. Oder auch mal experimentiert.«
~~~ »Die Gruppen laufen stets ein Jahr?«
~~~ »Richtig. Gegen Ende des Kursjahres wird überlegt, wer wo weitermacht, denn im Grundmuster wiederhole ich dann mit Neulingen meinen Kurs. Diese Muster der BGs hat die Bildungsrätin inzwischen auf unsere Webseite gestellt. Es kommen mal neue hinzu, mal fällt etwas fort. Jede BG hat ihren eigenen thematischen Schwerpunkt. Die allgemeine Leitlinie ist: Vollständigkeit wird nicht angestrebt. Es ist besser, wenige Dinge gründlich als viele Dinge oberflächlich zu kennen. Übrigens schaut Monika, die Rätin, reihum in den BGs vorbei. Aber nicht etwa zur Aufsicht, sondern für Kritik und Selbstkritik. Als Lehrkraft ist man ja befangen, und Monika macht einen auf manche Mängel aufmerksam. Sie hat zuweilen auch gute Vorschläge.«
~~~ »Wird Ihnen selbst die Wiederholung nicht langweilig?«
~~~ »Bislang nicht. Ich gebe den Kurs erst zum zweiten Mal. Ich bin oft noch unsicher.«
~~~ Sie waren inzwischen an die Kaffeetafel gewechselt und ließen sich Jaromirs Pflaumenkuchen schmecken. Neben zwei Thermoskannen mit Kaffee hatte er sogar eine Schüssel mit Schlagsahne gebracht. Die Kubb-SpielerInnen waren gern hereingekommen.
~~~ »Ich könnte mir denken, die Kurse gewinnen oder verlieren auch stark durch ihre jeweilige Leitung?« hakte Laskirow nach.
~~~ »Das wohl. Manche wählen ihre BG gerade nach diesem Gesichtspunkt aus. Aber ich glaube, unbeliebte LeiterInnen gibt es gar nicht mehr bei uns. Die halten sich nicht.«
~~~ Laskirow wandte sich an die Rötliche mit dem Bürstenschnitt, die ihr zufällig gegenübersaß. Dabei winkte sie mit dem Daumen zu Lydia:
~~~ »Wie beliebt ist denn sie?«
~~~ Die Rötliche hob verzückt ihre Brauen, wobei auch ihr hübscher Mund aufging. Dann schob sie sich schlagfertig einen Teelöffel voller Sahne hinein und quetschte hervor:
~~~ »So!«
~~~ Lydia hielt sich die Hand vor ihren Mund und schüttelte ihren Kopf. Sie wirkte ungespielt verlegen. Laskirow nickte ihr mit ermunterndem Lächeln zu.
~~~ Bald darauf verabschiedete sich Laskirow. Russisch wolle sie ja nicht mehr lernen, und Lydia spreche es ausgezeichnet. Sie sei sehr gern hier gewesen. Auf Wiedersehen!
~~~ Allgemeines Fingerknöchelklopfen.
7 Grüße vom Tod
Nach dem Abendbrot in der GO Gymnasium setzte sich Laskirow in die Sofaecke des riesigen Gemeinschaftsraums und überlegte vergeblich und zunehmend mißmutig, wie sie nur ihren fälligen Bericht über das Ümmershänder Bildungswesen abfassen sollte. Was sie bislang darüber wußte, würde ihre Vorgesetzten wohl kaum dazu bewegen, gewisse Fördergelder gleich zu verdoppeln. Und zu allem Unglück saß sie auch noch in einem großen Ziegelgebäude, das einmal das Ümmerstädter Gymnasium gewesen war! Die Leute brauchten es nicht mehr. Sie hatten das Bildungswesen zerkleinert und dadurch anscheinend ziemlich genießbar gemacht.
