Sonntag, 19. Januar 2025
AZ 4 Mollowina Zeit der Luchse 2
ziegen, 10:43h
7
Seans Nachbarin auf dem Dachstuhl war eine sehnige Frau um 50, die mal wie eine Dohle, mal wie eine schwarze Katze auf dem Gebälk umherhüpfte. Sie hatte ihn bereits vermehrt mit Seitenblicken bedacht, aber nicht etwa, weil sie mit dem blonden Lockenkopf anzubändeln gedachte. Sie nagelten heute, am ersten vollen Tag der Schweizer im Dorf Noravita, die Dachlatten des neuen Dorfgemein-schaftshauses auf. Die Latthämmer zum Nageln waren recht schwer, obwohl sie auf einer Seite des Hammer-kopfes schnabelförmig zuliefen. Sean trug seinen Hammer, wie jeder hier, fachmännisch in einer Schlaufe am Gürtel, sofern er nicht gerade einen der 10 Zentimeter langen Nägel ein- beziehungsweise krummschlug. Deshalb guckte ja diese Stanca, seine Nachbarin, weil er ein Krummschläger war. Jetzt kam sie zu ihm und meinte nachsichtig:
~~~ »Es geht besser, wenn du den Hammer einfach fallen läßt.«
~~~ Sean schluckte und äugte unter sich, wo gerade ein junger Zimmermann an dem Sägebock schaffte, der auf dem zukünftigen Dachboden stand. Er nickte hinunter und sagte zu Stanca: »Das wird ihm wenig gefallen, wenn ich meinen Hammer einfach fallen lasse!«
~~~ Sie verdrehte die Augen und lächelte. »Ich meine damit, es sei günstiger, den Hammerkopf nicht krampfhaft auf den Nagelkopf zu drücken, wie du es machst, vielmehr locker auf diesen fallen zu lassen.« Dazu sei es freilich erforderlich, den Stiel des Hammers weit hinten zu umfassen, statt den Kopf des Hammers fast zu erwürgen, wie Sean. Der Hammer müsse frei schwingen.
~~~ Ja, aber dann träfe er vorbei! wandte Sean ein.
~~~ »Nein, das tust du nicht – nur, wenn du Angst hast.«
~~~ Sie machte es ihm vor. Mit vier bis sechs federnden Schlägen trieb sie 10er Nägel ein, für die er bislang, sofern er sie nicht gleich krumm schlug, mindestens 20 Schläge brauchte!
~~~ Sie winkte beschwichtigend ab, ehe sie sich wieder zu ihrer Stelle begab. »Die Meister fallen nicht vom Himmel, höchstens vom Dach …«
~~~ Das neue Dorfgemeinschaftshaus war nicht völlig »rund«, wie Redakteur Charly im Rathaus behauptet hatte, sondern zwölfeckig. Nur an der Westseite, wo bis vor kurzem die Ruine der Dorfkirche stand, gab es einen kleinen Anbau, der gleichsam die Bühne des neuen Gebäudes verlängerte. Die Kirche war schon vor der Revolution bei einem Gewitter zerstört worden. Ihre Natursteine fanden sich nun zum Teil in den Grundmauern und Wänden des Neubaus wieder. Er wirkte recht gescheckt, aber gerade das gefiel den Dorfleuten. Selbst die niedrigen, fast unter den Deckenträgern ausgesparten Oberlichter des Zwölfecks saßen nicht wie an der Schnur aufgezogen, sondern taumelten leicht. Der Bau war eingeschossig, wenn auch bis zur Decke knapp fünf Meter hoch. Er hatte im Durchmesser immerhin 18 Meter und sollte rund 600 Sitzplätze bieten. Das mäßig steile Dach lief in der Mitte in einem Türmchen aus, das derzeit noch ungedeckt war. Hier würde demnächst die alte Kirchenglocke schaukeln. Was den Innenausbau anging, schwebte den Noravitalen eine Art gedecktes Griechisches Theater vor. Die Stufen sollten sogar abschlagbar sein, damit die »Käseglocke«, wie der Neubau inzwischen hieß, hin und wieder auch als Tanz- oder Ausstellungssaal verwendet werden konnte. Es war ein ziemlich aufwendiges und auch sonst fragwürdiges Projekt, und die LDV hatte es nur »als Versuchsballon« genehmigt. Bislang kamen regelmäßige Vollversammlungen ganzer Dörfer nicht in Frage: dafür waren die Dörfer der Mollowina, mit 700 oder gar 1.000 Einwohnern, zumindest im Winter schon zu groß. Das begriffen viele jedoch als Nachteil, und man strebte Abhilfe an.
~~~ Am heutigen Feierabend tappte der muskulöse irische Zeichner doch leicht gerädert zur GO Kürbiskern, wo man ihnen einen hübschen Stellplatz zwischen dem Garten der GO und einer großen Wiese überlassen hatte. Der schmale Flecken diente zuweilen als Lagerplatz für Baumstämme. Auf der Wiese grasten ihre Braunen im Verein mit drei Gäulen aus dem Dorf. Günstigerweise wurden Wiese, Garten und Holzplatz von einem Rinnsal durchquert, in das Sean nun gleich seine müden Füße stellte. Offenbar waren aufgenagelte Dachlatten keine Treppe: das Stehen und Balancieren auf ihnen schmerzte mit der Zeit in den ganzen Beinen, quälte die Bandscheiben und machte die Füße schwerer als Blei. Norbert nickte ihm aus dem Wagen aufmunternd zu, ohne sich im Schreiben zu unterbrechen. Die Plane hatte der Schnauzbart an beiden Wagenseiten hochgerollt, und ihre beiden großen Koffer dienten ihm, gestapelt, als Schreibtisch. Er saß an seinem ersten Artikel.
~~~ Am nächsten Tag würde Sean zudem seine Arme bedauern. Er würde erkennen, Dachziegeln haben ihr Gewicht, vor allem, wenn sie, in Kette, »bergauf« geworfen werden mußten. Immerhin winkte ihm für den übernächsten Tag eine beinahe sensationelle Entschädigung. Das wußte er aber noch nicht.
~~~ Sean hatte seine verschwitzte Kleidung ins Rinnsal geworfen und mit einem Stein beschwert. Nun, nachdem er sich selber gesäubert hatte, wusch er auch die Kleidungsstücke. Er nahm es dabei nicht so genau, denn die RepublikanerInnen verfuhren nicht anders, wie die Schweizer inzwischen mitbekommen hatten. Seife oder dergleichen verschmähten sie in diesem Land. Das würde nur Wasser und Erdreich verunreinigen, hatten sie gesagt. Für das eigene Kopfhaar nahmen sie hin und wieder heißes Wasser, sonst aber nicht. Ein paar bleibende Flecke in ihren gewaschenen Hemden und selbst Unterhosen machten ihnen nichts aus. Für Handtücher, Bettwäsche, Vorhänge etwa veranstalteten viele GO's regelmäßig kollektive Waschstunden, die sie gern bis zum Klamauk trieben, damit diese Verrichtung nicht so stumpfsinnig sei. Im Winter sei das Vergnügen allerdings eher gering, das übersähen manche Gäste. Man schiebe die »große Wäsche« möglichst bis zum Frühjahr auf.
~~~ Nachdem er seine ausgewrungenen Sachen über eine Leine geworfen hatte, ging Sean mit Norbert zum Abendbrot. Bei diesem erfuhren sie von einem älteren Kürbiskernler, der ihnen zufällig gegenüber saß, das Türmchen der »Käseglocke« erhielte sogar eine neu angefertigte Wetterfahne. Es stellte sich heraus, der von Bartstoppeln und Narben übersäte Mann fertigte sie derzeit selber an. Er war früher Dorfschmied gewesen – hauptsächlich für den Gutsherrn von Noravita, gegen Hungerlohn. Natürlich habe der Gute nach dem Umsturz rasch das Weite gesucht.
~~~ »Was durfte er denn mitnehmen?« wollte Norbert mit Seans sprachlicher Unterstützung wissen.
~~~ »Na, seine Gräfin, seine Brut, seinen Jagdhund, sein Tafelsilber, sein Bargeld und ein paar wertvolle Möbel, soweit sie auf zwei Fuhrwerke paßten. Mehr nicht.«
~~~ »Bekam er für seinen Hof und die Äcker eine Entschädigung?«
~~~ »Wo denken Sie hin! Dafür hatte die neue Republik kein Geld. Außerdem war es ja sowieso alles gestohlen. Die erben sich ihre Güter oder ganzen Dörfer von Jahrhundert zu Jahrhundert schön zu, aber wo der Segen ursprünglich einmal herkam, danach fragt kein Schwein … Erst der Luchs fragt danach«, grinste er.
~~~ Die Schweizer nickten zwinkernd, während sie ihrem Gegenüber mit ihren Bechern Brunnenwasser zutranken. Dann kam Norbert noch einmal auf die Wetterfahne zurück. Wie sie denn aussehe, was sie darstelle? Von der Nord- und Ostseeküste her kenne er sogar Fische und Schwäne als Kirchenwetterfahnen, aber das sei es ja wohl nicht ..?
~~~ Der Mann hob seine schruntigen Hände leicht vom Tisch und erwiderte stolz wie Oskar: »Selbstverständlich stellt sie einen Luchs dar.«
~~~ Nachdem sie beim Abwasch mitgeholfen hatten, zogen sich die Schweizer, müde wie sie beide waren, zu ihrem Wagenplatz zurück. Sie saßen noch ein Weilchen auf einem verwaisten Baumstamm, der vielleicht, für Bauholz, zu krank oder krumm gewesen war. Es wurde dunkel. Ringsum machten etliche Vögel Musik. Allerdings ließen sich auch ein paar Elstern vernehmen, deren höhnisches Meckern eher an den Genfer See zu Doktor Frankenstein gepaßt hätte.
~~~ »Es heißt, sie seien diebisch«, sagte Sean. »Auch der Gutsherr war ein Räuber. Nur in dieser Republik scheint man sich im Paradies zu wähnen. Man läßt die schwer zu beschaffenden Schloßschrauben und die Bohrwinde mit ausgestelltem Griff zum Kurbeln und erlesen gearbeitetem Bohrfutter übernacht auf der Baustelle liegen, wenn auch in einer regendichten Holztruhe; man schließt in der GO nicht eine Tür ab; ja selbst das Rathaus in Kusmu nicht, wie ich hörte, dabei hängt bei der Bildungsrätin diese Cosette zum Abküssen an der Wand, die unter Hehlern sicherlich einige tausend Franken einbringt. Klaut denn hier keiner? Haben die keine Angst vor Diebstahl?«
~~~ Norbert sah ihn belustigt von der Seite aus an. Sean schien es aber ernst zu meinen. Also stellte Norbert fest: »Die Angst vor Diebstahl dürfte in diesem Land gegenstandslos sein. Es gehört doch sowieso allen alles, von der persönlichen Habe einmal abgesehen. Was sollte da einer stehlen? Klaut aber einer die Schloßschrauben und hantiert mit ihnen in seiner GO, kommen garantiert die Genossen an und sagen: Wo hast du denn diese schönen Schrauben her? Die bringst du mal schön zurück!«
~~~ »Das stimmt«, räumte Sean ein. »Da waltet jene 'soziale Kontrolle', von der Mister Charly auf der Rathaustreppe sprach.«
~~~ »Der Kriegsrat erzählte mir vorgestern am Lagerfeuer sogar, Wilderei in den Grenzwäldern sei äußerst selten. Will sich aber ein Eindringling Cosette aus dem Rathaus unter den Nagel reißen, muß er sich schon sehr gut verkleiden.«
~~~ »Der Kriegsrat …«, murmelte Sean und schüttelte grinsend seine Locken. »Der oberste Turner dieser Republik …«
~~~ »Im übrigen habe ich den Eindruck, unter diesen Leuten hier ist die Habgier, die wir aus unseren Breiten kennen, kaum verwurzelt. Sie finden kein Glück darin, genausoviel, mehr oder wenigstens anderes zu besitzen als der Mitbürger. Ihr wesentlicher Besitz sind wahrscheinlich Eigentümlichkeit, Persönlichkeit, Selbstvertrauen, und wer sollte ihnen die rauben?«
~~~ »Na na na«, sagte Sean. »Jetzt schreibst du aber Zeitung. Du färbst schön!«
~~~ Norbert lächelte. »Ja sicher! Das Häßliche spornt niemanden an.«
~~~ Bald darauf gingen sie zum Wagen, ließen die Plane herab und streckten sich auf den Laken und unter den Bettbezügen aus, die ihnen die Rätin für Auswärtiges aus ihrer GO mitgegeben hatte. Sie könnten ihre Bettwäsche jederzeit bei einer anderen GO gegen frische eintauschen, hatte sie erklärt. Also mußten sie sie nicht unbedingt waschen, auch ein Glück.
