Donnerstag, 16. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 39
Wider – Zwie
Wider – Zwie
ziegen, 13:58h
Widerstand
Der oder das Maquis – das waren im Französischen eigentlich »die Buschwaldgebiete im Mittelmeerraum, die von alters her politisch Verfolgten und Straftätern als Versteck dienten«, wie Brockhaus mich dankenswerter-weise belehrt. Dann ging der Begriff auf jenes Maquis und jene Maquisarden (Partisanen) über, denen der Brite Millar sein bekanntestes Buch verdankt. Im Brockhaus fehlt dieser Mann.
~~~ George Millar (1910–2005) war von Hause aus Schotte und Journalist. 1937 verheiratete er sich mit einer Generalstochter. Nach Korrespondententätigkeit in Paris wurde er, im Zuge des Kriegsausbruchs, Soldat. Verwundungen und Gefangenschaften überwand er. 1944, inzwischen Captain (wohl dem Hauptmann vergleichbar), ließ er sich mit dem Fallschirm über dem deutsch besetzten Frankreich abwerfen, um nun, in der Gegend von Dijon und Besancon (Burgund), für einige Monate mit dem Maquis zusammen zu arbeiten. Diese Unterabteilung der bekannten Resistance übte vor allem Sabotage, etwa an Güterzügen und Bahndrehscheiben, was die britische Luftwaffe mit weiteren Sendungen von Waffen, Sprengstoffen, Banknotenbündeln und Geheimagenten unterstützte. Dem entsprang im nächsten Jahr Millars Buch Maquis. Laut deutschem Untertitel (EVA Hamburg o.J., Übersetzung Lino Rossi) geht es um »Widerstandskämpfer im besetzten Frankreich«. Das können Sie nach Belieben ein- oder mehrzahlig auffassen.
~~~ Das Buch läßt sich gut lesen. Wer nach Heldentum und Sensationen lüstern ist, dürfte es langweilig finden. Dafür pflegt es Anschaulichkeit, Aufrichtigkeit und einen britischen Humor, der nie Purzelbäume schlägt. Die Waldquartiere der Partisanen sind Kot- und Mückenlöcher. Was die im Winter gemacht hätten, wäre die Frage – aber vorher hört das Buch auf. Die Jagd nach Tabak ist fast so wichtig wie das Einsammeln der abgeworfenen britischen Waffen- und Munitionspakete. Manche Unternehmungen gelingen glänzend, aber in der Regel herrschen in diesem Maquis Chaos und Unzulänglichkeit. Millar selber, hier »Émile« genannt, verschweigt seinen Ärger und seine Ängste keineswegs. Andererseits scheint er aber auch weder Überschwang noch Haß oder Rachedurst zu kennen. Nach 500 Seiten hat man begriffen: dieser Mann ist aus dem Holz, aus dem postmoderne Journalisten und Offiziere geschnitzt werden. Auch mit politischen oder philosophischen Konzepten geben sie sich nicht ab. Ihr Geschäft ist ihre Arbeit. Und die haben sie möglichst professionell zu erledigen, einerlei für wen. Deshalb ziehen sie auch vor den Boches, den uniformierten deutschen Besatzern, den Hut, sofern sie gute Arbeit leisten oder beim elenden Rückzug nicht murren. Schließlich gerät man eher zufällig in die Geschäftsfelder, wie das scheue Rehwild. Man hat sich die Eltern und Hitlers Überfall auf Polen oder Paris nicht ausgesucht.
~~~ Mir persönlich kommt ein Befreiungskampf, der von Sendboten des Britischen Imperiums und der Bostoner Teaparty unterstützt wird, eher fragwürdig vor.* Dabei kann vielleicht nichts Besseres als das heutige Frankreich herauskommen. Aber vor allem hat mich der Krieg überhaupt erneut angewidert. Auch die burgundischen Buschkrieger kommen ja nicht umhin, mal eine wichtige Eisenbahnbrücke zu sprengen, mal einen skrupellosen, schleimigen Verräter hinzurichten. Im zweiten Fall halten sie gelegentlich »Kriegsgericht«, aber im Notfall muß es ja schnell gehen – weg mit ihm, Hinterkopfschuß. Damit will ich keineswegs den Eindruck erwecken, ich sei »Pazifist«. Die Situation möchte ich sehen, in der es ohne Gewaltanwendung ginge, in welcher Form auch immer. Aber vielleicht geht es in der betreffenden Situation ohne mich? Ein Patentrezept gibt es in dieser Hinsicht gar nicht. Vielmehr kommt es auf die Situation an. Und wenn ich mich ihr nicht gewachsen fühle, werde ich versuchen, ihr rechtzeitig aus dem Wege zu gehen. Später, nach drei oder zwölf Jahren, darf ich mich dann unter Umständen als Feigling, unsolidarischer Lump oder, von irgendeinem Herrn Reitmeier, etwas höflicher als »Innerer Emigrant« beschimpfen lassen.
~~~ Millar wurde für seinen soldatischen Einsatz hochdekoriert. Er blieb jedoch beim Schreiben. Inzwischen hatte ihn die Generalstochter verlassen; dafür ging er eine zweite Ehe mit einer Diplomatentochter ein, Isabel. Sie fiel 1989 im Ersatzkrieg Straßenverkehr: Autounfall. Millar verfaßte etliche Bücher, befaßte sich aber auch mit Viehzucht und Segeln. Seine Ausflüge mit schmucken Yachten überlebte er ähnlich wie den Zweiten Weltkrieg. Mit 94 wurde er erstaunlich alt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 24, Juni 2024
* Dazu trifft kurz vor Toresschluß dieser aufschlußreiche Artikel ein: „Wie man die NATO-Aggression gegen Russland rechtfertigt“, https://www.voltairenet.org/article221019.html, 11. Juni 2024. Der Autor Thierry Meyssan prangert darin die „erlogene Sicht der Landung der Alliierten am 6. Juni 1944“ an, die uns die Leidpresse gerade um die Ohren haut. Allgemeiner spricht er von der Lüge, die Angelsachsen hätten den Faschismus besiegt. In Wahrheit gebührt die Hauptehre natürlich der Sowjetunion, die einen gewaltigen Blutzoll zahlte. Ferner verhöhnt er das kopfstürzende Verfahren, Putin als „Diktator“, Selinski dagegen als „Demokraten“ hinzustellen. Zur angelsächsischen Landung in der Normandie stellt er fest, ihr Zweck sei keineswegs die Befreiung Frankreichs, vielmehr die Ablösung der Nazi-Besatzung durch die Alliierte Militärregierung der besetzten Gebiete (Allied Military Government of Occupied Territories, AMGOT) ins Werk zu setzen. Das untermauert er durch interessante Ausführungen von Charles De Gaulle.
Siehe auch → Behälter, Zioncheck (im Universum) → Bontjes → Borstschagowski → Corona, Schauermärchen → Gesundheit, Toschke → Klaunig → Rundfunkbeitrag (verweigern?) → Voelkner → Wagener → Weinheim → Wiechert → Band 4 Bott Axt Kap. 14 (nur unter Protest) → Band 5 Untergang Motz (Pachtstreik) + Folgen eines Skinunfalls (Gebärstreik)
Der heute kaum noch gelesene Erzähler Ernst Wiechert (1887–1950) stammte aus einem ostpreußischen Forsthaus. Das prägte seine Naturfrömmigkeit nachhaltig. Sie ist auch Brockhaus nicht entgangen, obwohl es das Lexikon vorzieht, von Naturmystik zu sprechen. Nach seiner Studienzeit ist Wiechert bis 1933 als Gymnasiallehrer in Königsberg und Berlin tätig. Dann zieht er sich nach Bayern zurück, denn er kann sich inzwischen von seinen Büchern ernähren, die von den Nazis geduldet, zum Teil sogar gefördert werden. Vermutlich rechneten sie sich die Chance aus, den angesehenen Autor vor ihre Mehr-Lebensraum-Maschine zu spannen, aber nach meinen Kenntnissen bekamen sie ihn nicht. Ich stelle mir den zartbesaiteten Wiechert als das Gegenteil eines Eroberers vor. In jenen finsteren Jahren brütet übrigens ein anderer Eigenbrötler, nämlich Friedrich Georg Jünger, sein Buch von der Perfektion der Technik aus, die er einer vernichtenden Kritik unterzieht. Es wäre interessant zu wissen, ob sich Jünger und Wiechert jemals über den Weg liefen. Sie waren bestimmt verwandt.
~~~ In der Novelle Der Schnitter im Mond von 1930 verblüfft Fabrikarbeiter Malte die gräflichen Gespannführer der Gegend durch jeweils mehrere makellos von Hand gemähte Schwadenstreifen auf wechselnden Getreideschlägen. Ein märtyrerhafter Zug der listigen Herkulesarbeit ist unverkennbar. Bei Wiechert erstreckt sich das Martyrium gern auch in die Gefilde der Geschlechterliebe; seine Helden und die Frauen kommen nie so recht zusammen. Im Fall der Schnitter-Novelle bleibt die Liebe nächtliche Episode – freilich mit verhängnisvollen Folgen, war es doch ausgerechnet die Tochter des Grafen, die sich dem geheimnisumwitterten, verwegenen Schnitter hingab. Es wäre jedoch fehlgegriffen, Wiecherts Helden schüchtern oder verklemmt zu nennen. Es gibt für sie einfach wichtigere Dinge als die Liebe, nämlich die Leidenschaft für die Natur und dann für Kunst (vor allem Musik) und Literatur. Zu beider Ausübung bedarf es einer Versenkung, von der uns die Frauen nur ablenken können. Entweder sie verwirren uns und wühlen uns auf, oder sie hängen wie Kletten an uns. Deshalb mußte Wiechert im Einfachen Leben Marianne, »das Kind«, blutjung halten. Dieser hinterhältig ersonnene Altersunterschied zwischen ihr und Thomas Orla stellte eine unüberwindliche »natürliche« Kluft dar; selbst der General sah es ein.