~~~ Über viele Tische hinweg waren Schemen hinter einer größtenteils verglasten Zwischenwand zu sehen, die geschäftig, gleichwohl gemächlich umherliefen. Das waren die Küchenleute der GO. An einem der Tische hatten sich ein paar Erwachsene mit ein paar Kindern niedergelassen, um sich irgendeinem offenbar fesselnden Brettspiel zu widmen. Hin und wieder klingelte das Wandtelefon, weil das GO-Büro am Abend nicht mehr besetzt war. Ein Radio- oder Musikgerät lief selbstverständlich nicht. Der Riesenraum war eine angenehme Oase. In manchen Zimmern ging es vielleicht heftiger zu. Wie Laskirow wußte, schrieb die Ümmerstädter Verfassung keine bestimmten Wohnformen vor. Alles war erlaubt, sofern es die betreffende GO erlaubte. Im dritten Stock des Gymnasiums hatte sich eine »Kommune« breitgemacht, die auch noch einmal einen, natürlich kleineren, Gemeinschaftsraum besaß. Aber es gab auch eheähnliche Wohngemeinschaften und sogar etliche EigenbrötlerInnen in diesem traditionsreichen Haus. Die GO war ungefähr so groß, wie die vom Gut, 90 Köpfe. Die Außenrätin gehörte der besagten Kommune an, hielt sich heute jedoch in Coburg auf, wo sie anscheinend Verwandte hatte. Sie war mit dem Fahrrad hingereist. Anfahrt über 20 Kilometer, eingeschlossen ein paar Steigungen.
~~~ Fifi hatte Laskirow auf dem Kartoffelacker erklärt, die Frage der Wohnformen sei unter Außenseitern und Aussteigern durchaus umstritten. In der führenden katalanischen Kommune Santa Molinga, bald 100 Leute in einer ehemaligen Abtei, habe man ein Verbot jeglicher Wohngruppen sogar ins Statut geschrieben. Sie war einmal dort gewesen und hatte im Blick darüber berichtet. Man wollte auf diese Weise den verhängnisvollen »Familiengeist«, das Abschotten im »eigenen« Kreis bekämpfen, das ja entsprechend gern zur Abschnürung der benachbarten Horte der Glückseligkeit führe. Deshalb gebe es in der Abtei auch ein ganzes Kinderhaus. Die Kinder lebten nicht bei Mami oder Papi. Gegen die Gefahr, dann also wenigstens, echt patriotisch, den eigenen, größeren Clan, die Abteikommune, zu verehren und mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, hätten sie wieder andere Riegel, wie sie jedenfalls glaubten, grinste Fifi … Die Fotografin und Setzerin war es übrigens auch, die Laskirow auf die offizielle Zuzugsperre für Ümmerstadt aufmerksam machte. Neue GOlerInnen durften hier nur im Tausch gegen alte aus den anderen vier Dörfern aufgenommen werden. Man wolle so die Herausbildung des üblichen Machtzentrums, der nationalen Kultstätte namens »Metropole« verhindern. Ümmerstadt sollte nicht so leicht über 500 EinwohnerInnen kommen, also Dorf unter Dörfern bleiben. Das Rathaus, die Post, die Klinik seien schon genug Belastung für den dezentralen Gedanken. Zum Glück zögen die meisten RepublikanerInnen oder ProbezeitlerInnen aber ohnehin das Landleben vor. Da lagen sie am Busen der Natur und an den Kartoffel- oder Zuckerrübenmieten, grinste Fifi.
~~~ Laskirow ergötzte sich im Nachhinein an der kleinen, drahtigen, nicht gerade vollbusigen Fotografin. Dann ging sie zu dem Brettspieltisch und erkundigte sich, ob man unter Umständen noch einsteigen könnte. Es war möglich. Unterhaltsam war es auch. Gegen Neun bedankte und verabschiedete sich Laskirow und stieg hinauf zu ihrem Gästzimmer. Sie wollte schmökern. Die Zentralheizung (zwei Holzbrenner für Meterscheite im Keller) war noch etwas warm. Sie lümmelte sich in einen Sessel und schlug Nacht über der Prärie auf. Es war ein Roman aus einer US-Indianerreservation, den ihr die Außenrätin ans Herz gelegt hatte. Hopf wiederum hatte ihn aus der Stadtbücherei. Er stammte noch aus dem DDR-Bestand. Der Name der Autorin, Liselotte Welskopf-Henrich, hatte Laskirow peinlicherweise nichts gesagt, aber andererseits, man konnte ja nicht alles kennen. Jedenfalls war ihr schon nach wenigen Seiten klar, das war ein erstklassiges Stück Literatur. So pries sie Hopfs Empfehlung und vertiefte sich in Queenie Tashinas Bemühungen, sich von ihrem Liebhaber Joe alias Stonehorn, einem auf die schiefe Bahn geratenen Häuptlingssohn, nicht unterkriegen zu lassen.