8
Sean lud im Erdgeschoß der »Käseglocke« gerade Sägeabfall auf einen Handkarren, man benötigte Platz. Da kam aus dem Dorf ein ihm unbekannter älterer Mann gelaufen und rief schon von der Straße her:
~~~ »Bogdan, Luigi ist krank!«
~~~ Bogdan, ein dürrer, aber biegsamer Lulatsch Anfang 30, war der örtliche Schiedsrat. Er unterhielt sich unweit des Handkarrens gerade mit ein paar Zimmerern oder Tischlern über den Innenausbau. Jetzt unterbrach er sich und fragte den keuchenden Boten:
~~~ »Was hat er denn – Luigi?«
~~~ Wie sich herausstellte, war Luigi ein halbwegs flotter mausgrauer Wallach, den die Noravitaner wechselweise zum Reiten benutzten. Jetzt wälze er sich schon seit bald einer Stunde auf der Koppel herum, schwitze wie ein Wasserfall und finge bereits damit an, sich mit den Hinterhufen in den Bauch zu treten, sagte der Mann. Es sehe nach einer Kolik aus. Doch niemand von allen, die er inzwischen befragt habe, könne sich die Ursache dieses Anfalls erklären. Jedenfalls litte Luigi stark, und sie könnten ihn ja nicht gleich auf Verdacht erschießen – »das einzige Reitpferd im Dorf!«
~~~ Bogdan wrang seine Hände, musterte das schnaufende Gesicht des Botens bekümmert und prüfend zugleich und vergewisserte sich: »Niemand hat eine Idee? Wenigstens irgendeine Arznei ..?«
~~~ Der Mann schüttelte seinen Kopf.
~~~ »Dann muß Raluca her!« knurrte Bogdan finster entschlossen. »Und zwar sofort!«
~~~ »Und wie stellst du dir das vor? Hast du neuerdings ein paar Brieftauben an der Hand? Der Witz bei der Sache ist ja leider, daß Luigi unser einziger halbwegs schneller Gaul ist! Bis da einer auf einem von den zwei anderen oder von den zwei Zugpferden dieser Schweizer auch nur in Kusmu eintrifft, fährt Luigi bereits ins Himmelreich ein. Da braucht der Bote mindestens einen halben Tag.«
~~~ Bis Kusmu waren es ungefähr 25 Kilometer, das wußte Sean. Und bei dem Namen Raluca hatte er sofort die Ohren gespitzt. Die kannte er ja ebenfalls: die schwarzschopfige Zureiterin vom Gestüt, die mit dem Schimmel und der hübschen bunten Weste! Er erinnerte sich, sie war auch Tierärztin.
~~~ »Ja, so ein Mist!« bog sich Bogdan, Hände in den Hosentaschen, hin und her, als habe er die Kolik bereits selber. Er sah hilfeerscheischend in die Runde. »Und was machen wir jetzt ..?«
~~~ Plötzlich hellte sich die Miene eines Zimmerers mittleren Alters auf, ein brauner Krauskopf mit der Schulterbreite von den Oberlichtern, die ringsum unter der Saaldecke saßen. Er nickte hinter sich Richtung Kus und sagte forsch:
~~~ »Wir nehmen den Vierer von den Wieseln! Er liegt ohnehin schon im Wasser, ich habe es vorhin gesehen. Hoffentlich ist er noch da.«
~~~ »Gute Idee, Voicu!« lobte der Schiedsrat mit sichtlicher Erleichterung. »Ihr fliegt da hinunter, das dauert keine zwei Stunden. Natürlich seid ihr dann ebenfalls halbtot. Aber bevor sich Raluca auf ihren feurigsten Araber schwingt, soll sie euch ein Gespann geben. Mit dem fahrt ihr dann in aller Gemütlichkeit mitsamt eurem Kanu wieder nach Hause. Sie kann das Gespann ja später selber zur Rückfahrt benutzen – sie bindet ihren Araber einfach hinten an … Sehe ich alles richtig?«
~~~ »Und wenn Raluca gar nicht da ist, weil sie eine Besorgung zu machen hat?« warf eine Tischlerin ein.
~~~ »Ja, Mensch«, stöhnte der lange Schiedsrat, »das ist Pech! Dann sollen sie die Bimmel des Gestüts läuten, da wird sie schon angelaufen kommen.«
~~~ »Und wenn sie in den Rezoven oder in Burgas ist?«
~~~ »Himmelkreuzdonnerwetter!« knurrte Bogdan ungehalten. »Dann sollen sie die Glocken der Kathedrale läuten … Also, wer fährt ..?«
~~~ Da sich, neben Voicu, auf Anhieb nur zwei weitere Personen meldeten, ein Mann und eine Frau, sah Bogdan mit stechenden Augen weiter in die Runde. Sean witterte seine Chance und überlegte nicht lange. Er sagte lässig:
~~~ »Ich mache mit.«
~~~ »Na also«, rieb sich Bogdan die Hände. »Kannst du mit dem Stechpaddel umgehen?«
~~~ »Gut genug. Auf dem Zürichsee paddeln wir öfter.«
~~~ Bogdan nickte befriedigt. »Sind alle einverstanden? Na prima. Auf gehts!«
~~~ Er wedelte mit dem Handrücken, und die vier Wasserboten trabten zum Kus. Auf dem Weg dort hin holte einer zwei Feldflaschen mit Brunnenwasser aus einem Haus, ein anderer ließ sich in der GO Wiesel die vier Stechpaddel aushändigen. Das Kanu war an einem Bootssteg festgemacht. Sie hockten sich gemäß ihrer Absprache (LinkshänderInnen!) hintereinander hinein und stachen ihre Paddel, jeweils zwei Leute auf jeder Seite, nach Art eines Zickzackstichs in den bräunlich glitzernden Fluß, der in Noravita noch keine fünf Meter breit war. Umso günstiger war hier die Strömung.
9
Raluca machte große Augen, als sie unter den vier Leuten, die vom Kusufer her ins Gestüt keuchten, den blonden Lockenkopf aus der Schweiz erkannte. Sie war gerade mit anderen an einer Kutsche beschäftigt, die einen Radbruch erlitten hatte. Sie richtete sich auf, erwiderte den Gruß der Boten und hörte sich ihre Erklärung an, ohne einstweilen etwas zu sagen. Dem Schweizer zwinkerte sie aber neckisch zu. Sie trug kurze Hosen und eine blauweiß gestreifte Leinenbluse mit Stehbündchen, die Sean vielleicht nur deshalb an die Christliche Seefahrt erinnerte, weil er gerade einen Landesrekord im Kanadier-Vierer aufgestellt hatte. Das behaupteten jedenfalls seine MitstreiterInnen – uhrenlos wie er.
~~~ Als der Bericht geendet hatte, seufzte Raluca tief und überdachte die Lage so geschwind wie sie konnte. Das Türmchen auf dem ehemaligen Herrenhaus – das nun der GO Gestüt des Pferdedorfes als Gemeinschaftshaus diente – hatte sogar eine Uhr. Danach war es schon nach 12. Die Bratkartoffeln, die sich bereits in der Mailuft des gepflasterten Hofes ankündigten, würde sie also verpassen.
~~~ »Na gut«, sagte sie mit einem säuerlichen Lächeln, »ihr habt gewonnen. Ich breche gleich auf.«
~~~ Sie wandte sich zu der fahruntüchtigen Kutsche. »Marian, sei doch so gut, und mache den Genossen ein Gespann mit einem Wagen fertig, wo das Kanu draufpaßt … Selbstverständlich empfiehlt es sich, die Genossen essen erst einmal bei uns, bevor sie starten, sonst kommen sie nicht lebendig in Noravita an.«
~~~ Da Marian nickte, verabschiedete sie sich sogar mit Handschlag von den Boten, was wohl auch einen Glückwunsch darstellen sollte. Als ihr aber Sean seine Hand hinstreckte – schon mit der Miene eines Ritters, der sein Handtuch wirft – ließ sie sie in der Luft hängen und verkniff ihre dunklen Augen.
~~~ »Können Sie zufällig reiten, Mister O'Brien ..?«
~~~ Verdutzt, wie er war, verschlug es Sean erst einmal die Sprache. Immerhin verstand er die Frage, obwohl die Zureiterin lediglich für »Mister« ihr Englisch bemüht hatte. So bejahte er die Frage und fügte auch noch hinzu, in Irland habe er sogar streckenweise ein eigenes Pony besessen.
~~~ Sie lächelte. »Wenn es so ist, kommen Sie mit mir, bitteschön. Sie kriegen einen flotten Araber, der Sie wie auf Flügeln tragen wird. Schließlich kann mir niemand zumuten, allein zu reiten und dabei von Wegelagerern angefallen zu werden oder vor tödlicher Langweile aus meinem Sattel zu kippen.«
~~~ Die meisten Leute um sie herum kicherten, Sean eingeschlossen. Doch Raluca bedeutete ihm bereits mit einem Wink ihres eigensinnigen und offensichtlich nicht völlig unherrischen Kopfes, ihr zu einem langgestreckten Stallgebäude zu folgen. Sie beeilten sich jetzt. Sie sattelten einen Fuchs und einen Schimmel, den Sean bereits flüchtig kannte, und führten die Tiere zur Vortreppe des Haupthauses. Hier verschwand Raluca noch einmal, um ihre Arzttasche, zwei Feldflaschen und etwas Trockenproviant zu holen. Sean kraulte derweil den beiden Pferden die edlen Schädel und schüttelte dabei selber den eigenen Kopf. Nach wenigen Minuten war Raluca wieder da. Sie stiegen auf, verließen den Hof und fielen auf einem Feldweg Richtung Westen sofort in Trab.
~~~ Um es nicht zu verschweigen und nicht in die Länge zu ziehen: Nach einer guten halben Stunde knutschten sich die beiden vom Sattel aus bereits ab, und noch am Abend desselben Tages lagen sie über dem Stall, in dem Raluca den Wallach Luigi behandelt hatte, im Heu.
10
Am nächsten Vormittag, nachdem Raluca noch einmal nach Luigi gesehen hatte, gingen sie gemeinsam zu Norbert auf den Holzplatz. Sie hatten sich einen Regenschirm geliehen, weil es zur Stunde aus bedecktem Himmel leicht nieselte. Das trübte freilich ihre verliebte Stimmung nicht.
~~~ Raluca, schon 41, hatte endlich wieder einmal Feuer gefangen, wenn sie sich auch nicht dazu hinreißen ließ, schwärmerische Wortergüsse von sich zu geben. Das lag ihr nicht. Die Zureiterin war stets kurz angebunden. Der deutlich jüngere Ire war es jetzt vielleicht auch, aber das mißfiel ihm keineswegs.