~~~ Allerdings treibt das Höhere Streben von Wort- oder Notenakrobaten gerne gar zu weiße Blüten. Wer Ernst Wiecherts Jugenderinnerungen Wälder und Menschen folgt, hat einerseits viel Humoriges, Sentimentales und Salbungsvolles zu überwinden, ehe er fündig wird – andererseits blendet ihn die »Reinheit«, die der Förstersohn auf jeder dritten Seite beschwört, wie Schneefelder. Die Verlagsinserate in der 1936 bei Langen/Müller erschienenen Erstausgabe übertreiben keineswegs: der Königsberger Musterschüler ist vom schieren »Reinheitswollen« durchdrungen. Hartnäckige LeserInnen kehren nach 250 Seiten und 25 Jahren mit dem gemachten Schriftsteller in die masurische Heimat zurück. Im Gedenken an seinen ersten Adler, den er dort schoß, steigt Erkenntnis auf. »Der Hochwald war fort, fremde Schonungen sahen mich an … Was unwandelbar erschienen war, hatte sich gewandelt.« Wiechert ahnt jedoch, diese Ernüchterung darf nicht unbedingt dem Kindheitsort angelastet werden. Möglicherweise sei alles noch wie am ersten Tag, und nur er selber sei – in einem großen, blitzenden Automobil – »als ein Fremder« bei dem stillen, wartenden Forsthaus vorgefahren. Es kommt hier kaum auf den Zeitraum an. Mein motorsägendes Wüten jenseits des Waltershäuser Schloßbergs kam mir bereits nach wenigen Monaten als Nichtkommunarde und Waldwanderer sehr unwahrscheinlich vor. Zog mich 2003 vom Bahnhof aus die imposante rote Backsteinfassade der Puppenfabrik magisch an, muß ich ein Irrläufer gewesen sein. Sehe ich mich gar, von Wiechert angeregt, noch um 40 so manche Frau anhimmeln, kann es sich eigentlich nur um Luftspiegelungen handeln. Schizophrenie wäre ja noch harmlos; tatsächlich sind wir in 7 bis 70 Lebensphasen gespalten. Der Adler hat sicherlich mehr Federn, doch dieses Problem hat er nicht.
~~~ Drei Jahre nach seinen nur zähneknirschend genießbaren Kindheitserinnerungen legt Wiechert mit Das einfache Leben sein vermutlich noch am wenigsten unbekanntes Werk vor, das auch sein bestes sein dürfte. Dieser Roman spielt in den gewässerreichen Masuren. Der General steht einem Herrengut vor; »Aussteiger« Orla, ehemals Kommandant eines Kriegsschiffes, heuert bei ihm als Fischer an. Das Buch ist hervorragend komponiert, besticht durch knappe, schlichte Sprache und erspart uns eine Menge von dem bei Wiechert üblichen Pathos. Bei einigen Novellen Wiecherts oder etwa seinem letzten Roman Missa sine nomine (Messe ohne Namen) ist das leider nicht der Fall. Wie sich versteht, wurde Wiechert ausgiebig vorgeworfen, ein anspruchsloses, naturverbundenes, ja demütiges Leben zu »verklären«. Daß ich nicht lache! Was ist denn mit den Legionen von Hirnrissigen, die solchen Kälbern wie dem Fortschritt, dem Freien Markt, der Mobilität die Hufe küssen? Die uns bedenkenlos jedes Unheil, jede Verwüstung, jede Entwurzelung zumuten und dabei noch ihre eigene systematische Aushöhlung preisen? Sie verklären ihre Kälber nicht; sie beten sie an.
~~~ Wiechert war ein Meister der Fabel. Obwohl sie an einer gewissen Verstiegenheit kranken, sind seine Personen noch im letzten Roman verblüffend und fesselnd erfunden. Wiechert schloß Missa kurz vor seinem Tod ab. Dabei geht das erwähnte Pathos mit einem befremdlich einfältigen Tonfall einher. Den zeigen häufige »unds« oder »wohls« an; außerdem Wendungen oder besser Windungen wie »doch aber« und »denn ja auch«. Es klingt, als sprächen der Freiherr Amadeus oder sein Freund, der aufsässige Pfarrer Wittkopp, ausschließlich zu den Kindern der TorfstecherInnen, die sich mit dem alten Kutscher des Freiherrn, Christoph, aus Ostpreußen in die Hohe Rhön flüchten konnten. Das Eindringliche droht in Betulichkeit umzuschlagen. Daneben nimmt Amadeus in seinem Schafstall am Rande des Hochmoors Züge eines Opferlamms – christushafte Züge an. Er wird zum Erlöser. Doch einen politisch eingefärbten Kriminalfall und die betörende Landschaft breitet Wiechert spannend wie immer aus.
~~~ Von Kriegsheimkehrer- und Vertriebenenschicksalen unbeleckt, da im Todesjahr Wiecherts erst geboren, sollte ich mich vielleicht hüten mit Steinen zu werfen. Wiechert hatte zwei unfaßbar grausame Weltkriege und dazu, aller »inneren Emigration« zum Trotz, einen wohl zweimonatigen Aufenthalt im KZ Buchenwald zu verdauen, als er diesen Roman schrieb. So kreist er darin um die folgenden Fragen. Wie wäre es zu begreifen, daß die Menschen untereinander ein solches Grauen anrichten? Sind Amadeus oder sein Bruder Erasmus – durch Wegsehen, durch Zurückschlagen – womöglich mitschuldig daran? Ließe sich das restliche Leben mit solcher Hypothek anders als in Verzweiflung verbringen? Doch wie auch immer: wer nie dem nackten Terror ins Auge sah, hat leicht reden von Zivilcourage oder gar erbittertem Widerstand. Laut Günther Schwarbergs Buch über den jüdischen Schlagertexter Fritz Löhner-Beda hatte Wiechert die Ehre, in Goebbels Tagebuch einzugehen. »So ein Stück Dreck will sich gegen den Staat erheben.« Goebbels persönlich schickt Wiechert ins KZ. Am 30. August 1938 läßt er sich den Buchenwaldhäftling vorführen, um ihn zur Sau zu machen. »Ich bin in bester Form und steche ihn geistig ab. Eine letzte Warnung! Darüber lasse ich auch keinen Zweifel. Der Deliquent ist am Schluß ganz klein und erklärt, seine Haft habe ihn zum Nachdenken und zur Erkenntnis gebracht. Das ist sehr gut so. Hinter einem neuen Vergehen steht nur die physische Vernichtung. Das wissen wir nun beide.«
~~~ Eine unglaubliche Anmaßung von diesem Propaganda-Schwein aus einem Berliner Ministerium. Was hätten wir freilich davon gehabt, hätte Wiechert Goebbels noch auf der Türschwelle verflucht? Der Schriftsteller starb am 24. August 1950 mit 63 Jahren auf seinem Rütihof in Uerikon am Zürichsee.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 39, Oktober 2024
Willensfreiheit
Brockhaus stellt den Florentiner Philosophen Giovanni Pico della Mirandola (1463–94) als einigermaßen menschenfreundlichen, ergo kirchenfeindlichen Denker dar, der sich um eine gewisse Toleranz unter den Denkschulen bemühte. Verwahrt sich Pico gegen die Anmaßung Gottes oder des Papstes, uns auf die Pläne festzunageln, die sie nur zu unserem Besten für uns vorgesehen haben, kann man zunächst nicht meckern. Es ist die natürliche Warte der Menschenwürde und des Unabhängigkeitsstrebens. Stellt er sich aber dann auf den festen Boden des Dogmas von unserer Willensfreiheit, so jedenfalls Brockhaus, sollte man doch mit dem Kopf schütteln.