~~~ Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als Laskirow aufhorchte. Jemand rief um Hilfe – nicht schrill, sondern eher unterdrückt. Sie warf Buch und Kissen beiseite und ging zur Tür. Die gestöhnten Rufe drangen aus dem Zimmer von Phil. Jetzt erkannte sie auch Phils Stimme. Sie eilte über den Flur.
~~~ Ein Kissen an sich gepreßt, kniete Phil zusammen-gekrümmt auf seinem Bett. Dabei stöhnte und wimmerte er. Auf die entsprechende Frage keuchte er:
~~~ »Die Brust! Verdammte Krämpfe! Weiß der Teufel, was das ist!« Er wog sich fast wie ein Autist, während er das Kissen zerknüllte.
~~~ »Nach Schweinegrippe sieht das nicht gerade aus«, sagte Laskirow. »Hast du dich vergiftet? Was Falsches gegessen?«
~~~ »Ach woher! Es ist, als hätte ich den Heuberg erklommen … Die Lungen brennen … Man droht zu platzen … So eine Scheiße!«
~~~ Zwischen jedem Satz stöhnte der knapp 60jährige. Laskirow entlockte ihm, es habe vor einer halben Stunde begonnen und sei immer heftiger geworden.
~~~ »Kannst du laufen? Zum Gesundheitszentrum? Ich käme mit.«
~~~ »Ach woher! Ich würde ja schon die Treppe herunterfallen!«
~~~ »Gut«, sagte Laskirow und wandte sich zur Tür, »ich rufe den Krankenwagen.«
~~~ Im Flur prallte sie fast auf Ingeborg. Wahrscheinlich war sie aufmerksam geworden, weil Laskirow Phils Zimmertür offen gelassen hatte. »Ein Anfall!« rief sie, während sie schon den Hörer des Flurtelefons abnahm. »Wo steht die Notfallnummer vom Gesundheitszentrum?«
~~~ »Drei mal drei und die Neun!«
~~~ Keine zwei Minuten und sie vernahmen die Sirene. Zum Glück war Ümmerstadt klein. Die Besatzung des Krankenwagens – eine Frau und ein Mann – trug Zivil, schleppte aber verschiedene Taschen oder Koffer mit in Phils Zimmer. Die Frau schien die federführende Ärztin zu sein. Kaum hatte sie erfragt, was Phil auch schon Laskirow erzählt hatte, bedeutete sie ihrem Begleiter, eine Injektion gegen die Schmerzen fertig zu machen. Sie fragte weiter:
~~~ »Allergien, Phil?«
~~~ »Nicht daß ich wüßte.«
~~~ »Hast du Fieber?«
~~~ »Ich glaube nicht.«
~~~ »Aber du zitterst wie Espenlaub.«
~~~ »Ja«, stöhnte Phil.
~~~ »Du hälst dir den linken Arm. Strahlt der Schmerz in den linken Arm aus?«
~~~ »Ja, verdammt.«
~~~ Die Ärztin und ihr Begleiter, der die Injektion überwachte, sahen sich vielsagend an.
~~~ »Paß auf, Phil: der Schmerz läßt gleich nach. Aber wir müssen dich zur Beobachtung mit in die Klinik nehmen. Es besteht ein Verdacht auf Herzinfarkt. Laß dich davon nicht einschüchtern, wir haben noch Zeit genug. O.K.?«
~~~ Phil nickte, und so rollten sie ihre Bahre aus Segeltuch aus.
~~~ Nachdem sie noch ein paar Worte mit Ingeborg gewechselt hatte, ging Laskirow in ihr Zimmer zurück. Diesmal ließ sie sich ohne Buch in den Sessel sinken. Ihr Vater war neulich seinem zweiten Herzinfarkt erlegen. Ein ländlicher Parteibonze. Phil war kein Bonze gewesen, wie sie wußte, jedoch unermüdlicher Mitarbeiter in der Verwaltung der Molkerei. Man hatte die Molkerei später aufgelöst, weil die meisten Ümmershänder GOs ihre Milcheprodukte selber herstellten. Inzwischen war der quirlige Phil hauptsächlich im Ümmerstädter Depot beschäftigt, das er mit aufgebaut hatte. Er hatte Laskirow schon zum Besuch eingeladen. Die Güterverteilungsstelle lag in einem ehemaligen HO-Wirtshaus mit Kegelbahn. Auf den Eichenplanken rollten jetzt die einachsigen Lochblechwagen der GOlerInnen, in die sie vielleicht Tüten mit Unterwäsche, einen gebrauchten Staubsauger, den Blecherers Sohn repariert hatte, oder Kästen mit Bruhndorfer Birnenmost luden. Das Leben ging weiter.