~~~ Als Norbert durchs Einstiegsloch des Planwagens die zwei eingehakten Personen unter dem Regenschirm des Weges kommen sah, bestätigten sich seine Ahnungen vom Vorabend. Er hatte die Tierärztin beim Abendbrot in der GO Kürbiskern getroffen, wo sie natürlich neben Sean saß. Bei ihrem Patienten Luigi vermutete sie einen Darmverschluß. Er käme wohl wieder auf die Beine. Später hatte Norbert erstmals eine Nacht allein im Planwagen verbracht. Er gönnte es Sean von Herzen.
~~~ Die beiden kletterten in den Wagen. Nach einem kurzen Gesundheitsreport der Tierärztin rückte Sean mit der Sprache heraus. Ob er Raluca in dem Fuhrwerk der PaddlerInnen, die beiden Araber im Schlepp, nach Kusmu begleiten und dort ein paar Tage bleiben könne ..? Dagegen hatte Norbert gar nichts, eher im Gegenteil. Für den Artikel benötige er ebenfalls noch ein paar Tage; er müsse ihn nämlich auch mindestens einen Tag unbesehen liegen lassen, um ihn hinreichend verbessern und ausfeilen zu können. Anschließend müsse er ihn ja sowieso auf dem Rathaus in Kusmu abtippen, vielleicht bei Charly; seine Handschrift könne er den Tribune-Leuten in New York schlecht zumuten. Und dann müsse er die Sendung dem Kurier nach Burgas aushändigen. Kurz und gut, bei dieser Gelegenheit könne er Sean wieder an Bord nehmen. So verblieben sie. Sean packte ein paar Sachen in einen kleinen Rucksack. Raluca warf Norbert noch einen Handkuß durchs Eingangsloch zu, und schon schwankte der Regenschirm von dannen.
~~~ Anderntags war das Wetter wieder schön. Nach dem Mittagessen erlaubte sich Norbert einen Streifzug durchs Dorf, bei dem er auch den Stand der Dinge an und in der neuen »Käseglocke« inspizierte. Man zimmerte hauptsächlich an den abschlagbaren Stufen des Auditoriums. Bogdan war da und erklärte Norbert, man könne sich ja eine gefaltete Strickjacke oder einen Schafspelz unterlegen, wenn einem die gehobelten und später mit Leinöl behandelten Kieferbohlen zum Sitzen zu hart seien. Der Schiedsrat sprach leidlich Englisch. Die Saaldecke wurde von mehreren hölzernen Pfeilern unterstützt, die beim Einbau des Auditoriums ausgespart werden mußten. In der Trennwand zwischen Bühne und Anbau war ein großer gemauerter Ofen eingebaut, mit dem man, laut Bogdan, im Winter notfalls heizen wollte. »Ah ja«, sagte Norbert mit einem Augenzwinkern. »Auf der Bühne thront Häuptling Bogdan, der Versammlungsleiter, mit durchglühtem Rückgrat, während sich die Leute auf den Rängen trotz ihrer gefalteten Strickjacken die Hintern abfrieren. War es so gedacht ..?« Der Glockenstrick von Schiedsrat grinste und zuckte mit den Achseln. »Nichts ist vollkommen, Herr Angerschmied … Aber Sie haben schon recht. Vielleicht findet sich bei der Errichtung des nächsten Dorfgemeinschaftshauses noch eine bessere Lösung.« Dann wollte er wissen, wie dem Journalisten die neue Wetterfahne gefalle. Sie gingen hinaus und sahen zum Türmchen empor.
~~~ »Doch, doch«, sagte Norbert, der sie noch gar nicht bemerkt hatte. »Sie macht sich ausgezeichnet. Wer hat schon einen Luchs auf der Kirche?!«
~~~ Der Luchs vom Dorfschmied sprang nicht gerade geschmeidig wie ein Delphin, aber man sah jedenfalls, was gemeint war. Die stummelschwänzigen Wildkatzen der Sorte Luchs sind kraftvoll und auffallend hochbeinig gebaut. Jetzt fiel Norbert auch die Stadtkirche von Bad Berka in Thüringen wieder ein, wo er als Knabe einmal Verwandte seiner Stiefmutter besucht hatte. Dort konnte der Klerus mit einem springenden Hirsch in der Wetterfahne glänzen. So habe es Herzog Ernst August (um 1730) ausdrücklich gewünscht, bei Strafe des Blattschusses für den zuständigen Propst …
~~~ Norbert wollte sich gerade verabschieden, als sich dem Dorfplatz und der Käseglocke ein Rollstuhl näherte. Er hatte zwei große Vorderräder und ein kleines Hinterrad und wurde, an einer Querstange der hohen Rückenlehne, von einem jüngeren Mann geschoben. Drin saß eine recht rosig wirkende Frau mit braunen Zöpfen, die Norbert auf ungefähr 50 schätzte. Sie hieß Anca. Sie wolle doch einmal »die sensationelle Rampe« prüfen, sagte sie. In der Tat wies der Eingang der Käseglocke, neben ein paar Treppenstufen, eine parallel zur Außenwand verlaufende ansteigende Rampe auf, durch die es Handwagen oder eben Rollstühlen möglich war, ins Erdgeschoß zu fahren, und die beiden Ankömmlinge machten es gleich vor. Dieser Test fiel zur allseitigen Zufriedenheit aus. »Das habt ihr prima gemacht!« sagte Anca und drückte dem Schiedsrat die Hand. Dann tauchte sie mit ihrem Helfer ins Gebäude.
~~~ »Sie war hier Landarbeiterin, wie so viele«, erzählte Bogdan. »Vor rund zwei Jahren hatte sie in ihrer GO – die es inzwischen gab – einen saublöden Unfall. Vom Heuwagen gefallen, wissen Sie ..? Seitdem ist sie vom Becken ab gelähmt und kann nicht mehr laufen. Für Kusmu war es nicht so einfach, den Rollstuhl aufzutreiben, aber es hat sich gelohnt. Sie ist beinahe aufgeblüht. Auf ebenem Boden fährt sie auch schon allein, indem sie um die Reifen greift und zieht. Auf schlammigen Wegen ist das natürlich nicht unbedingt ein Vergnügen. Wahrscheinlich läßt sich auch an den Rollstühlen noch einiges verbessern, wie bei den Heizungen … Ein paar Füchse der Mollowina experimentieren bereits in dieser Richtung, sie denken sogar an eine kleine Manufaktur für Rollstühle und ähnliche Fahrzeuge. Nur das liebe Geld, das liebe Geld ..!«
~~~ »Hätte ihr der Gutsherr ebenfalls einen Rollstuhl besorgt?«
~~~ »Nie und nimmer«, schüttelte Bogdan seinen Kopf. »Nie und nimmer!«
~~~ Norbert nickte und faßte noch einmal nachdenklich die Rampe ins Auge. »Freilich, man sieht auch in Zürich schon Rollstühle. Aber wenn ich es recht überlege, sind unsere Städte, Häuser, Zimmer gar nicht auf sie eingerichtet. Selbst Ihr Rathaus in Kusmu hat keine Rampe, oder sehe ich das falsch?«
~~~ »Es hat einen ebenerdigen Hintereingang. Aber die Innentreppe ist schon happig. Ich habe Anca einmal im Rollstuhl gemeinsam mit Mihail Bak bis ins Obergeschoß getragen, das war kein Kinderspiel. Zu allem Unglück ist Mihail auch noch fast nur halb so groß wie ich, da lag schon der nächste Unfall in der Luft«, beendete er seinen Einwurf – und grinste.
~~~ »Sie haben Humor«, stellte Norbert trocken fest.
~~~ »Ja, sicher!« rieb er sich die Hände. »Diese auf Rollstühle zugeschnittenen Einrichtungen, die Sie in den demokratischen Ländern vermissen, werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Noch zwei, drei größere Kriege und ungefähr eine halbe Million Automobile in jedem Land, dann sind die rollstuhlfahrenden Krüppel in der Mehrheit …«
~~~ Norbert lächelte etwas gequält, grüßte den Schiedsrat mit einer Bewegung der flachen Hand und machte sich auf den Rückweg zum Holzplatz. Sein Manuskript wartete.
~~~ Als er am nächsten Vormittag im »Dunghaus« der KürbiskernlerInnen saß, um Wallach Luigis Darmverschluß bei sich selber vorzubeugen, fiel ihm die Sache mit den Rollstühlen prompt wieder ein. Es war ihm peinlich. Er hatte keine Ahnung, wie halbgelähmte RollstuhlfahrerInnen mit der Zumutung fertig würden, ihre sogenannte Notdurft zu verrichten. Er wußte überhaupt so gut wie nichts von ihnen – von all diesen sogenannten Behinderten oder Eingeschränkten, die sich Gott oder die Natur oder die Zivilisation leisteten. Dabei war er Journalist! Wobei der eigentliche Skandal jedoch, das sollte man nicht vergessen, auf Seiten Gottes oder der Natur oder der Zivilisation lag. Er hatte die Behinderungen oder Einschränkungen schließlich nicht erfunden. Von ihm aus würde es auch ohne sie gehen, sogar besser. Er dachte an Ancas HelferInnen, an ihre ganze GO, und nicht zuletzt an Anca selber. Wieviel Elend, Bürde und Schuldgefühl war da auf engstem Raume nur deshalb versammelt, weil die Zivilisation unbedingt den Heuwagen erfinden mußte!
~~~ Norbert hatte sich heute für eine Klozelle entschieden, die Aussicht auf die Pflanzenklärgrube bot, sofern man durchs Fenster blickte oder die Hintertür aufstehen ließ. In der Grube ergrünte bereits das Schilf, auch einige Sumpfplanzen blühten. Jenseits standen schon wieder Wohngebäude der GO. Die meisten GO's der Republik hatten sich inzwischen von den ungesunden und aufwendig zu betreuenden üblichen Familienplumpsklo-setthäuschen getrennt und dafür mehr oder weniger zentral gelegene Dunghäuser erbaut oder eingerichtet. Das Dunghaus der KürbiskernlerInnen verfügte über acht Klozellen. Zwei davon waren im Augenblick besetzt. Die Zellen boten weder Türen noch Wasserspülung im Sinne des demokratischen Westens. Mann und Frau pinkelten und kackten, im Sitzen, gegen schräg eingebaute rostfreie Bleche, die Tag für Tag eimer- und schwallweise mit dem Abwasser der GO, etwa aus der Küche, bespült wurden. Dafür standen, zum Nachhelfen des Rutschens und zum Säubern der Bleche, zusätzlich Schrubber bereit. Das Ganze wurde durch Rinnen, die Gefälle besaßen, in die Vorgrube draußen geleitet. In ihr sanken die festen Abfallstoffe ab, während die flüssigen in die Pflanzenklärgrube geleitet wurden, wo sie nach und nach versickerten und verrannen. Die Vorgrube wurde regelmäßig ausgeräumt. Ihr Inhalt wanderte per Handwagen in die »Kompostscheune« des Dorfes, wo er zum Trocknen ausgebreitet wurde. Dadurch erhielt man einen Dünger, der nach jeweils ein paar Wochen wieder abgeholt werden konnte, um mit ihm die Gärten und Äcker des Dorfes zu bereichern. Selbstverständlich ließ sich auch dieses System nicht ganz mühelos unterhalten, aber es war ungleich schonender für Mensch und Natur, als die sogenannten Kanalisationen, die Norbert aus Mitteleuropa und Nordamerika kannte. Das hatten jedenfalls Redakteur Charly und mittlerweilen noch ein Dutzend andere RepublikanerInnen behauptet.