~~~ Im letzten Band (24) führt das Lexikon sogar Näheres zu dieser alten Streitfrage aus. Die Bejaher der Willensfreiheit leugneten keineswegs den Einfluß, den äußere (Milieu) oder innere (Veranlagung) Bedingungen auf unser Wollen hätten; sie führten jedoch »die letzten, konreten Entscheidungen auf die Selbstbestimmung der Person« zurück. Dieser haarsträubend widersprüchliche Schmarren hat mir noch nie geschmeckt, wie etliche Textstellen andernorts beweisen. Ich fasse mich deshalb kurz. Entweder ist ein Häuschen, das ich mir mit Freundeshilfe in meinem Garten ohne Beiziehung von Fremdfirmen erbaue, von der Baugrube und dem Fundamentgießen an mein eigenes, frei bestimmtes Werk, dann werden ohne Zweifel auch die Dachgauben und der Schornsteinhut meine Persönlichkeit mit all ihren Wünschen und Abneigungen atmen. Oder aber die Beschaffenheit der Baugrube wurde mir von einer undurchsichtigen Behörde vorgeschrieben; und das Fundament goß die bekannte Firma Betonbetrug nach ihrem eigenen Ermessen. In diesem Fall atmen die Dachgauben und der Schornstein selbstverständlich den Geist der Behörde und der Betonfirma, sofern jene nicht sowieso gleich abrutschen und umkippen. Jeden Einfluß der Grundlegung auf die abschließende Ausgestaltung zu verniedlichen, wäre somit Wahnsinn. Die AnhängerInnen der Lehre von der Willensfreiheit tun es jedoch, weil sie uns für dumm halten. Sie behaupten, meine spontane Lust, heute mittag Hefeklöße mit Pflaumenkompott zu verspeisen, hätte nichts mit der Küche meiner Großmutter Helene zu tun. Esse ich aus Trotz Pemmikan, behaupten sie dasselbe. Ich sei mit Freiheit begabt und könne deshalb essen, was ich wolle. Und mein Wille? Hat dieser nichts mit meiner Kinderstube, meinen Eltern, dem undurch-sichtigen Zufall einer Geburt im deutschsprachigen Raum des Jahres 1950 zu tun? Genauer, fand sie übrigens in einem Kasseler Krankenhaus statt. Wir wohnten zwar auf dem Land, aber perfekte staatliche Fürsorge war schon wichtig.
~~~ Pico wurde noch nicht einmal so alt wie Bassist Pettiford, und die Gründe dafür scheinen ähnlich ungeklärt und umstritten zu sein. Der 31jährige wand sich jäh in Krämpfen, suchte sein Bett auf und verschied nach wenigen Tagen. Picos Neffe Gianfrancesco soll von einem Fieber gesprochen haben. Andere argwöhnen, Pico sei vergiftet worden, beispielsweise von seinem Sekretär Cristoforo da Casalmaggiore, warum auch immer. Beides war ja in der berüchtigten italienischen Renaissance durchaus üblich: Fieber zu haben oder mit Arsen gefüttert zu werden. Das Arsen soll eine erst nach 2000 vorgenommene Obduktion nachgewiesen haben. Der Deutschlandfunk hat sich kürzlich* mit makellos freiem Willen – den er ebenfalls hochhält – für die Diagnose Vergiftung entschieden.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, August 2024
* Maike Albath, https://www.deutschlandfunk.de/vor-525-jahren-gestorben-der-italienische-philosoph-pico-100.html, 17. November 2019
Siehe auch → Erkenntnis, Dopamine → Gesundheit, Kandlbauer
Wohnen
Der Werkzeugmacher, Drucker, Folkmusikfan und Hausbesetzer Silvio Meier (1965–92) stammte aus Quedlinburg am Harz, zog später nach Ostberlin. Er lachte gern. Fotos zeigen ihn schmalgesichtig, dafür mit kräftiger Hakennase. Er gehörte zur linken DDR-Subkultur. Schon 1987 hatte er eine harte Begegnung mit »Skinheads«, also faschistisch gestimmten jungen Leuten. Sie mischten in der Zionskirche ein Konzert der einheimischen Rockband Die Firma und der Westberliner Gruppe Element of Crime auf, das Meier mitorganisiert hatte. Zuletzt wohnte er, in Friedrichshain, im zweiten Haus, das nach der »Wende« in Ostberlin besetzt worden war. Dort hatte seine Gefährtin C. gerade ein Söhnchen bekommen. Am 21. November 1992 abends war der 27jährige mit drei Freunden zum Club Eimer in Berlin-Mitte unterwegs. Es kam zum Streit mit fünf Skinheads, die Meier wegen ihrer Aufnäher zur Rede gestellt hatte: denen zufolge waren sie stolz darauf, Deutsche zu sein. Einer von ihnen zog ein Messer und erstach Meier. Zwei Freunde wurden schwer verwundet. Im besetzten Haus herrschte natürlich Entsetzen. Die Täter kamen später mit wenigen Jahren Gefängnis davon. Die Polizei habe alles getan, um den Mord zu entpolitisieren, sagte einer der Verletzten in einem Rückblick.* Es gibt bis heute regelmäßige Mahnwachen zum Gedenken an Meier. 2013 wurde eine Friedrichshainer Straße nach ihm benannt.
~~~ Zur Todeszeit Meiers hatte sich unsere Westberliner Musikgruppe, Trotz & Träume, längst aufgelöst. Um 1980 hatten wir wiederholt in besetzten Häusern gespielt. Wir selber wohnten aber in einem Kreuzberger Hinterhaus zur Miete. Wir hatten mit der Hauseigentümerin Glück; sie war keine Halsabschneiderin.
~~~ In Waltershausen wohne ich am Stadtrand. In der Stadt unterwegs, schaue ich zuweilen an meinem jüngsten baupolitischen Ärgernis vorbei. Unweit unserer winzigen Altstadt liegen zwei Fabrikbrachen, die durch eine schmale, kaum befahrene Einbahnstraße getrennt werden. Auf der Ostseite schickte man sich im Herbst 2019 plötzlich an, ein mittelgroßes Einfamilienhaus zu errichten! Ich dachte, ich sehe nicht recht. Schräg gegenüber, auf der westlichen Fabrikbrache (hinter der die Waltershäuser Feuerwehr liegt) dämmert nämlich seit Jahren ein nur geringfügig kleineres und durchaus gut erhaltenes Einfamilienhaus in den Gestrüppen und Schutthügeln vor sich hin – offensichtlich unbewohnt. Es war beim Abriß einer Puppenfabrik verschont worden. Die Leute, die jetzt den Neubau errichteten, hätten sofort einziehen können. Das hätte ihnen und vor allem der Volkswirtschaft manchen Aufwand erspart. Warum das ältere Haus leersteht, konnte ich nicht herausbekommen. Ich erfuhr lediglich, die beiden Brachen gehörten zwei verschiedenen Eigentümern. In diesem Umstand liegt also vermutlich die unüberwindliche, wenn auch in der Einbahnstraße unsichtbare Hürde. Aber jeder weiß es ja: dieses Goldene Kalb namens Privateigentum zerrt keiner aus der Einbahnstraße. Womit ich keineswegs um eine Wiedererweckung des Staatseigentums gebeten haben möchte.
~~~ Millionen Vermögenslose in diesem Lande, darunter auch Bekannte von mir, stöhnen jetzt wieder unter der Knute des Mietsystems. Die VermieterInnen können vermieten, müssen aber nicht. Die Vermögenslosen dagegen müssen wohnen. Und eben Miete zahlen, sei sie vergleichsweise niedrig oder haarsträubend hoch.
~~~ Gewiß, wir sind das Mietsystem gewohnt. Man macht sich jedoch zu selten klar, wie jung und wie abartig es ist. Wenige vom Schicksal und vom Staat begünstigte HauseigentümerInnen ziehen ihren Profit aus der Not von Vielen, irgendwo ein Dach über dem Kopf zu finden. Das hat es über Jahrtausende hinweg nie gegeben. Die Jäger und Viehzüchter der Jungsteinzeit hatten ihre Hütten oder Häuser so gut, wie sie manche SüdseeinsulanerInnen sogar noch heute haben. Die PrärieindianerInnen zankten sich vielleicht gelegentlich um die günstigsten Standplätze, aber der Zeltplatz im ganzen gehörte allen. Noch die mittelalterlichen Dörfer und Städte Europas kennen wahrscheinlich so gut wie keine Mietwohnungen. Die Bauernhäuser bargen die Bauersfamilie, die Patrizierhäuser die Patriziersfamilie, vermietet wurde da nichts. Ich nehme an, die Sache wurde erst mit der sogenannten Industrialisierung ernstlich interessant. Bauern, Handwerker, Soldaten wurden herdenweise von ihren Schollen in die Fabriken getrieben und waren nun auf Verschläge angewiesen, in denen sie Nacht für Nacht und sonntags ihre Arbeitskraft wiederherstellen konnten. Die Benutzungsgebühr für die Verschläge konnte man ihnen gleich vom Lohn abziehen. BürgerInnen, die fast so ausgefuchst waren wie die ersten Goldschmiede (die gegen Zinsen Kredite = Papiergeld aufgrund eines nichtvorhandenen Goldbestandes ausgegeben hatten), erfanden den neuen Beruf »Vermieter«. Da das Erbsystem ohnehin schon bestand, kamen einige BürgerInnen in der Folge gleich als VermieterInnen auf die Welt. Die meisten Leute wurden allerdings Mieter.