~~~ Laskirow blinzelte durch die beiden großen Zimmerfenster in die Dunkelheit. Von dem süßen Verdämmern, das sie sich nach dem Duschen versprochen hatte, konnte zunächst keine Rede mehr sein. Das war jetzt eher dem Abtransportierten gewährt. Prüfte Laskirow ihre Empfindung, wurde sie statt vom Mitleid von einer Art Zerknirschung beherrscht. Sie sah den geschlagenen Phil vor sich, wie er sich auf seinem Bette wand. Das Niederschmetternde dürfte darin liegen, diese Demütigung mitansehen zu müssen. Ein Mensch wird jäh zum Spielball ungebetener Kräfte gemacht – und man selber schaut hilflos zu. An diesen Kräfteverhältnissen änderte offenbar auch der Sturz des Kapitalismus nichts.
~~~ Im übrigen, dachte sie nicht ohne Sarkasmus, war sie ziemlich flott schon wieder vom BG-Thema »Technik« eingeholt worden. Die hiesige Klinik war keineswegs riesig und verzichte auf allerlei kostspieligen, in der Regel ungesunden Schnickschnack, den einem in Rußland oder Deutschland die Medizinmafia andrehte, aber mit »Stents«, die man in die verengten, verstopften Herzkranzgefäße einsetzen konnte, schien sie gelegentlich durchaus zu arbeiten. Das war Technik pur. Schon der Krankenwagen durchbrach die in Ümmershand gepflogenen Schranken, zum Beispiel das Autoverbot. Man konnte hingucken, wohin man wollte, immer tat sich ein Grenzproblem auf. War die Ächtung der Hochtechnologie wichtiger oder Phils Leben als womöglich gekrümmt schlurfender Ruheständler?
~~~ Durch ein Glas Rotwein, das ihr Ingeborg gebracht hatte, konnte sich Laskirow allmählich wieder besänftigen und sogar ablenken. Sie griff erneut nach dem Prärieroman. Bis zum Eintreffen Okutes (Seite 308) drang sie natürlich an diesem Abend nicht mehr vor. Der einstige Dakota-Häuptling hat die Reservation angesteuert, um seinem Wahlsohn Stein mit Hörnern alias Joe King, ehemals Gangster, jetzt Rancher, mit seinen Fahr-, Reit- und Schießkünsten beizustehen – und das mit 112 Jahren! Bei Joe beschließt er dann auch sein Leben. Weit entfernt, vom Fahrersitz seines Sportwagens oder vom Rücken seines Mustangs geschossen zu werden, legt er eines schönen Tages seinen Todestag fest, wie wir allerdings erst im zweiten Band der in der DDR erschienenen Pentalogie Das Blut des Adlers erfahren. Er begeht diesen Tag wie alle Tage zuvor; nur gegen Abend wird er müde. Er stirbt friedvoll in den Armen von Queenie King, auch Tashina genannt. Ein gar zu schönes und tröstliches Bild? Wer lange leben will, lebt auch lang?
~~~ Das war ja wohl eher ein schlechter, nicht durchdachter Witz der marxistisch-leninistisch erzogenen Romanautorin. Selbstverständlich wird Kämpfer Okute nur zufällig 112. Denn vorher sind zahlreiche Kugeln, Pfeile, Gifte, Keime, Geschwüre, Verwünschungen sowie Genickbrüche durch Steinschläge oder Autounfälle an ihm vorbeigegangen, die ihn genauso gut hätten treffen können. Auch in der DDR hatten sie ja schon reichlich Autos gehabt. Diese Treffer hat Welskopf-Henrich in ihrer Pentalogie (5 Bände) auf anderes Personal verteilt, darunter etliche Kinder. Die sind dann vielleicht später an einem schnuckeligen Impfstoff verreckt.
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