~~~ Clara, Norberts Gattin, hätte natürlich mit Zitronengesicht behauptet, solche Dunghäuser und Klärgruben stänken doch wie die Pest. Aber das stimmte nicht. Der Gestank auf den Plumpsklosetts des Stockstädter Gutshofs war übler gewesen. Seine Stiefmutter, die Gutsherrin, hatte freilich über ein WC verfügt. Als sie, nach dem tödlichen Unfall seiner leiblichen Mutter, seinen Vater heiratete, den Pferdeknecht, besaßen auch dieser und sein Söhnchen plötzlich ein WC. Allerdings hatte sich diese Ehe schon seit längerem zart angebahnt. Er selber konnte sich nicht beklagen. Die Gutsherrin war keine neurotische Furie gewesen, und sein Vater hatte ihn immer anständig behandelt, ob über den Pferdeställen oder im Herrenhaus. Norbert hatte mit seinem Schicksal wohl erheblich mehr Glück als die Landarbeiterin Anca mit dem ihrigen gehabt.
~~~ Seine Gattin hatte übrigens Kunstgeschichte studiert, bekleidete einen leitenden Posten in einem Züricher Museum und trat zudem mit schlauen Büchern hervor. In solch einem Dunghaus hätte sie sicherlich auch mit dem »Mangel an Intimität« Probleme gehabt. Ihm machte er wenig aus. Eher schauderte es ihn bei dem Gedanken, hier im Winter, mit nacktem Hintern, bei Temperaturen zwischen sieben und zwei Grad plus zu sitzen. Selbstverständlich war das Dunghaus nicht beheizbar. Aber die Leute hier waren abgehärtet, das hatte er schon hinten und vorne bemerkt.
~~~ Norbert säuberte sich mit ein paar Fitzeln zerknüllten Zeitungspapieres, zog sich wieder an und wusch sich die Hände in einer kleinen Schüssel, die draußen neben der Regentonne des Dunghauses auf einem alten Hackklotz stand. Den Inhalt der Schüssel konnte er gleich wieder in das von ihm benutzte Kloloch schleudern, zwecks Überprüfung des ganzen Systems. Auf den Kopf gefallen waren die Hiesigen ja wirklich nicht. Das kostenlose bedruckte Zeitungspapier brachte man bei entsprechenden Transportfahrten regelmäßig aus Burgas in ganzen Stapeln mit. Auch die Amsel, die im Augenblick auf dem Dachfirst des Dunghauses flötete, verlangte kein Honorar. Im Winter würde sie sich aufplustern und den Schnabel halten. Doch Norbert war Journalist.
11
Norbert war mit seinem ersten Bericht aus der Freien Republik Mollowina zufrieden. Morgen früh wollte er nach Kusmu zurückfahren, ohne nennenswerte Pausen einzulegen. Er hatte es plötzlich eilig, seine Mitteilungen und Einsichten auf den Weg und an die Tribune-LeserInnen zu bringen. Beim Abendbrot wurde er passend vom Dorfschmied zu einer entspannenden Partie Boccia aufgefordert. Unter den Linden neben der Käseglocke hatten sich rund ein Dutzend DörflerInnen eingefunden; manche sahen nur zu. Die Bahn war bereits gefegt. Schiedsrat Bogdan war auch mit von der Partie, und bei seiner Biegsamkeit nahm es kaum Wunder, wenn er sich als Meister in dem Geschäft entpuppte, von der Fußlinie aus gegnerische Wurfkugeln durch die eigene Wurfkugel aus der Nähe des zwei oder drei Pferdelängen entfernten »Ziesels« zu scheuchen. So nannten sie hier die kleine rote Zielkugel. Das Erdhörnchen Ziesel, meistens braun oder grau gefärbt, kam in manchen flachen Landesteilen der Republik vor, wo es mit seinen Schlupflöchern gelegentlich für verstauchte Pferdefüße sorgte. Das Boccia war Norbert immerhin aus Südfrankreich und der französischen Schweiz bekannt. Aller restlicher »Sport«, den man im alten Athen getrieben hatte oder in den neuen Industrienationen pflog, wurde in der Mollowina verschmäht. Das Meidunische bot weder ein Wort für »Sport« noch ein Wort für »Fußball«, wie Norbert von Bogdan erfuhr. Ein Wort für »Pferdrennen« hatte es, aber in der Republik veranstaltete man keine Pferderennen. Die Pferde hatten auch ohnedem genug zu tun.
~~~ Als Norbert am nächsten Vormittag das Dorf Duhn passierte, war der Raps verblüht. Dafür erspähte er an der Anhöhe mit dem Steinbruch, wo sie Manöver abgehalten hatten, größere Flecken von etwas wärmerem Gelb. Sie blinkten unterhalb eines Hainbuchengehölzes im Gras auf. Ein Blick durch Seans Feldstecher bestätigte ihm, der Hang war von Schlüsselblumen übersät. Es waren Blumen seiner Kindheit – Guntersblum, Donnersberg, Odenwald und so weiter – und seine Kindheit war vorbei. Der unschöne Gedanke ans Altern überfiel ihn ziemlich jäh. Statistisch gesehen, hatte er längst den Zenit seines Lebens überschritten, und viel geleistet hatte er noch nicht. Prompt feuerte er gleich die Braunen an, beim Traben nicht einzuschlafen, sondern sich gefälligst ein bißchen zu beeilen.
~~~ Als das Pferdedorf in Sicht kam, war es fast eins. Das Bimmeltürmchen des Gestüts wies ihm den Weg. Wie sich zeigte, kam er genau richtig zum Mittagessen, aber Sean und Raluca waren nicht da. Sie hülfen einem Nachbardorf mit einem Fuhrwerk bei der Heuernte aus. Norbert aß; dann führte er die Braunen auf die Koppel, hängte einen Zettel »Bin im Rathaus!« an den Planwagen und schwang sich auf ein Fahrrad, das man ihm geliehen hatte. Die letzten Meter zum Marktplatz hinauf schob er allerdings. Es war, inzwischen Anfang Juni, recht warm, und er wollte Charly keinen verschwitzten Kollegen zumuten.
~~~ Aber auch Charly war außer Haus. Dafür traf er in der Kurier-Redaktion eine freundliche, noch ziemlich junge, ja sogar verdammt hübsche Kollegin an, Evelina mit Namen. Sie lud ihn auf den freien Stuhl vor Charlys prächtiger Adler-Schreibmaschine ein und erkundigte sich nach weiteren Wünschen. Die behielt er lieber für sich.
~~~ Zum Glück war die Schreibmaschine auf westliche Sprachen eingerichtet, also auch Englisch. Als er nach mehreren Stunden fertig war, legte er das Manuskript und einen Zettel mit der Anschrift der Tribune und des Absenders (»Norbert Angerschmied, z. Zt. Rathaus Kusmu, Mollowina«) in den Korb, den ihm Evelina gezeigt hatte. Sie war inzwischen verschwunden. Sie hatte ihm versprochen, sich um die geeignete und rasche Absendung der Botschaft zu kümmern. Ferner hatte sie ihn auf ein Konzert aufmerksam gemacht, das um 20 Uhr in der Kathedrale gegeben würde. Solche Veranstaltungen hätten ja in der Mollowina grundsätzlich Seltenheitswert, und da heute abend Mara Voitec singe und spiele, könne sie ihm den Besuch nur dringend ans Herz legen. Norbert hatte ihr für den Fingerzeig gedankt. Jetzt war es nach fünf, Charly oder sonst ein »hohes Tier« war noch nicht aufgetaucht, und Norbert überlegte, was er tun solle. Da klopfte es.
~~~ Es war Sean. Sie umarmten sich beinahe ungestüm und versicherten sich gegenseitig, wie gut sie aussähen. Dann erwähnte Norbert das Konzert: ob Sean mitkäme? Selbstverständlich, Raluca käme ebenfalls. Also hatten sie noch Zeit. Sie nahmen einstweilen auf den Redaktionsstühlen Platz, tranken sich mit Brunnenwasser zu und tauschten ihre wichtigsten jüngsten Erlebnisse aus.
~~~ Von Ralucas Feuer in Liebesdingen einmal abgesehen, zeigte sich Sean vor allem von ihren Schießkünsten beeindruckt. Sie habe sich mit einigen anderen Frauen ihrer GO häufige Zielübungen verordnet, und daran hatte Sean schon zweimal teilgenommen. Er sei klar der schwächste Schütze in dieser Gruppe, ganz im Gegensatz zu Raluca, die von drei getrockneten, mit Sand gefüllten Flaschenkürbissen, die einer in die Luft werfe, zwei zu treffen pflege.
~~~ Norbert heuchelte guten Glauben. Er seinerseits schilderte vor allem die Baufortschritte an und in der Käseglocke von Noravita und seine dortige Begegnung mit der Rollstuhlfahrerin. Als sich Sean auch nach seinem Artikel erkundigte, nickte er und klopfte befriedigt auf das Manuskript im Postkorb:
~~~ »Geschafft! Er geht schon morgen nach Burgas.«
~~~ Sean gratulierte ihm und kramte kurz in dem Korb. Als er wieder saß, legte er die Stirn in Falten und fragte Norbert lauernd: »Und sonst? Kein weiterer Brief von Angerschmied ins Ausland ..?«
~~~ »Was willst du damit sagen ..?«
~~~ »Man könnte ja vielleicht der lieben Gattin einen Gruß schicken ..!«
~~~ »Puh!« erwiderte Norbert ertappt und erschreckt. »Das hätte ich fast verschwitzt! Vielen Dank, daß du mich daran erinnert hast. Ich werde gleich ein Briefchen fertigmachen.«
~~~ Während sich Sean einen grinste und Norbert kurzentschlossen die freie Rückseite eines Programmzettels des heutigen Konzertes bekritzelte, ging die Zimmertür auf. Diesmal war es Charly. Der dicke Redakteur erstrahlte über beide Wangen und Tränensäcke und ließ sich über das Befinden der Gäste und die Lage ins Bild setzen. Ja, sicher, da gehe er auch hin, erwiderte er auf die entsprechende Frage von Norbert. Er meinte das Konzert. Es empfehle sich nur, vorher noch tüchtig Abendbrot zu essen, denn in der Kathedrale sei es selbst im Sommer recht kühl. So einigten sie sich, gemeinsam zu Charlys GO aufzubrechen, die ja in geringer Entfernung oberhalb der Kathedrale lag.
12
Mara Voitec hatte kurz vor der Revolution ihr Musikstudium in Sofia abgeschlossen und von daher noch gute Verbindungen, sodaß sie beispielsweise an Noten, Musikinstrumente oder Kollegen für gelegentliche Gastspiele in der neuen Republik herankam. Sie gehörte einer GO im Mühldorf an. Sie leitete einen gemischten Chor, an dem sich Leute aus ganz Kusmu beteiligten, und gab hier und dort allerlei Musikunterricht. Ihre größte Leidenschaft nach dem Singen und Blasen sei das Schwimmen, erzählte Charly. Sie schwimme wie ein Fisch. Von alledem komme natürlich in ihrer GO kein Brot und kein Brathering auf den Tisch, von den Eiern des Schwarzmeer-Störs, Kaviar genannt, ganz zu schweigen, sodaß sie in der GO tatkräftig mitarbeite wie jeder andere Genosse auch.