~~~ Die bekannte, schon oft verspottete Sehnsucht nahezu sämtlicher Kleinen Leute nach dem Eigenheim ist natürlich verständlich. Sie ist so natürlich, wie jedes Kaninchen seinen Bau und jeder Sperling sein Nest hat. Wieviele Personen das Eigenheim fassen soll, ist dabei erst einmal nebensächlich. Im Falle der hiesigen Puppenfabrikkommune sind es leider nach wie vor lediglich um 20; dafür in der thüringischen Zwergrepublik Konräteslust bereits rund 3.000. Dort verteilen sie sich auf etliche Häuser. Wesentlich ist, daß mich aus meinem Eigenheim niemand heraussetzen kann, es sei denn, mit roher Gewalt. Diese Gefahr bestand auch in der Steinzeit schon. Die sanfte Gewalt ist dagegen ein neuzeitliches Phänomen, eine Errungenschaft des Fortschritts. Man klagt, sanktioniert oder mobbt jetzt die Leute heraus.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Solidarität macht Mut«, AIB (Berlin-Kreuzberg) 57, 13. Oktober 2002: https://www.antifainfoblatt.de/artikel/%C2%BBsolidarit%C3%A4t-macht-mut%C2%AB
Siehe auch → Nacht (Nester) → Polstern
Selbstverständlich braucht man Brockhaus nicht zu erzählen, was eine Xylothek sei. Aber Ihnen vielleicht. Vor rund 20 Jahren veröffentlichte ich darüber einmal den folgenden Text.
~~~ Der Göttinger Physikprofessor Lichtenberg sah um 1777 bereits das »Waldsterben« voraus. Für den Fall des Falles schlägt er in seinen Sudelbüchern vor, eben mit Büchern zu heizen, bis die Wälder wieder nachgewachsen seien.* Carl Schildbach jedoch, ein Zeitgenosse Lichtenbergs in der nahe gelegenen Residenzstadt Kassel, machte die Bücher gleich aus Holz. Davon kann man sich durch einen Besuch des Kasseler Naturkundemuseums überzeugen. Nebenbei ist dieses Museum in Deutschlands ältestem Theatergebäude untergebracht, dem zwischen 1604 und 1606 unweit der späteren Karlsaue errichteten Ottoneum. Es wurde neulich mit Blick auf die Jahrtausendwende von Grund auf renoviert, wobei auch Schildbach zu einem neuen Kabinett kam. Schildbach stiehlt allem, was dort sonst noch geboten wird, ob Gänseblümchen oder Dinosaurier, die Schau. Sobald der Besucher seine Nase in das nur spärlich beleuchtete Kabinett steckt, wird er alarmiert schnüffeln. Sein erstaunter Blick wandert über die schimmernden Rücken der vielen Bücher, die sich in den umlaufenden Regalen zu befinden scheinen. Obwohl die Regale verglast sind, riechen diese Bücher förmlich nach verstaubter Kostbarkeit. Die Buchrücken wirken schimmlig, brüchig, fast wie verwittert. Ihre Farben spielen ineinander, vorwiegend zwischen Walnuß- und Kastanienbraun. Tritt der Besucher ehrfürchtig näher, kann er die hellen verblaßten Schildchen entziffern, die auf jedem Buchrücken kleben. Sie wurden mit dem Federkiel zweisprachig (deutsch und lateinisch) beschriftet. Linde, Bergahorn, Seidelbast, Wildkirsche läßt sich da zum Beispiel lesen. Nun dämmert dem Besucher, daß jedes dieser Bücher vom Holz des Baumes oder Strauches ist, der ihm zum Titel verhalf.
~~~ Dabei hielt sich ihr Schöpfer durchweg an den Bauplan, die vordere Buchseite (den Schiebedeckel) aus Splintholz, die hintere aus Splint- und Kernholz mit Spiegeln, die obere aus Astquerschnitten, die untere aus Hirnholz und den Buchrücken aus der Rinde des betreffenden Gehölzes zu machen. Doch damit nicht genug. Hier und dort zeigt sich ein Buch auch quer bei herausgezogenem Schiebedeckel, sodaß wir das Gebinde in seinem Hohlraum bewundern können: zusammengestellt aus äußerst naturgetreuen plastischen Nachbildungen der Zweige, Blätter, Blüten, Früchte des Baums oder Strauchs. Sie wirken nahezu wie frisch gepflückt. Weitere Aufschlüsse lassen sich dem Beschreibungszettel entnehmen, den Carl Schildbach auf die Deckelinnenseiten seiner Holzbücher klebte. Man erfährt, welchen Boden das Gehölz bevorzugt, welche Borkenkäfer oder Schwämme wiederum dieses Gehölz lieben, selbst welche Hitze von einem Kubikzoll trockenen Holzes unter bestimmten, stets gleichen Verbrennungsbedingungen entfesselt wird.
~~~ Nicht weniger als 546 Werke, die 441 Gehölzarten vorführen, zeugen von Schildbachs Geduld und Ordnungsliebe. Er stellte sie in den Dienst der Naturkunde, die er mit ähnlichem Fleiß studiert haben muß, während er zunächst (1771–86) Tiergarten- und Menagerie-Verwalter des in Kassel residierenden Landgrafen Friedrichs II., später Ökonomie-Direktor im Dienste des nachfolgenden Landgrafen Wilhelms IX. war. Ein schmaler Briefband des Freiherrn von Günderode preist Schildbachs Schaffen bereits 1781. Der offenbar schlecht entlohnte Schildbach wurde oft von gelehrten Herren besucht, die ihm nach der Besichtigung eine Art Eintrittsgeld in die Hand drückten. Mit Joachim Heinrich Campe zeigt sich 1785 sogar ein angesehener Schriftsteller und Verleger von diesen umschweiflos aus Holz gemachten Büchern beeindruckt, die einem das Pressen und Bedrucken von Papierbögen ersparten.
~~~ Allerdings schuf Carl Schildbach nicht die einzige, wahrscheinlich auch nicht die erste »Xylothek«, wie die Holz- oder Baumbibliotheken unter Fachleuten heißen. Man nimmt an, ihre Erfindung wurde von den neuen Klassifizierungen und Benennungen des schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707–78) angespornt. Nach Heinz Petersen (Bucheinbände, Graz 1988) sind sie sicher belegt seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. In Deutschland haben sich mindestens fünf von ihnen erhalten, wobei die einzelnen Stücke zumeist in der Form zweier durch den Buchrücken verbundener, beweglicher Kastenhälften gearbeitet wurden. Schildbachs Xylothek mit den Schiebedeckeln gilt jedoch als die umfangreichste und bedeutendste deutsche Holzbibliothek. Der französische Botaniker Buffon, seit 1739 Direktor des Pariser Botanischen Gartens, hätte Schildbach gern dorthin berufen. Die russische Kaiserin Katharina II. bot Schildbach vergeblich 2.000 Goldtaler für seine Xylothek.
~~~ Als er sich schließlich um 1800 aus Altersgründen zum Verkauf gezwungen sieht, speist ihn Landgraf Wilhelm mit einer schmalen jährlichen Leibrente von 450 Talern ab. Allerdings hatte Schildbach selber betont, nie aus Erwerbstrieb gebüffelt und getüftelt zu haben, vielmehr um seiner Nachwelt »ein Andenken zu stiften« – eben an ihn selbst. 1813, schon vier Jahre vor seinem Tod, wird Schildbach in Heinrich Füsslis Allgemeinem Künstlerlexikon wegen seines »ausgezeichneten Genies und ungeheueren Eifers zu einem der größten Naturhistoriker Deutschlands« erklärt. Auch in Lichtenbergs Magazin für das Neuste aus der Physik erntet er ein Lob.
~~~ Einmal in Kassel, nimmt der Besucher am besten auch gleich die Neue Galerie mit. Sie wurde nur wenige Fußminuten vom Ottoneum entfernt in einem Sandsteinklotz untergebracht, gegen den das Schloß Wilhelmshöhe hübsch ist. Auf halber Höhe der Innentreppe wird der Besucher stirnrunzelnd Halt machen, um einen ausladenden Türrahmen zu mustern, der wie zugemauert wirkt. Statt auf Ziegelsteine blickt man auf die Seitenstöße unterschiedlichster Bücher. Diesmal liegen die Bücher quer. Sie sind oder waren tatsächlich aus Papier. Hubertus Gojowczyk verfugte sie mit Mörtel und nannte das Ganze Tür zur Bibliothek.
~~~ Vermutlich muß dieses Documenta-Überbleibsel von 1977 als scharfe Warnung vor dem Betreten von Bibliotheken aufgefaßt werden. Eine Begründung gibt der Künstler nicht. Behelfen wir uns mit Lichtenberg. Er notiert, die vielen vorzüglichen Bücher hätten leider den einen Nachteil, »gewöhnlich die Ursache von sehr vielen schlechten oder mittelmäßigen« zu sein.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 39, Oktober 2024
* Möglicherweise geht Lichtenbergs Hieb gegen Bücher, denen unschuldige Bäume weichen müssen, am Kern des Problems vorbei. In einem erst kürzlich veröffentlichten Artikel [ https://www.manova.news/artikel/gefahrgut-buch, 14. November 2024] behaupten Gerd und Renate Reuther, der Holzverbrauch für Buchherstellung sei vergleichweise gering. Die IT-Branche und ihre politischen VollstreckerInnen nähmen ihn aber gern zu den grün angestrichenen Vorwänden, mit denen sie neuerdings unerbittlich die Abschaffung des gedruckten Buches betrieben. Wir sollen die Bücher gefälligst online lesen, denn dort sind sie (und wir) viel leichter kontrollierbar.