~~~ Man kann diese blumigen Bemerkungen des Kurier-Redakteurs nutzen, um im Vorübergehen die Gepflogenheiten der Arbeitsverteilung in den GO's zu behandeln. Davon hatten die Schweizer inzwischen schon einiges mitbekommen. Im Groben wurde die Arbeitsverteilung auf der wöchentlichen Vollversammlung der GO geregelt, sofern sie sich nicht von selbst verstand. Da diese Planung aber häufig von Notfällen, vom Wetter, ja selbst von persönlichen Stimmungen oder Wünschen durchkreuzt wurde, sprachen sich die Leute fast überall auch noch einmal täglich nach dem Frühstück ab. Dazu benötigten sie selten mehr als 10 Minuten. WortführerIn war dabei die Person, die das jeweils jüngste Plenum der GO geleitet hatte. Die Plenumsleitung wechselte stets nach dem Alphabet, weil man, so wie Berufspianisten, auch keine professionellen WortführerInnen haben wollte. Selbstverständlich waren die GO's bei ihren Vollversammlungen und Frühstücksrunden selten wirklich vollständig. Leute machten Besuche, Leute waren krank, Leute lagen noch in den Windeln oder schlurften als Greise in ein Bibelkränzchen. Waren sie aber derart nicht verhindert, wurde ihre Teilnahme »erwartet«, wie es in der Republikverfassung diplomatisch hieß. Die Peitsche, die sie unter Umständen aufs Plenum trieb, war die schon früher von Charly angeführte »soziale Kontrolle«. Müssen mußte niemand. Er konnte das Plenum jederzeit schwänzen wie unsereins die Schule oder gleich ins Königreich Bulgarien auswandern.
~~~ Kurz vor acht war die dämmrige Kathedrale schon recht belebt. Zu ihrer Verblüffung hatte Charly die Schweizer im Vorraum gebeten, ihre Schuhe auszuziehen. In der Tat waren dort bereits Unmengen von Schuhen in lange mannshohe Regale gestopft. Drinnen erklärte sich das Verfahren: die Kathedrale war mit zahlreichen Teppichen ausgelegt, auf denen die Leute saßen oder lagerten. Viele saßen im Schneider- oder besser Yogasitz. Irgendein Gestühl gab es nicht.
~~~ »Ich dachte, die Türken seien schon abgezogen?« wandte sich Norbert an Charly.
~~~ »Das schon«, grinste Charly, »aber die Teppiche ließen sie liegen!«
~~~ Er erklärte Näheres, nachdem sie zu Boden gegangen waren und sich auch Raluca zu ihnen gesellt hatte. Wenige Tage nach dem Umsturz hätten sie dem Sultan angeboten, die zur Moschee umgeweihte Kathedrale wieder offiziell zu entwidmen, damit weder Allah noch Yahweh Grund zum Zürnen hätten. Das habe er sogar angenommen. Bald darauf sei ein Imam mit einer Kutsche erschienen, der die Zeremonie vorgenommen und auf dem Huf wieder kehrt gemacht habe. »Er hatte zwei Bedienstete dabei, aber die waren wohl zu faul, die Teppiche einzurollen und auf die Kutsche zu packen. Nun haben wir den Salat«, rührte Charly mit einem Finger in den pflanzenartigen Ornamenten des allerdings verblichenen Teppichs, auf dem er saß. »Es gab wiederholt Vorschläge, den Innenraum umzugestalten, etwa durch Großeinkauf von gebrauchten Feldfaltschemeln bei der russischen Armee oder nach Art des neuen 'Griechischen Theaters' in Noravita, aber stets kamen Einwände. Ein Konsens ist bis zur Stunde nicht in Sicht.«
~~~ Norbert schüttelte belustigt seinen Kopf, dann nickte er zum Vorraum. »Diese Schuh-Masse dort draußen, das wäre ein gefundenes Fressen für Gaukler wie unseren niedersächsischen Till Eulenspiegel. Er verkündet, er könne mit allen Schuhen seiltanzen, läßt sich alle von den ungläubigen GafferInnen aushändigen, packt die ganzen fremden Schuhe in einen riesigen Sack, schultert diesen, klettert auf das über den Marktplatz gespannte Seil, tanzt zur Mitte und leert dort den Sack, sodaß sich in der Marktmitte ein Schuhberg erhebt. Schon stürzen sich die strümpfigen Leute darauf und hauen sich gegenseitig beim Wühlen nach ihren Schuhen windelweich.«
~~~ Während Raluca lachte, spielte Charly mit winkendem Zeigefinger den Entrüsteten: »Wir sind ein friedfertiges Volk!«
~~~ Fast im selben Atemzug kippte er seinen Zeigefinger in die Waagrechte und deutete auf einen schlanken Mann mittlerer Größe, der auf sie zukam: »Na, was sage ich? Da kommt auch schon unser großer Feldherr ..!«
~~~ Es war Landes-Schiedsrat Mihail Bak, 42 Jahre alt. Die Schweizer kannten Fotografien, die ihn zeigten. Man konnte ihn jünger schätzen. Der Schnauzbart von den Fotos war inzwischen verschwunden. Bak trug sein glänzendes, volles schwarzes Haar zurückgekämmt. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht mit eher schmalen Augenschlitzen unter buschigen Brauen, ohne dadurch streng zu wirken. Er bewegte sich beinahe behutsam und blickte aus seinen dunklen Augen keineswegs stechend wie ein Feldherr, eher zurückhaltend wie ein grüblerisch veranlagter Gymnasiast, der vermeiden möchte, jemanden zu verletzen.
~~~ »Hallo, Mihail«, sagte Charly und deutete mit Handbewegungen zur Seite auf Norbert und Sean, die den dicken Redakteur flankierten: »Die Herren Angerschmied und O'Brien aus der Schweiz. Wird ja Zeit, daß du sie mal kennenlernst.«
~~~ Bak nickte freundlich und gab ihnen die Hand. »Ich hoffe, Sie haben bislang keinen Grund zur Klage ..?« Dabei ließ er sich in einer Lücke neben Raluca auf dem Teppich nieder. Prompt strich ihm die Zureiterin zärtlich den Arm, was er mit einem Kuß auf ihren heute stehbündchenfreien Hals erwiderte. Das schien Sean aber nicht zu alarmieren.
~~~ Baks Erkundigung bejahten die Schweizer. Er sprach gut Englisch und hatte eine unauffällige Stimme. Auf weitere entsprechenden Fragen teilten sie ihm einige Reiseeindrücke mit und erwähnten den Postkorb in der Kurier-Redaktion, in dem mittlerweilen Norberts erster Bericht liege. Unterdessen hatten sich in der erhöhten großen Nische, wo einst der Altar, nun aber ein Flügel stand, bereits die drei MusikerInnen des Abends zu schaffen gemacht – auch sie auf Strümpfen oder in Hausschuhen. Der kuppelgekrönte Hauptraum der Kathedrale faßte ungefähr 600 Personen. Heute war er gut gefüllt. Als Mara Voitec an die Rampe trat und mit ihrer Trompete eine Art Signal gab, verebbte das mit Gelächter durchsetzte Murmeln im Saal. Offenbar ging es gleich los.
~~~ Ihr kastanienbraunes Haar trug sie kurz, wodurch ihre lustigen Sommersprossen zur Geltung kamen. War sie ein Fisch, wie Charly gesagt hatte, dann nur ein Moderlieschen. Oder nur »ein Strich in der Landschaft«, wie man bei Norbert im Hessischen Ried geunkt hatte. Sie war schlank wie eine Altarkerze und nicht viel größer als diese. Sie bewegte sich jedoch mit großer Anmut, und wo sie ihre glutvolle Stimme und die Planwagen voll Luft für ihre Blasinstrumente hernahm, war ein medizinisches Rätsel.
~~~ »Wir freuen uns über euer zahlreiches Erscheinen«, begann Mara. »Die Namen meiner ausländischen Kollegen kennt ihr, und auch das Programm. Der Franzose Gabriel Fauré ist ohne Zweifel ein bemerkenswerter Komponist. Alexandru« – der Mann am Flügel – »hat die noch fast druckfrischen Lieder von Fauré besorgt und ein wenig auf unsere heutige Besetzung zugeschnitten. Ich würde auch gern einmal etwas von Fanny Hensel oder Johannes Brahms singen oder vom Kusmuer Chor singen lassen, aber was soll ich sagen« – sie deutete durch den Saal – »kein Schwanz hier kann ein Wort Deutsch, mich eingeschlossen. Doch ich lüge! Bei Charly seht ihr unsere gegenwärtigen Gäste aus der Schweiz, die Herren Norbert Angerschmied und Sean O'Brien. Applaus bitte.«
~~~ Überrumpelt, winkten die Schweizer grüßend und dankend etwas linkisch mit je einer gespreizten Hand ins klatschende Publikum. Charly gluckste in sich hinein; er hatte diesen Applaus schließlich eingefädelt.
~~~ Die dunkelblonde Frau am Cello hieß Libuše, eine Tschechin. Alle drei waren um 30. Mara sang los, und zwar mal zum Steinerweichen, mal zum Kichern. Zwischendurch griff sie gelegentlich zu Trompete oder Saxophon. Ihre »Bühnenpräsenz«, wie sie dazu in Berlin oder Budapest sagten, war umwerfend. Dazu kam noch das Französisch der Liedtexte, das ja schon von sich aus Lyrik war. Sie beherrschte diese Sprache perfekt, wie sich Charly und Norbert flüsternd gegenseitig versicherten. Damit waren die beiden Journalisten der Anzüglichkeit enthoben, auch Maras hinreißendes Sichwiegen in den schmalen Hüften und ihre mädchenhaften Brüstchen zu loben, die ihr helles Hemd fast durchbohrten.
~~~ Der letzte Programmpunkt war ein textloses, auf die Kusmuer Besetzung umgeschriebenes »Divertimento für Streicher« von einem gewissen Leó Weiner. Der junge Ungar studierte an der Budapester Akademie, wo Pianist Alexandru inzwischen Dozent war. Libuše studierte noch in Sofia. Alexandru hatte sich die aufwendige Anreise geleistet, weil er neugierig auf die Republik Mollowina, zudem erholungsbedürftig war. Die beiden waren bereits vor einer knappen Woche in Kusmu eingetroffen. Was Weiner anging, war ihm mit dem rund 10minütigen Stück ein glänzender Wurf gelungen. Den flotten zweiten Satz hatte Bearbeiter Alexandru »Fuchstanz« getauft. Hier machten sich wieder Maras zwei Blechinstrumente gut. Gegen Ende schlug das Stück sogar Purzelbäume. Die Leute in der Kathedrale gerieten fast aus dem Häuschen. Mancher hätte vermutlich auch gern getanzt, aber dann hätten sich wohl zu viele Staubwolken aus den Teppichen erhoben. Im übrigen war es damals noch ungewohnt und streckenweise schockierend, wenn eine Frau in eine Trompete oder in ein Saxophon blies. Auch die Gäste aus Zürich hatten bislang noch keine erlebt.
~~~ Kaum war Weiners Divertimento verklungen und damit das Konzert, nach gut einer Stunde, beendet, fingen die ersten Leute an zu rufen, wo denn das Lied der Mollowina bleibe. »Das war ja zu erwarten«, sagte Charly. Also ließen sich die MusikerInnen breitschlagen, das offensichtlich beliebte Lied als Zugabe zu Gehör zu bringen. Die Schweizer waren stark beeindruckt von diesem schlichten, gleichwohl pfiffigen Stück. Die Landessprache war für dergleichen ideal. Die Leute auf dem dämmrigen Teppichgrund hatten leuchtende Augen, und manche von ihnen sangen die dritte Strophe, die lediglich die erste wiederholte, leise mit. Dann stürmischer Beifall; die KünstlerInnen verbeugten sich brav; der Sturm auf die Schuhe begann.
~~~ Der Marktplatz lag schon fast im Dunkeln. Viele KonzertbesucherInnen gingen zuerst zum Brunnen, um etwas zu trinken. Er wurde von einem auf der Anhöhe entspringenden Quellbach gespeist, dem das Städtchen Kusmu seine Gründung und Existenz verdankte. Die ausländischen Gäste setzten sich mit Mara, Bak und Charly in einen Pulk von Leuten, die sich, statt heimzugehen, auf der Rathaustreppe niedergelassen hatten, die von der eben untergegangenen Sonne deutlich mehr erwärmt worden war als die Treppe der Kathedrale. Hier erfuhren die Schweizer Näheres von dem Lied der Mollowina, den Musikern des Abends – und von Bak. Das Lied stammte von Mara selber, wenn auch Bak, so Charly, beim Text ein wenig »Geburtshilfe« geleistet haben dürfte. Sie wußten schon, der dicke Redakteur stichelte gern. Bak schmunzelte nur dazu. Im übrigen war klar wie Kloßbrühe, daß der Landes-Schiedsrat zur Genossin Mara ein besonders inniges Verhältnis hatte. Sie hatte ihn am Brunnen herzhaft umhalst, und jetzt hockte sie rücklings zwischen seinen Beinen. Raluca war aber auch noch da. Sean hatte Norbert bereits in der Kathedrale zugeflüstert, seine neue Flamme vom Kusufer sei eine wichtige Verflossene Baks. Norbert hatte es sich schon fast gedacht.
~~~ Auch Alexandru und Libuše sprachen recht gut Englisch. Sie rühmten ihre Zusammenarbeit mit Mara und erzählten ein wenig aus ihrem jeweils großstädtischen Alltag. Für einen musisch veranlagten Menschen werde die lärmende Betriebsamkeit moderner Städte wie Budapest und Sofia allmählich unerträglich. Bei dieser Gelegenheit erfuhren die Schweizer – und mit ihnen Redakteur Charly – vor wenigen Wochen, am 1. Mai, sei der Komponist Antonin Dvorak gestorben, bekanntlich ein Landsmann von der Böhmin Libuše, der Frau am Cello. Prompt nahm sich Charly vor, seinen Bericht vom heutigen Konzert zu einem Grundsatzartikel über Fragen der Musik auszuweiten. Er gedachte darin unter anderem gegen das westliche Virtuosentum zu Felde zu ziehen. Das verriet er aber einstweilen Alexandru und Libuše nicht; es hätte womöglich einen Mißklang in den gegenwärtigen Abendfrieden gemischt.
~~~ Norbert verstand wenig von Musik. Ihm war stattdessen Baks eindrucksvolle Ansprache Wer sind die Feinde des Menschen? – und in diesem Zusammehang die Rampe für Rollstühle eingefallen, die die Rathaustreppe bislang vermissen ließ. Jetzt beglückwünschte er Bak zu diesem Text. Dann erzählte er ihm von seiner kurzen Begegnung mit Rollstuhlfahrerin Anca aus Noravita. Dazu nickte Bak, der die ehemalige Landarbeiterin flüchtig kannte, durchaus teilnahmsvoll. Er schwieg eine Weile und fragte dann Norbert etwas unvermittelt, ob er wisse, wer ihn zu jener Ansprache angeregt habe? Nun, Verteidigungsrat Miron Maurer hatte es am Lagerfeuer in Duhn zwar erwähnt, aber Norbert hatte es vergessen.
~~~ »Es war die kleine Constantina aus unserem Gebirgsdorf Husi. Das Dorf liegt in der Nähe der Schwarzmeerküste in den Rezoven. Ich hatte dort zu tun. Plötzlich stand dieses behinderte Mädchen vor mir und begrüßte mich und mein Pferd erfreut, als wären wir alte Genossen von ihr. Später sah ich sie freilich auch schmollen und weinen. Sie müßte jetzt fünf oder sechs sein – aber sie ist eben, in leiblicher wie geistiger Hinsicht, in vielen Dingen 'zurückgeblieben'. Sie leidet von Geburt an unter 'Mongolismus', wie die Ärzte im Westen meist dazu sagen. Unsere eigenen Ärzte nennen es 'Down-Syndrom', nach dem erst kürzlich verstorbenen Beschreiber dieser Behinderung, und daran tun sie recht, denn was können die Mongolen dafür, wenn in Mitteleuropa zuweilen Kinder auftreten, die schrägstehende, oft verengte Augen, ein etwas verquollen wirkendes Gesicht, einen in der Regel unbeholfenen Gang, eine Immunschwäche, häufig einen Herzfehler, im übrigen sogenannte Sprach-, Denk- und Lernschwierigkeiten haben?«
~~~ Norbert nickte. Er erinnerte sich dunkel, in Mitteleuropa gelegentlich solche Wesen gesehen zu haben, obwohl sie dort meistens unter Verschluß gehalten wurden, schamhaft versteckt. Er fragte den Schiedsrat:
~~~ »Wie kommt es zu dieser Behinderung? Ist sie unausweichlich?«
~~~ »Man hat die genaue Ursache noch nicht herausgefunden. Vielleicht ein Fehler in den Chromosomen. Man kann natürlich einiges dagegen tun, aber man kann sie nicht heilen oder ausmerzen, und die Betroffenen werden selten nennenswert alt. Sie sterben oft schon als Kinder.«
~~~ »Und wie geht es Constantina jetzt?«
~~~ Bak wirkte etwas verlegen. »Das könnte ich im Augenblick nicht genau sagen. Ich habe einfach zu viel am Hals, verdammt … Aber wissen Sie was? Fahren Sie doch einfach mal hin! Sie haben mehr Zeit als ich. Erkundigen sie sich und erstatten Sie mir Bericht. Constantina würde sich jede Wette freuen, und ihrer Mutter, sie heißt Veta, und dem ganzen Gebirgsdorf könnte etwas mehr Aufmerksamkeit auch nicht schaden …«
Auf der Leon-Platte klingt Maras Glanzstück wie folgt: lied der mollowina 2 (mp3, 2,621 KB) .
13
Der ansteigende Fahrweg zum Gebirgsdorf Husi war ungepflastert. Nur fleckenweise von ungeschlachten, oft spitzen Steinen durchsetzt, verwandelte sich sein lehmiger Boden nach einem Unwetter vermutlich in ein Schlammbad. Dann wären ihre Braunen gut getarnt gewesen. Im Wald taten die Wurzeln von Ahorn, Fichte, Eiche oder echten Tannen das Ihre dazu, den Fahrweg mit Fußangeln zu versehen. Im Freien wurde er von blühendem Ginster oder von Heckenrosen gesäumt, die ihre dickfelligen Braunen mit Dornen kitzelten. Eine Seilbahn wäre für die HusianerInnen vielleicht nicht das Schlechteste gewesen. Oder wenigstens eine Seilwinde für ihre Fuhrwerke. Aber ohne Strom oder Benzin? Nur mit einem Göpelantrieb auf dem Dorfplatz, wo dann die armen Gäule, statt die Wagen zu ziehen, wie preußische Sträflinge im Kreis zu trotten hatten? Es war ohnehin erstaunlich, daß sich das Wildpferd vor einigen tausend Jahren dazu herbeigelassen hatte, sich ausgerechnet einem zweibeinigen Zwerg zu unterwerfen, den es mit einem Huftritt auf den Kilimandscharo hätte befördern können.
~~~ Gleich an einem der ersten Häuser der halbwegs eben verlaufenden Dorfstraße, nun gepflastert, waren ein paar Leute damit beschäftigt, ein neues Fenster einzusetzen. Sean stellte sich und seinen Bocknachbarn Norbert vor und erkundigte sich, wo sie Constantina fänden, die blutjunge Freundin von Landes-Schiedsrat Mihail Bak? Die Leute lachten. Sie waren sofort von dem überraschenden Besuch angetan, wie Bak es vorausgesagt hatte. Sie beschrieben die Haupteinfahrt der GO Schlangenadler, wo man sicherlich wisse, wo Constantina gerade stecke.
~~~ Es war nicht weit. Auf einem dem Dorfplateau abgerungenen langgestreckten Hof, der von etlichen, durchweg niedrigen Häusern umlagert war, brachten sie ihren deutlich gekennzeichneten Planwagen unter einem mächtigen Kastanienbaum zum Stehen. Laut Dorfkirchenglocke war es kurz nach drei – nachmittags. Schon traten hier und dort Leute aus den Türen, auch ein paar Kinder. Eins davon, ein Mädchen mit blonden Fransen, wagte sich gleich neugierig und ohne Scheu zu ihnen vor. Es konnte nur Constantina sein, wie bereits der etwas wankende Schritt verriet. Sie musterte erfreut das Republikwappen auf der Plane und die beiden schnaubenden gemütlichen Braunen. Dann nickte sie und krähte:
~~~ »Schön Wag, schön Wag! Und schön Perd! … Zwei Perd!« ergänzte sie sogar begeistert und nickte erneut.
~~~ Dann ging sie zum links eingespannten Braunen und umhalste zunächst seine kräftigen Vorderbeine, ehe sie ihn mit ihren etwas aufgedunsen wirkenden kleinen Händen an der riesigen Unterlippe kitzelte. Er ließ sich alles klaglos gefallen.
~~~ Abgestiegen, strichen die beiden Männer dem kecken Mädchen übers Haar. Dann wandten sie sich an eine stämmige Frau um 50, die ihnen gerade am nächsten stand, stellten sich vor und umrissen ihr Anliegen.
~~~ »Freut mich«, sagte sie, »ich heiße Ruxandra. Hatten Sie schon Mittagessen?«
~~~ Das konnten sie bejahen.
~~~ »Gut. Wir sitzen gerade mit ein paar Kindern und Erwachsenen im Gemeinschaftsraum und plagen uns mit der meidunischen Sprache ab. Es ist aber keineswegs langweilig. Wenn Sie Lust haben, können Sie einmal hineinhorchen.«
~~~ Da die Besucher zustimmend nickten, bat sie einen Mann, der gerade mit einer Schubkarre auf dem Hof erschien, den Planwagen hinter die »Schaf-Scheune« zu fahren und die zwei Braunen einstweilen auf die Weide der Schafe zu führen. Das versprach der Mann. Dann ging sie zu Constantina, um sie zum Mitkommen ins Haus zu bewegen, was aber nicht ganz so einfach war. Das Mädchen wollte sich ungern von dem angenehm knetbaren Pferdemaul trennen. Sie war störrischer als das Pferd. Norbert hatte schon von Bak gehört, ein »Down-Kind« könne ziemlich stur sein. Das war eine Kehrseite seiner »Kontaktfreude« und seiner »sozialen Kompetenz«, wie die Psychologen dazu sagten. Veta würde ihm später eine bezeichnende Anekdote erzählen. Bei einem Streifzug mit etlichen Kindern habe ein »normaler« Junge einen Stock aufgeklaubt und damit begonnen, von den Haselnußsträuchern, die den Hohlweg säumten, mit Lust die Blätter abzuschlagen. Als Constantina das bemerkt habe, sei sie ihm in den Arm gefallen und habe ihm vorwurfsvoll ins Gesicht geschleudert: »Tut ihn weh! Tut ihn weh!« Darauf ließ der Junge die Sträucher verlegen in Frieden.
~~~ Nach geduldigem Zureden kam Constantina mit ins Haus und stürzte sich wieder auf ihr Schreibheft. Die dunkelhaarige Ruxandra entpuppte sich nicht nur als die gegenwärtige Leiterin dieses erstaunlicherweise aus Jung und Alt gemischten Lernzirkels von knapp einem Dutzend SchlangenadlerInnen, sondern auch als die Schiedsrätin des ganzen Dorfes. Sie wohnte in dieser GO namens Schlangenadler. Zuletzt als technische Angstellte bei der Hafenverwaltung in Burgas erwerbstätig, sprach sie sogar Englisch. Ihr Lernzirkel saß an verschiedenen Tischen unweit einer größeren Schiefertafel, die sowieso ständig an der Wand des Gemeinschaftsraumes hing. Die anwesenden Kinder unterschiedlichen Alters hätte man in Deutschland »ABC-Schützen«, die paar Erwachsenen »Analphabeten« genannt. Sie schrieben oder malten mit Bleistiften in linierte Hefte oder gar richtige Kontobücher, die Ruxandra dereinst klammheimlich der Burgaser Hafenverwaltung entzogen hatte. Die älteste erwachsene Person im Zirkel war eine bäurisch wirkende Großmutter, und zwischen deren Schreibkünsten und denen von Constantina sah man nicht viel Unterschied. Constantina wollte jetzt verständlicherweise unbedingt »perd« schreiben. Ruxandra machte ihr es ohne Widerworte vor.