Zahlen → Quantitatives Denken
Statt meine kritischen Stellungnahmen zur Lyrik, insbesondere der Modernen, zum x-ten Male vorzutragen, will ich ein Loblied auf meinen guten Bekannten Maximilian Zander (1929–2016) singen, der leider schon seit acht Jahren unter der Erde liegt. Zander war Chemiker – und Lyriker. Brockhaus kennt ihn selbstverständlich nicht. Das paßt aber zu diesem Akademiker, weil er ausgesprochen uneitel war. Er pflegte seine Verdienste als Chemiker, Lyriker und Familienvater noch nicht einmal an ein Maiglöckchen zu hängen, obwohl er in der Ruhrgebietsstadt Castrop-Rauxel (auch die kennt keiner, habe ich recht?) ein Einfamilienhaus mit Garten bewohnte. Als Pädagoge und Leser hatte er ebenfalls Qualitäten, die mir seit Ende 2001 zugute kamen. Damals spitzte ich über der Jahresschrift Muschelhaufen, die auch mir schon die Spalten geöffnet hatte, bei einer Handvoll Aphorismen Zanders die Ohren. Der vergleichsweise alte Mann murmelt da etwa: »Es kann lange dauern, bis man merkt, daß man gestorben ist.« – »Ein erfahrener Hellseher sieht erst einmal schwarz.« – »Früher galt als Künstler, wer ein Kunstwerk hervorbrachte. Heute gilt als Kunstwerk, was ein Künstler hervorbrachte.« Das fügte sich trocken und nahtlos in ein Bollwerk gegen den sogenannten Erweiterten Kunstbegriff ein: Robert Gernhardt. Dieses Bollwerk fiel 2006. Zander erwiderte treu meine Briefe und schrieb nach wie vor Gedichte. Das war allerdings ein heikler Punkt in unserem Verhältnis – und nicht der einzige.
~~~ Wie Sie vielleicht schon wissen oder ahnen, halte ich von Moderner Lyrik, soweit sie ungebunden, dafür jedoch umso verrätselter daherkommt, gar nichts. Sie stellt für mich die Documenta der Literatur dar, nämlich einen Tummelplatz für Windbeutel und SchaumschlägerInnen. Auf ihn hatte sich auch Zander verirrt, der wahrlich weder das eine noch das andere war. Und angesichts seiner großen Klugheit und seines filigranen Sprachgefühls war es ein Jammer. So zehrte ich vor allem von unsrer Korrespondenz, die mir jede Menge Anregung und Anerkennung schenkte. Ohne Zander hätte ich den vielen Körben, die mir der Literaturbetrieb Anfang dieses Jahrhunderts an den Kopf warf, kaum widerstanden. Dafür war er selber jedoch hart im Nehmen. Griff ich im Meinungsstreit zu Titulierungen wie »Bürger« oder »Sozialdemokrat«, schluckt es der Forschungsleiter (in einer Fabrik) und Professor an der TU in Clausthal, Harz. Er glaubte, ob einer zum Radikalismus oder zur Versöhnung neige, entschieden dessen Gene. Wahrscheinlich hat der Chemiker recht. Da es auch unter Oberschichtlern Linksradikale gibt, kann man auf soziale Lagen offenbar unterschiedlich reagieren. Man sieht das zuweilen auch an Geschwistern, etwa Brüdern. Sie kommen aus demselben Stall, doch der eine Bruder wird »Che von Kassel«, der andere Postbeamter, bis er als Regierungsrat in Rente gehen darf.
~~~ Hier liegt der nächste heikle Punkt. Was Biografisches und Gefühlsleben angeht, hielt sich Zander in unserem Briefwechsel von Anfang an bedeckt. Erwähnte er, schon früh einen Sohn verloren zu haben, kam es bereits einer Herzausschüttung gleich. Ob und wie ihn dieser Verlust schmerzte und prägte, verriet er nicht. Da ich selber in Briefen eher viele Auskünfte gebe, erhält das Schiff der Kommunikation natürlich Schlagseite. Diese Ungerechtigkeit machte mich zuweilen wütend. In anarchistischen Kommunen ist Schlagseitenkommuni-kation verpönt. Alle haben sich ähnlich weit zu öffnen. Diese Öffnung hält die Verletzbarkeit gleich, dient aber auch als Riegel gegen Mutmaßungen, Unterstellungen, Groll. Zu allem Unglück gesellte sich zu Zanders Zugeknöpftheit der Zündstoff des klassischen Vater-Sohn-Konfliktes, war er doch gut 20 Jahre älter als ich. Keine Zuneigung ist ohne Machtkampf zu haben.
~~~ Immerhin tobte oder kratzte er in unserem Fall bloß auf Briefpapier. Distanz mildert. Im Sommer 2006 schrieb Zander, er ziehe vor Gernhardt auch deshalb den Hut, weil er sich bis zuletzt (Später Spagat) mit dem Tod auseinandergesetzt habe. Ich erwiderte, dann sei es ja nicht mehr taktlos, sich auch einmal bei ihm zu erkundigen, wie er es mit dem Tod und vielleicht mit Gegenmaßnahmen halte. Vielleicht hätten wir uns Zaubermittel oder wenigstens Trost zu bieten. Diese Anfrage überging er jedoch wie schon manche Anfragen zuvor. Gewiß hatte er seine Gründe dafür – die er nicht preisgab. Wollte auch ich mich einmal als Aphorist versuchen, wäre hier der Hinweis fällig: Um uns aufzupäppeln und uns einzutrichtern, wie das Leben zu meistern sei, vergeuden unsere Eltern 20 Jahre ihrer kostbarsten Zeit. Für die heikle Frage unseres Abgangs opfern sie keine 10 Minuten.
~~~ Wer Zander in einem Gedicht zu sich nehmen möchte, hat ihn auf den Seiten 61 bis 63 seines Bändchens Antrobus‘ Tagebuch von 2004 gleichsam wie im Weinglas. Da sitzen »Ein paar ältere Herren« zusammen. Auch Zanders Verschlossenheit hat man in diesem funkelnden, tulpenförmigen Glas. Die Lage ist ernst, sagen Sie? / Ach, junger Freund, / es geht immer um Leben & Tod, / und hier sprechen Sie mit Experten. Aber sie erklären sich eben nie; sie unterhalten sich lieber mit Anekdoten, Bonmots, Zitaten. Jetzt glänzt der Gastgeber (das meine ich durchaus bewundernd) mit folgenden Worten. In der vierten Strophe / sollte der Mond erscheinen, / und, bitte: da ist er. / Na, dann reden wir mal / über die Wahrheit / der Dichter, der Physiker. / Am Ende stehen die Quoten / 3:2, aber für wen / wird nicht verraten.
~~~ Für den Leser jedenfalls nicht – will doch der Lyriker Zander verhüllen statt aufdecken. Hier hätten Sie zum Schluß auch ein wichtiges Glaubensbekenntnis hinsichtlich meines eigenen Schaffens.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 23, Juni 2024
Zeit (Beschleunigung)
Der U-Sänger aus Uruguay Julio Sosa (1926–64) ist ab 1949 in Buenos Aires tätig, wo er rasch zu Ruhm, Geld und dem Titel »El Barón del Tango« kommt. Was Wunder, wenn sich Sosa, bei seiner Männlichkeit, auch für Sportwagen begeistert und etliche Unfälle baut. Zuletzt, in den frühen Morgenstunden des 25. November 1964, rast er in der Avenida Figueroa Alcorta der argentinischen Hauptstadt mit einem DKW Fissore nach einem »wilden« Ausweichmanöver* gegen den Betonpfeiler einer Lichtsignalanlage, woran er, mit 38, am nächsten Tage stirbt. Von weiteren Personenschäden ist nichts zu lesen. Er allein genügte bereits, um Lateinamerika vorüber-gehend auf Tränen schwimmen zu lassen. Schließlich war die Angelegenheit, um einen Schlagertitel des Künstlers aufzugreifen, weder Leichtsinn, Schwermut, Größenwahn gewesen; vielmehr »Mala Suerte«, nämlich Pech.
~~~ Ich gebe zu, sie war auch ein Zeitproblem gewesen. Stars wie Sosa haben es beträchtlich eiliger als der gewöhnliche Sterbliche, weil sie ja auch viel mehr Geld verdienen müssen als der. Man kennt diesen Zusammenhang vielleicht: Zeit ist Geld. In grauer zähflüssiger Vorzeit war er allerdings unbekannt. Homo erectus hat seinen Faustkeil über eine Million Jahre hinweg nahezu unverändert hergestellt. Auch was unseren gedrungenen und behaarten Vetter aus dem Neandertal angeht, konnten die ForscherInnen für den beachtlichen Zeitraum von 20.000 Jahren keine erwähnenswerte Veränderung in der Werkzeugtechnik auffinden. Dasselbe gilt für die eiszeitlichen Bildwerke, die wir Kunst nennen. Sollten sie damals schon einen Mozart gehabt haben, hat er sicherlich nur Langsame Walzer auf seine Tontafeln geritzt.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Thomas Wirth / Stefan Warter, https://www.octane-magazin.de/die-schoene-in-der-fremde/, Magazin Octane, Nr. 13 (wohl von 2014)
Siehe auch → Fortschritt, Keine Zeit → Geld, Tauschland → Kosmologie, Saurier → Pferdesport, Steenken
Irgendwo hat Brockhaus den Ortsnamen Zibelle versteckt, inzwischen polnisch Niwica. Durch diesen verheißungsvoll klingenden Ortsnamen, auf den ich noch zurückkommen werde, stößt man wiederum auf den hochgeehrten Physiker und Chemiker Walther Nernst (1864–1941). Er hatte seinen Eintrag bereits in Band 15 des Lexikons. Danach war Nernst in Göttingen und Berlin Professor, entwickelte unter anderem eine »Theorie der elektrischen Nervenreizung«, was aber anscheinend mit gewissen Gasangriffen im Ersten Weltkrieg nichts zu tun hat, und gab sich nebenbei sogar »kosmologischen Überlegungen« hin. 1920 habe er den Nobelpreis für Chemie bekommen.
~~~ Brockhaus gönnt dem Ruhmvollen sogar ein Paßfoto. Der Zaunkönig hätte sich allerdings etwas weniger Unvorteilhaftes auserbeten. Wir sehen Nernst mit Wangen wie aufgepumpte Ravioli, einem Walroßbart und üppig ausgedehnter Stirnglatze. Aber dafür konnte er ja womöglich nichts. Eine andere Sache sind die Taten. Während sich Hans-Georg Bartel in NDB 19 (1999) lediglich einen Satz zur militaristischen Neigung des Geheimen Regierungsrates abringen kann: er habe sich im Lauf des Ersten Weltkrieges »der Ballistik und Sprengstoffchemie« zugewandt, äußert sich Wikipedia unmißverständlich wie folgt: >Während des Ersten Weltkriegs arbeitete Nernst mit großem persönlichen Engagement für das Militär und hatte Zugang zu Kaiser Wilhelm II. Er war maßgeblich am Gaskrieg beteiligt, vor allem als Entwickler von Geschossen und Geschützen. Dabei arbeitete er eng mit den Chemikern Carl Duisberg und Fritz Haber zusammen. Nach dem Krieg tauchte sein Name auf diversen Kriegsverbrecher-Listen auf, er wurde aber letztlich nicht angeklagt.<
~~~ Nernst war Demokrat. Deshalb soll er sich den Nazis kurzerhand entzogen haben, war er doch sowieso schon pensionsreif und überdies schwerreich. Der 69jährige habe sich im Oktober 1933 emeritieren lassen. Hier kommt nun das Rittergut in der Lausitz ins Spiel, das der Nobelpreisträger bereits 1921 erworben hatte. Nun habe er sich um die Landwirtschaft und mit Vorliebe um seine Karpfenzucht mit zahlreichen Teichen gekümmert. Auch sei er gern auf die Jagd gegangen.
~~~ Niwica liegt östlich von Bad Muskau jenseits der Neiße im polnischen Randgebiet. Nernsts Anwesen war das ehemalige Rittergut in Oberzibelle. Der deutsche Ortsname wird gewöhnlich auf altslawisch cebulja = Zwiebel zurückgeführt. Vielleicht hatte Nernst in seinen Backentaschen also Zwiebeln versteckt, weil er sie sowieso selber anbaute. Das wäre kein Diebstahl gewesen. Eine andere Frage ist, ob man seinen Wohlstand und dessen zielstrebige Zusammenraffung als »demokratisch« auffassen sollte. Immerhin waren ja auch die slawischen, sorbischen oder polnischen Äcker und Herrenhäuser einst mit Absicht tüchtig »germanisiert« worden. Leider treibe ich im Internet keine Abbildungen des Nernstschen Alterssitzes auf. Möglicherweise ist er in bolschewistischen Nachkriegszeiten geschliffen worden. Vermutlich durfte Witwe Emma vorher das Tafelsilber einpacken und verschwinden.
~~~ Laut den Vertriebenen* hatte Nernst Emma Lohmeyer, Tochter eines Medizinprofessors, 1892 geheiratet. Es folgten drei Töchter und zwei Söhne. Diese kamen beide im Ersten Weltkrieg um, hoffentlich nicht durch vom Vater miterzeugte Waffen. Die Vertriebenen leugnen diesen Zusammenhang erstaunlicherweise keineswegs. Mit dem Nobelpreis seien jedoch die heftigsten Vorwürfe gegen den Militaristen Nernst verstummt. Nernst litt zunehmend am Entzug zweier Töchter, die wegen jüdischer Ehemänner wohlweislich im Ausland lebten. 1939 erlitt er einen Herzanfall – das wird aber nicht dem Überfall Polens angelastet. Zwei Jahre darauf sei der 77jährige gestorben. Die Witwe folgte ihm erst 1949 ins Grab.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024
* Hans-Jürgen Kämpfert, https://kulturstiftung.org/biographien/nernst-walther-herrmann, Stand 2024
Ich vermute stark, allein in Deutschland haben wir etliche hundert Ziegenberge. Der Waltershäuser Ziegenberg, auf der Kuppe bewaldet und nur zur Stadtseite hin bebaut, ist 410 Meter hoch. Ich erklimme ihn, seit 2003, mehrmals jährlich, obwohl mir dabei noch nie ein Schwarzspecht zu Gehör oder Gesichte kam. Der wuchtige Vogel ist ein begabter, ja sogar bezaubernder Sänger. Alte Buchen hätte er hier. Aber er hat das Terrain dem Kolkraben überlassen, der eher wie ein Neufundländer bellt oder grollt.
~~~ Wie sich versteht, ist hier von Ziegen kein Zipfel mehr zu entdecken. Geht die Verarmungspolitik unserer neuen Gesundheitsregierungen so weiter, könnte sich das noch ändern. In meiner Jugend galt die Ziege als »Kuh des Kleinen Mannes«. Nicht selten wurde sie zugleich als dessen Wachhund geschätzt. Die Ziege braucht wenig Platz und ist genügsam. Wird sie nicht daran gehindert, kann sie allerdings unter Umständen ganze Landschaften kahlfressen, da sie Gräsern Kräuter und Laub vorzieht. Wiesensalbei und Trollblume wagt sie immerhin nicht anzutasten. Sie liefert wie die Kuh Fleisch, Leder, Käse, gibt aber mehr Milch als ein Schaf. Sie teilt sich ihre Weidegründe oder Ställe mit fast allem, was vier Beine oder zwei Flügel hat. Pferde sind bekanntlich Herdentiere. Droht Ihre Fuchsstute zu vereinsamen, müssen Sie ihr eine »Beistellziege« verordnen. Andja, die Ziege des alten Fischers Gorian, teilt sich ihren Stall mit fünf Hühnern. Allerdings wissen das Branko und Die rote Zora nicht, die dem Alten im Morgengrauen zwei Hühner stehlen. Kaum sind die Gickel in den Sack gestopft, fängt plötzlich eine Ziege an zu meckern! So bekommt Gorian den Diebstahl mit – nur hockt er leider gerade auf See in seinem Boot. Er ertappt Branko und Zora erst in der nächsten Nacht, als sie die beiden Hühner reumütig zurück zu schmuggeln gedenken! Die Kinder dürfen mit ins Boot, Thunfische jagen.
~~~ Ob Gorian seine gute Andja an Land als Last- und Zugtier einsetzte – wie seit altersher in aller Welt – teilt Romanautor Kurt Held nicht mit. Schon der Streitwagen des germanischen Donnergottes Thor wird von zwei Ziegenböcken gezogen. Einen benebelten Abglanz davon geben heute nur noch johlende Männer am sogenannten Vatertag, sieht man einmal vom touristischen Fahrgeschäft ab, das Zugtiere zu Affen herabwürdigt, auf daß sie mit dem Niveau der Fahrgäste Schritt halten können. Wo sie auch gröhlen oder tuscheln mögen, sie streifen jede Wette, wie schon angedeutet, einen Ziegenberg. Die hohe Wertschätzung, die Ziegen seit der Jungsteinzeit genießen, drückt sich ferner in zahlreichen Namen von Pflanzen (beispielsweise Geißbart), Tieren (der Vogel Ziegenmelker) und Ortschaften aus. Ziegenhain, ehemals Residenz- und Kreisstadt, liegt an einem Fluß meiner Kindheit, der mittel- und nordhessischen Schwalm. Die GestalterInnen des Ziegenhainer Stadtwappens würfe man heutzutage wegen Männer- und Russenfreundlichkeit kurzerhand auf den Scheiterhaufen: Das stilisierte kämpferische Wappentier sieht unter der Gürtellinie wie ein Hahn, über ihr wie ein Ziegenbock aus, und zu allem Überfluß schreitet es in den Strahlen eines roten Sternes.