~~~ Für die Wißbegierde der Schweizer hatte die Schiedsrätin zwischen ihren Vorschlägen, Ermunterungen und Berichtigungen auch noch hinreichend Zeit. Ohnehin stand über den ungemauerten Bildungseinrichtungen des Landes ein Wahlspruch, der für das ganze Republikleben galt: Geduld – Gelassenheit – Freiheit. Schulen gab es nicht, wie schon einmal erwähnt. Die 20 oder 30 lauffähigen Kinder in den GO's waren ja sowieso Tag für Tag gleichsam versammelt, und verschiedene Zirkel, in denen man Schreiben und Rechnen lernen konnte, waren da so leicht gebildet wie umgruppiert. Auch an Anleitern hatte es keinen Mangel. Sogenannte »Lehrkräfte« mitzumästen, wollte man sich nicht leisten, und deren »Pädagogik« fürchtete man sogar. Das galt auch für Bildungsbemühungen unter Jugendlichen und Erwachsenen der Republik. Diesbezüglich wurden in den Dörfern gleichfalls unsystematisch, je nach Bedarf, Ideen, Kräften und sogar Wetter (Ernte!), Zirkel ins Leben gerufen und wieder geschlossen, die sich eine Zeitlang mit bestimmten Themenkreisen beschäftigten, die man für wichtig hielt, etwa allgemeine Erd- und Himmelskunde, Einfall weißer Heilsbringer in Süd- und Nordamerika, Grundlagen der Physik – oder eben des mitteleuropä-ischen Schulsystems, das sich vor allem dem Triumph der Dampfmaschine und der entsprechenden Bürokratie verdankte. Die Mitteleuropäer sollten jetzt nach der Pfeife von Profit und Norm tanzen. Effizienz würde Modewort und Ausweis des gesamten 20. Jahrhunderts werden.
~~~ Die Überraschung des Tages war zumindest für Norbert Angerschmied die Mutter des »behinderten« Kindes. Sie lernten sie beim Abendbrot in der GO kennen. Veta, um 40, war gerade so blond wie ihre Tochter. Sie zeigte auch deren Fransen, nur ordentlich zur Seite gekämmt, konnte also nicht, wie Sean, mit Locken glänzen. Dafür war sie ähnlich ansprechend gebaut wie der Ire, nur mit festem Busen. Ihre kräftige Nase war vielleicht einen Hauch zu breit ausgefallen, aber das erschien Norbert stimmig, als er erfuhr, sie sei Försterstochter und noch heute eine gute Fährtenleserin. Ihr Wesen war gutherzig und still.
~~~ Englisch sprach Veta nicht. Als sich Sean einmal beiläufig nach Constantinas Vater erkundigte, erwiderte sie so lapidar wie anrührend, er habe sich bald nach der Geburt abgesetzt. Niemand wisse, wo er sich aufhalte. Sean hakte nach, und nun meinte sie nachdenklich, wahrscheinlich sei die Revolution ihre Rettung gewesen, sowohl die von Constantina wie ihre eigene. Hier, in dem umgemodelten Dorf, hatten sie beide viele Freunde, Rücksichtnahme, Trost gefunden.
~~~ Ob sie mit ihrem doch recht harten Schicksal hadere, wollte Norbert, mit Seans übersetzerischer Hilfe, wissen. Das verneinte sie. Und weil sie dazu ihren Kopf geschüttelt hatte, strich sie sich wieder die Fransen aus dem Gesicht und lächelte ein wenig verlegen in die Runde.
~~~ Schiedsrätin Ruxandra saß auch mit am Tisch. Husi war ein Jägerdorf, und sie hatte bereits vom Vorhaben einiger Leute erzählt, morgen im Wald mit dem Bau eines Fangkorrals für Wildschweine zu beginnen. Sean hatte sofort sein Interesse bekundet, an der Aktion teilzunehmen. Er berichtete auch von seinen Schießübungen im Kusmuer Gestüt. Ruxandra lächelte nachsichtig und meinte, es spräche sicherlich nichts dagegen, wenn er sich an dem Bauwerk beteilige. Dann seufzte sie, ja im Gestüt von Kusmu hätten sie ganze Kolonnen der unterschiedlichsten Fuhrwerke, in Husi gerade mal zwei. Und auch nur zwei Pferde, zwei dicke Kaltblüter. Das reiche gerade fürs Holzrücken aus.
~~~ »Wenn es so ist«, sagte Norbert in plötzlicher Eingebung, »könnte man ja eigentlich unser Gespann dazu ausnutzen, einmal mit ein paar Kindern einen richtigen Ausflug zu machen.« Auf Constantina deutend, die gerade in einer Pfütze aus verschüttetem Trinkwasser rührte, ergänzte er: »War sie schon einmal am Schwarzen Meer?«
~~~ Das wurde verneint. Die Rätin war von dem Vorschlag begeistert. Sie selber sei morgen jedoch verhindert. Er möge nur, neben ein paar Kindern, Veta mitnehmen, die komme selten genug heraus. Veta nickte auch sofort erfreut, und so besprachen sie die Einzelheiten.
~~~ Später, als sie bereits auf ihren Strohsäcken lagen und die Kerze gelöscht hatten, sagte Norbert: »Wirklich, diese Veta ist eine tapfere Frau, habe ich den Eindruck … Was tätest denn du, wenn dir deine Geliebte, Raluca zum Beispiel, einen verkrüppelten oder einen schwachsinnigen Säugling 'schenkte', wie man ja gerne sagt ..?«
~~~ Sean blieb eine Weile stumm. Dann schimpfte er: »Verdammt, ich weiß es nicht! Das kann man vielleicht erst sagen, wenn das Unglück geschehen ist. Schon möglich, ich käme mit Raluca überein, das arme Würmchen lieber zu erschießen, aber was geschähe dann? Fielen einen beispielsweise Schuldgefühl, Trauer und Reue an, bis man sich auch noch selber erschösse ..?«
~~~ Norbert dachte nach und seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht. Die Sache ist äußerst heikel. Schlafen wir erst einmal darüber …«
14
Von Husi aus war die Schwarzmeerküste keine acht Kilometer entfernt. Wie sich versteht, ging die Fahrt zunächst bergab. Sie hatten vier Kinder mitgenommen: neben Constantina drei Jungen ähnlichen Alters, um sechs. Je zwei von den Kindern saßen abwechselnd mit einem Erwachsenen auf dem Kutschbock oder unter den ringsum hochgerollten Planen des Wagens. Das heißt, dort hüpften und rollten sie eher umher. Es war ein Heidenspaß.Als der Bergwald den Blick aufs Meer freigab, staunten zumindest die Jungen. Freilich kam rasch die nach Enttäuschung klingende Frage, warum das Meer so blau sei, wenn es doch schwarzes heiße? Das konnte ihnen hier keiner verraten. Norbert und Veta lachten, und sie lachten sich dabei nicht zum letzten Mal an.
~~~ Die Begeisterung Constantinas hielt sich in Grenzen. Auch der Strand aus hellem, feinem Sand, der sich von eher sanften Wellen der endlos wirkenden Bläue belecken ließ, erweckte keinen Jubel in dem blonden Mädchen. Als die Jungen aber kreischend durchs seichte Wasser pflügten, natürlich nackt, ließ sie sich anstecken. Wahrscheinlich war das nur erblickte Phänomen »Meer« noch entschieden zu groß, zu weit für ihr Begriffs-vermögen. Daß das Wasser spritzte und etwas salzig schmeckte, spürte sie dagegen durchaus. Und mit dem feuchten Sand konnte man sich gegenseitig auf die Wangen oder den Hintern klatschen. Das nannte ein Junge, der Corneliu hieß, »küssen«.
~~~ Hier und dort waren Grüppchen von Einheimischen zu sehen, aber den üblichen Badebetrieb gab es selbstverständlich weder an dieser Stelle noch sonstwo an der mollowinischen Küste. Dazu mußte man nach Bulgarien fahren. Dieser Mangel an Trubel stellte ohne Zweifel ein Gewinn vieler Vögel dar. Norbert bekam etliche Kormorane, einen herabstoßenden Fischadler, sogar einen Pelikan in Seans Glas. Der langschnäblige Vogel ruderte auf seinen mächtigen, breiten Schwingen gemächlich gen Norden. Vielleicht wollte er zur Kus-Mündung. Dort oben lag auch, das wußte Norbert, ein Fischerdorf der Republik, und in dessen Nähe der russisch betriebene Bernstein-Tagebau, den er später noch mit Sean zu besichtigen gedachte.
~~~ Dummerweise prickelte Norberts entblößte Haut nicht nur von Luft und Sonnenschein. Schließlich war Veta ebenfalls nackt, und ihre betörende Weiblichkeit rüttelte doch stark an dem Organ, das in den Augen Cornelius ein »Puller« war, falls Norbert die Bezeichnung richtig verstanden hatte. In den größten Minuten der Anfechtung behalf sich der Züricher Tribune-Korrespondent damit, sich auf den Bauch zu legen oder einen Abortgang zu den Felsbrocken und Gebüschen des niedrigen Steilufers vorzutäuschen. Die Felsen waren übrigens daran schuld, daß an diesem Platz keine Uferschwalben zu sehen waren. Diese kleinen braunen Flitzer pflegten ihre Brutröhren in erdigen Steilufern anzulegen. Da schossen sie dann hinein und wieder heraus. Offenbar wimmelte dieser Planet von Anzüglichkeiten, dachte Norbert, und irgendwie scheint die ganze Schöpfung dem biblischen Befehl zu gehorchen, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Nur kamen dann zuweilen auch »Constantinas« dabei heraus. Dieser Gedanke war betrüblich, aber im Augenblick auch hilfreich ernüchternd.
~~~ Veta hatte ihm zwar, von Zeichensprache unterstützt, versichern können, sie sei des Schwimmens mächtig, doch wegen ihrer vier Kinder verkniffen es sich beide, weit hinaus in tieferes Wasser zu laufen. Veta gab ihm Sprachunterricht. Nach »schwimmen« lernte er »hungrig« und sogar ein paar Namen der Picknick-Bestandteile, die sie nach einiger Zeit auspackten und für die Kinder auf einem Tuch anrichteten, das noch weißer als der Sand war – noch jedenfalls. Die zwei Braunen, die sie oberhalb der Felsen und Gebüsche mit langen Leinen an einer Kiefer festgebunden hatten, mußten sich mit einigen dürren, versengten Gräsern begnügen. Sie hängten ihnen später die Futtersäcke mit Hafer um und ließen sie aus einem Ledereimer Süßwasser saufen. Solches Wasser hatten die Schweizer stets dabei. Es schwappte in einem großen verschließbaren Lederbeutel, der im Planwagen an einem Holmen hing. Das war IndianerInnenart.