~~~ Der schweizer Clown Marco Morelli hat ebenfalls ein Herz für Ziegen. Auf seiner Webseite erwähnt er einen alten Tessiner Bergbauern aus seiner Jugendzeit, den er beim »Metzgen« seiner alten Geiß beobachten konnte. Diese Ziege hatte dem Mann seit vielen Jahren Milch und Käse und etliche Zicklein beschert. Nun saß er hinter dem Stall auf einem Stein, fütterte das Tier mit Heu, liebkoste es, sprach mit ihm … »Über eine halbe Stunde lang ging das Abschiednehmen, ruhig, zärtlich und friedlich. Dann hat er sie umarmt und mit dem Messer einen gekonnten Schnitt durch Halsschlagader und Kehle gemacht. Das ging alles so schnell wie bedächtig. Kein Knall, kein Zucken, kein Schrei; kein Männer-Helden-Gehabe. Klar hat der Bauer die Geiß gehalten, sehr innig sogar, und so ist sie ihm beim Ausbluten buchstäblich in den Armen 'eingeschlafen'. Das hat mir grossen Eindruck gemacht.«
~~~ Laut griechischer Mythologie wurde sogar ein Gott, nämlich Zeus, mit Ziegenmilch aufgezogen – die näheren Umstände sind umstritten. Die einen sagen, die Nymphe Amalthea habe ihm die Ziegenmilch verabreicht; für die anderen war Amalthea selber die Ziege, bot Baby Zeus also ihre Zitzen dar. Montaigne legt die zweite Leseart nahe, wenn er in seinen Essays (um 1600) erwähnt, in den Dörfern der Dordogne werde so manche Amme durch eine Ziege ersetzt. Die müssen da ziemlich großmäulige Säuglinge gehabt haben.
∞ Verfaßt um 2010
Die nordhessische Kleinstadt Zierenberg liegt westlich von Kassel unmittelbar an der Warme. Ich habe erst kürzlich unter → Starck vom Warmetal geschwärmt. Zierenberg war immer die größte Siedlung dort, konnte sich aber noch bis um 1965 stets unter 3.000 EinwohnerInnen halten. Derzeit sind es knapp 7.000. Man hat sogar ein Stadtarchiv. Vor inzwischen rund fünf Wochen erkundigte ich mich bei diesem nach einem tödlichen Unfall beim Bau eines Wasserhochbehälters um 1955. Stadtkirchenpfarrer Michael Hederich (1920–2018) half den »Familienvater« vermutlich bestatten, bringt es gleichwohl fertig, ihn ohne Namensangabe zu streifen. Hederich ist der Herausgeber und Hauptautor des Werkes Zierenberg / in Geschichte und Gegenwart von 1962. Das Stadtarchiv schickte mir sogar postwendend eine automatische Eingangsbestätigung. Man werde die Anfrage »schnellstmöglich« bearbeiten. So sieht das heutzutage aus: Der Roboter reagiert in Sekundenschnelle – und damit hat die Behörde vermutlich ihre Schuldigkeit getan. Mir ist bislang keine Antwort zu Gesicht gekommen.
~~~ Das kann meine herzlichen Gefühle für das Städtchen nicht erschüttern. Ich bin auch früher schon wiederholt auf Zierenberg eingegangen, vor allem in mehreren Fallge-schichten um den Karlskirchener Kriminalkommissar Düster. Gleich in der ersten Geschichte (Kapitel 7) stellt sich die Lehrerin und Buchautorin Ilona Velberting aus Zierenberg in Stubenrauchs Antiquariat am Karlskirchener Amtsgericht ein. Sie wird Düsters Geliebte. In Kapitel 14 wandert er mit ihr zum Schloß Escheberg hinaus, das nicht weit von Zierenberg mitten im Wald liegt. Das Schloß kommt in Ilonas jüngstem Buch vor, das mit dem Satz beginnt: »Der Robin Hood des Warmetals war eine Frau.« In der zweiten Düster-Geschichte, Kapitel 3, wird einiges zum Zierenberger Ortsnamen gesagt. Und in der sechsten schließlich, Kapitel 2, findet sich sogar Hederichs Stadtgeschichte recht ausführlich vorgestellt, wenn auch nicht rundum in bestem Lichte. »Mückenschuster« Roth hat sie gerade bei Stubenrauch erworben – und Ilona kann sich vor allem zur Typografie und zum Stil des Werkes einige bissige Bemerkungen nicht verkneifen.
~~~ Das schließt sogar eine gewisse Beschränktheit des Stadtchronisten in politischer und philosophischer Hinsicht ein. Nun ja – was will man von »Laien-historikern« (wie man mich einmal beschimpfte) schon Besseres erwarten ..? Was ich persönlich vor allem ärgerlich finde, daß Hederich nun dieses schön von Hügeln eingefriedete Städtchen von fast idealer Kleinheit vor der Nase hat, und zwar über viele Jahrhunderte hinweg, trotzdem aber nie mit nur einem Hauch andeutet, hier wäre es doch eigentlich naheliegend, sich von allen idiotischen Fürsten und Landräten zu lösen und mal ein eigenes, selbstverwaltetes, freiheitliches Ding aufzuziehen. Die frömmelnden, frühneuzeitlichen »Brüderschaften« innerhalb der Stadtmauern bieten in dieser Hinsicht wahrlich keinen trostreichen Ersatz.
~~~ Dennoch muß auch Brockhaus ein dickes Versäumnis angekreidet werden. Sein Eintrag umfaßt immerhin über 10 Zeilen – aber die einzige gedruckte Zierenberger Stadtgeschichte fehlt. Warum wird sie nicht angeführt? Das ist entweder ein schwaches Bild oder eine unverzeihliche Schlamperei. Schließlich verfügte die Brockhaus-Redaktion über einen riesigen Apparat, viele hundert MitarbeiterInnen eingeschlossen, dem Hederichs Arbeit unmöglich verborgen bleiben konnte.
~~~ Apropos. Im letzten Band (24) zählt Brockhaus zwar die ganzen wissenschaftlichen MitarbeiterInnen auf, doch keiner weiß, was diese Leute nun beigetragen haben und für was sie somit verantwortlich sind. Das bleibt Betriebsgeheimnis. Ergo sind diese Personenlisten nicht mehr wert, als die unzähligen Doktor- und Professoren-titel, von denen sie wimmeln. Wahrscheinlich liegt darin ihr Hauptzweck: Mittel der Einschüchterung zu sein und so kritische Nachfragen von vornherein zu unterbinden. Gewiß wäre es auch denkbar, kurzerhand »die Redaktion« für die Verantwortliche zu halten. Wie jedoch sollte das bei einem solchen Mammutwerk fruchtbar zu machen sein? Die Redaktion umfaßt ungefähr 90 Personen. Aber bei denen hat man auch nur die Namen – und folglich kann sie sich immer darauf zurückziehen: den Mist Soundso hat Frau Dr. Prof. Ziege gemacht, die leider schon verstorben ist.
~~~ Sehen wir einmal von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit solcher riesigen Sammelarbeiten ab, wäre es immer noch das Mindeste, jeden Eintrag mit einem Kürzel zu versehen, das dann im letzten Band erläutert wird. Das hielt Brockhaus jedoch für überflüssig. Noch viel übler liegt die Angelegenheit natürlich bei der Mammut-Internet-Enzyklopädie Wikipedia, die nicht im Traum daran denkt, persönliche Verantwortlichkeit anzubieten. Das ginge schließlich gegen ihr haarsträubendes Konzept. »Hier kann jeder mitmachen, also ist keiner verantwortlich.« Die Krönung der postmodernen Unverbindlichkeit. Die ideale Tarnung für die alten Hasen, die in diesem Verein die Strippen ziehen. Heinrich Hannover würde vielleicht auf den demokratischen Rechtsstaat setzen – aber nach allem, was ich beobachte, scheißt unser Rechtsstaat den Leuten etwas, die sich inzwischen gegen Wikipedia-Verleumdungen zur wehren versuchen. Übrigens hat der Verein auch enormes Geld, soweit ich weiß. »Spendengeld«. Mit soviel Geld unterm Arsch kann man gelegentlichen Anpinklern getrost ins Auge blicken. Das galt selbstverständlich auch schon für Brockhaus.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024
Täuschen mich mein Gedächtnis und mein Quellen-studium nicht, wohnte ich vor knapp 50 Jahren, im Sommer 1976, dem sogenannten »Durchbruch« der bald darauf weltberühmten Geschwister Pötterstein bei. Sie traten damals in einem Gastspiel des eher kleinen Zirkus Grübchen auf. Das Zelt stand auf dem damals noch ungepflegten Platz unweit des Anhalter Bahnhofs, auf dem inzwischen das Tempodrom ansässig ist. Die dreiköpfige Clown-Gruppe Geschwister Pötterstein war bis dahin noch wenig bekannt, wenn ihr auch KennerInnen eine große Zukunft vorhersagten. Die drei im einzelnen nannten sich Dag, Trick und Schlapp. Dag war sogar eine Frau, Ende 20, schon das war damals noch selten. Ferner wußte man auch im Straßentheater Kreuzberger Asphaltoper, dem ich gerade beigetreten war: diese Clowns treten stets unkostümiert und nur spärlich geschminkt auf, sprechen so gut wie nie und beherrschen von der Pantomime bis zum Flickfack so ungefähr alles, was den Zirkus anziehend macht. Also gingen wir geschlossen hin.