~~~ Sie blieben rund drei Stunden am Schwarzmeer-strand. Als sie wieder heimwärts zockelten, verzogen sich alle vier Kinder bald nach hinten auf die Strohsäcke, und wen wundert es, nach kurzer Zeit waren sie allesamt eingeschlummert, um sich von den Anstrengungen des Bade- und Picknickvergnügens zu erholen. Veta kletterte zu Norbert, der gerade die Leinen führte, auf den Kutschbock. Sie deutete hinter sich. Norbert sah sich kurz um und lächelte Veta an, denn die schlafende Bande war ja ein hübsches Bild. Da schmiegte sie sich plötzlich an ihn. Er hätte fast die Leinen verloren. Aber er konnte diese Geste der Zuneigung schlecht unbeantwortet lassen. Er küßte ihren blonden Schopf, dann ihren sinnlichen, lüsternen Mund. Er wäre beinahe den Kutschbock hinabgeschmolzen, doch sie schafften es noch ohne Verkehrsunfall bis nach Hause. Diesmal hatte Sean das Nachsehen: die kommende Nacht im Planwagen gehörte ihm allein.
15
Das Bauen im Wald gefiel Sean, und da es sich über drei Tage erstreckte, hatte Norbert Muße genug, um sich mit Veta, Constantina und anderen Dorfbewohnern – freilich auch mit seinen Gefühlen für die beiden Erstgenannten zu beschäftigen. Wenn man so will, rankten sich seine Gefühle ähnlich bewegt und widerborstig um die beiden Frauen wie das Einrichten sogenannter Lebendfallen für Wildschweine oder gar die Jagd überhaupt umstritten waren. In einem getarnten, bewachten Korral gelandet und gefangen, der ihnen die letzten Lebensstunden mit köstlichem Lockfutter und echten eingepflanzten Bäumchen versüßte, ließen sich die Wildschweine vergleichsweise bequem und sozusagen totsicher abschießen, wie die HusianerInnen glaubten. Försterstochter Veta glaubte es auch. Selbst die LDV der Republik hatte daran geglaubt, also ihr Einverständnis gegeben, die Veterinärin Raluca eingeschlossen. Man hielt die Qual der Tiere, oft ganze Rotten, für gering; den Nahrungsbedarf der Republik dagegen für groß.
~~~ Als er einmal mit Norbert, Veta und anderen beim Mittagessen in der GO Schlangenadler über das Thema Jagd sprach, ereiferte sich Sean über die dummdreiste Heuchelei des mit Hausschweinefleisch gemästeten mitteleuropäischen Bürgers und Politikers, der sein Herz für die Natur, für wilde Tiere und insbesondere für niedliche gestreifte Frischlinge entdeckt hatte. Veta pflichtete ihm bei. Für sie war es »natürlich«, sich als ziemlich hilfloser Zweibeiner aller leicht erreichbaren Früchte der Natur zu bedienen, ob Walnuß oder Wildschwein. Mordlust und Folterpläne lagen ihr fern; das konnte Norbert bedingt bestätigen. Das Gebot der Schonung kenne sie als Försterstochter durchaus, es gelte jedoch für sämtliche Eingriffe in die Natur. Sie erinnerte Norbert an die Anekdote mit dem kleinen Haselnußblattabschläger, die auf diese Weise auch Sean zu Ohren kam, der sie »reizend« fand und am liebsten gleich auf Papier skizziert hätte, nach Art einer Karikatur. Später tat er das auch. Die Karikatur nebst einem Porträt von Constantina würde in dem Buch erscheinen, das er mit Norbert plante. Veta fuhr fort, den Eingriff in die Bernsteinvorkommen an der Küste, den Tagebau der Russen also, mit Baggern, die riesige Zähne besäßen, komme ihr nicht gerade milder als das Umhauen einer Lärche für Bauholz vor. Was alle verschiedenen Opfer des Fressens und Gefressenwerdens in der Natur empfänden, könne man als Mensch ja sowieso nicht wirklich beurteilen. Das habe jedenfalls ihr Vater behauptet. Der Mensch sei in seiner zufälligen Existenz- und Urteilsform gefangen wie das Wildschwein im Korral, sagte sie spitzbübisch lächelnd. Diesen Aufschwung seiner neuen Geliebten in das Reich von Ethik und Metaphysik hätte Norbert kaum erwartet. Er sprach jetzt schon erheblich besser Meidunisch, und auch diesen Liebesdienst verdankte er ihr.
~~~ Einige Tage nach dem Ausflug erzählte sie ihm von einem bedauerlichen Vorfall an der nördlich vom Kus gelegenen Küste, der im Frühjahr im Kurier geschildert worden war. Ein Kerl aus der russischen Kolonie hatte eine Bewohnerin des Fischerdorfs überfallen und vergewaltigt. Großes Entsetzen ringsum. Immerhin war der Täter ertappt und von der Leitung der russischen Kolonie eingesperrt worden. Der Schiedsrat des Fischerdorfes hatte inzwischen mit dem schnellsten Pferd, das er auftreiben konnte, das Rathaus Kusmu alarmiert. Sie fuhren sofort in einer Kutsche hin: der örtliche Schiedsrat, der leidlich Russisch sprach; eine Ärztin aus Kusmu; Fila Peptan, die Rätin für Auswärtiges; und selbstverständlich Landes-Schiedsrat Mihail Bak. Sie kümmerten sich zunächst um das Opfer. Zum Glück drohte der Frau keine Schwangerschaft. Dann verhandelten sie mit den leitenden Russen. Die waren ganz auf ihrer Seite. Man habe der versammelten Belegschaft sofort eine Standpauke gehalten wegen dieses unverzeihlichen Übergriffs gegen ihre GastgeberInnen und Freunde, versicherten sie dem Quartett. Selbstverständlich werde der Täter mit dem nächsten Frachtschiff nach Sankt Petersburg gebracht. Und dort werde er erfahrungsgemäß nicht gerade mit Samthandschuhen angefaßt, das könnten sie glauben. Das aber schmeckte der Delegation aus Kusmu trotz aller Wut nicht einwandlos. Sie bemühten sich, den russischen Offizieren und Ingenieuren ihre Auffassung nahezubrin-gen, wonach das übliche Bestrafen ein unmenschlicher, fruchtloser, ja sogar oft kontraproduktiver Unfug sei. Damit sei weder den Opfern, noch den Tätern, noch der Gesellschaft geholfen. Es war vergeblich. Die Russen winkten nachsichtig ab, klopften ihnen auf die Schultern und schenkten ihnen zum Abschied noch ein letztes Gläschen Wodka ein.
~~~ Zwei Tage nach dieser Erzählung wieder in Kusmu, kam Norbert im Gespräch mit Redakteur Charly und der Rätin für Bildung, Aneta Pillat, auf den Vorfall zurück. Eine Rätin für Justiz gab es ja nicht, weil es im Lande keine Justiz gab. Sie saßen in der Bücherei. Nach der Verfassung der Republik, die dort sogar als schmales gebundenes Büchlein im Regal stand, oblag das »Rechtswesen« der Republik ausschließlich den jeweils Beteiligten und Betroffenen der »Rechtsfälle«. War die ganze Republik betroffen, nahmen sich eben der Landes-Schiedsrat und die LDV der Sache an. Schlug ein Vater in einer GO sein Kind, weil er seine sogenannte »Autorität« geltend machen wollte, stellten ihn zunächst die Zeugen des Vorfalls zur Rede, und wenn das nicht half, kam die Sache aufs wöchentliche Plenum. In jedem Fall gab es jedoch keine »Strafe«. Sah der Täter seine Verfehlung ein, trug er sicherlich zur Wiedergutmachung bei – davon abgesehen, daß erwartet wurde, beim nächsten Streit schlage er sein Kind nicht mehr. Sah er sie nicht ein, mußte man abwarten und beobachten. »In krassen Fällen«, so die Bildungsrätin, »wird er vielleicht eingesperrt, vertrieben oder sogar von Betroffenen getötet, weil schon wieder die nächste Vergewaltigung droht. Aber das ist lediglich eine Schutz-, keine Strafmaßnahme. Die Strafe bessert nicht, und wenn sie lediglich 'vergelten' oder 'rächen' soll, ist sie kindisch. Das Strafen kommt aus dem Gewaltverhältnis Vater–Sohn, Gott–Schafskopf, Staat–BürgerIn, wie Bak einmal irgendwo schrieb. Damit wären wir wieder bei der Sache: Vater schlägt Kind, Kerl mißbraucht Frau …«
~~~ Die Auffassung leuchtete Norbert ein. Wie er beispielsweise Mihail Bak oder die unzimperliche Zureiterin Raluca einschätzte, waren sie entschieden »unabhängiger« als jeder Richter oder Rechtsanwalt in der Schweiz oder in den Staaten. Sie hatten Charakter, Urteilsvermögen, Mut. Der schweizer oder US-Bürger versteckte sich hinter seinen Justizbürokraten, die ihm die Schmutzarbeit abnahmen und so ein ruhiges Gewissen bescherten, und die Justizbürokraten ließen sich vom »Gesetz« decken, also von Buchstabengläubigkeit, Vater Staat und Gott Kapital. In libertären Gemeinschaften hatte die Schlichtung von Streit bei den Zerstrittenen und ihren jeweiligen engen Nachbarn zu bleiben. Die Bearbeitung des Streitfalls war für die Beteiligten sicherlich mühsam und oft unangenehm. Aber nur auf diesem Weg konnte er als Lehrstück enden.
~~~ Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, sagte Norbert: »Soweit ich bislang beobachten und erkunden konnte, verschmähten die Luchse schon immer die Ehe, und zumindest viele jüngere RepublikanerInnen halten es inzwischen genauso. Habe ich recht?«
~~~ Die beiden verdienten Revolutionäre nickten. Was solle das »Rechtsinstitut« Ehe schon sichern? führten sie aus. Eigentumsverhältnisse. Den Besitz der beiden Gatten aneinander; ihren Besitz an den Kindern; ihr fragwürdiges Erbe für den Fall, sie sterben. Nein, unter freien Menschen, die in einer größeren solidarischen Gemeinschaft verwurzelt sind, sei die Ehe überflüssiger und schädlicher als ein Gipsverband für eine 22 Jahre alte, gutgewachsene Eiche.
~~~ Die »Eiche« hatte Charly eingebracht. Er hätte auch eine Kastanie nehmen können, dachte Norbert auf dem Nachhauseweg ins Gestüt, wo mittlerweilen ihr Planwagen stand. Er hatte sich wieder ein Fahrrad geliehen. Es war jetzt Mitte Juni. Nicht wenige Leute kannten ihn bereits flüchtig und winkten ihm zu. In Husi hatte Sean plötzlich geschimpft, er könne nicht mehr so lange warten, bis die Wildschweine in die schöne Falle gingen, die er mitgebaut hatte. Seine Falle sei Raluca. Er wolle zu ihr, er vermisse sie schmerzlich. Norbert ließ sich schließlich breitschlagen, obwohl er gleichfalls Trennungsschmerz befürchtete. Solange er in Reichweite von Vetas Armen sei, bringe er wohl seinen zweiten Artikel nie aufs Papier, und abtippen müsse er ihn ja sowieso. Auch sonst sei ein bißchen Distanz zu Veta und ihrer knuffigen Tochter nicht das Schlechteste. Schließlich sei er ein verheirateter Mann.
~~~ Dazu grinste Sean lediglich.
~~~ Als sie bereits mit ihrem Gespann auf dem vorderen Hof der GO Schlangenadler standen und verschiedene Hände oder Busen drückten, kam Constantina angetapst und schob ein paar noch recht winzige grüne Stachelfrüchte auf das Fußbrett ihres Kutschbocks. »Sind klein Igel«, sagte sie verschmitzt, »klein Igel für groß Füß.« Das war ihr Geschenk an die Männer. Sie hatte die jungen Kastanien von einem zweirädrigen Karren aus von der dicken Hofkastanie bezogen. Die Männer herzten das »behinderte« Kind, stiegen auf und fuhren unter Kopfschütteln vom Hof, ohne sich noch einmal umzusehen.
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