~~~ Wir hatten Glück. Die Geschwister Pötterstein hatten eine neue Nummer eingeübt, die mit dem Kinderwagen. Sie war damals noch kaum einem Zeitungsschreiber bekannt. Eben damit »brachen sie durch«. Dabei fing die Sache recht gemütlich an. Schlapp, eine Bohnenstange mit Hängeschnauzer um 30, trat an der Seite der deutlich kleineren und hübscheren Dag aus dem Vorhang. Sie freuten sich sichtlich über das gute Spazierwetter und das zahlreich erschienene Publikum. Den erstaunlich unförmigen Kinderwagen schob Schlapp, der stolze Vater. Er steckte in einem lose geschnittenen hellen Sommeranzug, der mit seinem Schnauzbart um die Wette wackelte. Schlapp versäumte es nicht, ab und zu gestische Albernheiten in das Ausguckmaul der hochgeklappten Kinderwagenhaube zu werfen, seine Gattin auf verschiedene Sehenswürdigkeiten aufmerksam zu machen, seine Lust auf einen Zigarillo anzudeuten und so weiter. Während sie so durch die mit einem Teppich belegte Manege zogen, fragte man sich allerdings bald, wo eigentlich der Dritte im Bunde bleibe, Trick. Man muß dazu wissen: Trick war nicht nur der jüngste, sondern auch der körperlich kleinste der drei Clowns. Er maß nur knapp 1,54, hatte ich gelesen. Die Unförmigkeit des Kinderwagens wurde auch am Fußende betont, wo eine Art Federbett herauszuhängen schien. Vielleicht sollte es dem Baby nicht zu heiße werden. Auch das vermeintliche blauweiß karierte Federbett, das fast auf dem Boden schleifte, schaukelte sanft. Da flüsterte mir Roswitha plötzlich zu: »Ick gloobe, der Dritte steckt in det Monstrum von Kinnerwagen. Un weeste, wo er sinne Beene hat? Na, unter det olle Federbett ..!«
~~~ Sie sollte recht behalten. Und schon ging es los. Schlapp ließ jäh die Lenkstange fahren, um sich verdutzt in sein zerknittertes Gesicht zu fassen und dieses nach dem Zeug abzutasten, das ihm vom Hängeschnauzer troff. Es waren die Überreste einer faulen Tomate. Das fand er natürlich unerfreulich. Er sah mit Leidensmiene an seinem eben noch makellosen hellen Sommeranzug herunter. Als sich dann auch noch Dag an den Mund faßte, weil sie wohl kichern mußte, verabreichte ihr Schlapp erbost eine deftige Ohrfeige. Das ließ sie sich selbstverständlich nicht gefallen. Sie trat ihn so mächtig in den Hintern, daß er vornüber auf das vermeintliche Federbett kippte. Darauf kippte auch der Wagen, doch Trick, der den Säugling gespielt und die Tomate abgefeuert hatte, sprang noch rechtzeitig heraus. Jetzt kam er sofort seiner Mutter zur Hilfe. Allerdings war Schlapp kein Glockenstrick, und so tobte die Schlacht über mehrere Minuten, wobei die drei Artisten mit Scherensprüngen, Überschlägen vor- und rückwärts, Stemmen des Kinderwagens und was sonst noch allem glänzten. Das Publikum jauchzte, die Kapelle schmetterte. Schließlich hatten Dag und Trick den empörten Vater überwältigt und mit dem Gürtel von Tricks geblümtem Bademantel gefesselt. Diesen ließ er nun fallen, sodaß er nur noch in einem flotten Trikot steckte. Er klaubte ein paar rote Dinger aus dem Kinderwagen und fing gemeinsam mit Dag zu jonglieren an. Es waren sieben feste Tomaten. Jeweils einen Fuß auf den besiegten Schlapp gesetzt, warfen sie sich diese »Bälle« von zwei Seiten aus tatsächlich in enormer Geschwindigkeit zu, ohne daß auch nur eine Tomate auf den Teppich beziehungsweise auf Schlapp gefallen wäre. Rauschender Beifall! Das bewog nun Schlapp dazu, sich aus dem Bademantelgürtel zu befreien und sich mit weiteren fünf Tomaten an diesem Akrobatenstückchen zu beteiligen. Man stelle sich vor: drei im Dreieck aufgepflanzte Leute jonglieren in beachtlichem Tempo gemeinsam mit 12 Tomaten!
~~~ In der Westberliner Presse hieß es anderntags, sowas hätte »die freie Welt« noch nie gesehen. Naja, wir befanden uns in der Frontstadt. Schließlich ließen die Geschwister Pötterstein am besagten Abend ihren Kinderwagen im Stich und schritten auch noch jonglierend in Dreiecksform auf den Vorhang zu. Den hielt ihnen der Direktor persönlich mit Verbeugung auf. Der Zirkus tobte.
~~~ Um denkbaren Mißverständnissen vorzubeugen: die Pöttersteins hat es nie gegeben. Dafür ist der im folgenden vorgestellte Circus Herkules nicht von mir erfunden. Im Jahr 2006 zählte er zu den »mittelgroßen« Zirkusunter-nehmen, und wie mir Direktor Klaus Bachmann (Mitte 50) damals verriet, gastiert er pro Saison (März bis November) in mindestens 70 zumeist mitteldeutschen Städten. Stammsitz ist Kassel. Rechte Hand des Chefs ist nicht Herkules mit der Keule, vielmehr der durchaus muskel-bepackte, ungefähr 50 Jahre alte Rudolf Janäczek vom Prager Trio Venus. Stapft der blondmähnige Hüne über den versengten Rasenplatz, den Blick gedankenverloren vor seine Glocks geheftet, ahnt man, auf welchem brüchigen Boden die Artisten wandeln. Jederzeit drohen Sturz, Streit, Pleite.
~~~ Bachmann reist in der Regel erst zur ersten Vorstellung am Gastspielort an. Mit Hilfe von sieben Zugmaschinen ist seine rund 20köpfige Truppe imstande, einen Platzwechsel bis zu 100 Kilometer ohne Ausfalltag vorzunehmen, doch wird sie zuweilen auch von einer Terminlücke zum Warten gezwungen. Die meisten Artisten leben in eigenen, modernen Campingwagen, die ihnen den üblichen Komfort, etwa Dusche und Klimaanlage, bieten. Für Wasser- und Stromanschluß sorgt der Chef. An jedem zweiten Wagen kläfft mich irgendein groteskes Hündchen an, das ich bequem in meine Umhängetasche stecken könnte.
~~~ Im Hauptzelt hat jemand Konservenmusik angeworfen. Wegen der drückenden Sommerhitze sind die Seitenwände hochgerollt. Deshalb sieht »Rudi Junior« seine weißen Keulen auch ohne Scheinwerferlicht gut genug. Der hochgewachsene 17jährige, der gern sein langes, braunes Haar wirft, jongliert mit bis zu sieben Stück, meistens im Affentempo. Verfehlt er eine Keule, bückt er sich nicht etwa; er schlenzt sie wie ein Fußballspieler mit Spann oder Ferse in seine Hand. Manchmal schleudert er zwei oder drei Keulen bis unter die Kuppel des 4-Mast-Zeltes, um während ihrer Rückkehr Saltos zu schlagen oder Pirouetten zu drehen. Dann fängt er sie wieder auf. Ist das Zelt ausverkauft, klatschen rund 800 Leute. Tatsächlich kann Rudi auch mit fünf schwarzweiß gefleckten Fußbällen in rasender Geschwindigkeit jonglieren. Er trainiert täglich drei oder vier Stunden, was »Rudi Senior« – sein Vater – nicht mehr nötig hat. Mit diesem und seiner Mutter Clara bildet er das Trio Venus, das mit sogenannten Stirn-Perchen arbeitet. Meistens ist es Rudi Senior, der die mit Trittstäben versehene drei oder vier Meter lange Stange vertikal auf seinem wuchtigen Schädel balanciert. Frau oder Junior klettern hinauf, um noch allerlei Kunststückchen zu vollführen.
~~~ Man könnte sich natürlich fragen, ob es die Menschheit erheblich beglückt, wenn einer ihrer Angehörigen im Affentempo Keulen kreisen läßt oder auf einer schwankenden Stirnperchenplattform von der Größe eines Frühstückstabletts in fünf Meter Höhe einen Salto schlägt. Lohnt es die Sturzbäche an Schweiß und den Abrieb der Bandscheiben, von Genickbrüchen einmal zu schweigen? Das Gleiche könnte man natürlich die Erfinder von Guillotinen, Limousinen, Schreibmaschinen fragen. Insofern spiegelt Zirkus lediglich die Ahnung, die Menschheit sei grundsätzlich verrückt.
~~~ Wer Klaus Bachmann sieht, will es kaum glauben. Der Herr Direktor wirkt unaufdringlich, ja fast bieder. Er war ursprünglich Bankkaufmann. Schon vor 30 Jahren (1976) begann er seinen Circus Herkules aufzubauen. Er organisiert, führt durchs Programm, zeigt Dressuren mit einigen Pferden und Exoten. Wohlweislich sitzt er auch selber im Kassenhäuschen. Seine Truppe scheint ihn zu schätzen. Er hält die vielen Gegensätze und Absonderlichkeiten unter einem Hut. Vielleicht schlichtet er auch gelegentlich, wenn Liebeshändel drohen oder Vater und Sohn aufeinander krachen. Rudi Junior hat bereits einen eigenen Campingwagen. Die Artistengruppen haushalten getrennt, laden sich aber öfter gegenseitig ein, zu gegrillten Thüringer Bratwürsten etwa nebst Budweiser Bier. Ist nichts los, hat jeder seine Satellitenschüssel.
~~~ Stallmeister Sascha Prehn aus Lübeck, der Bachmanns Tiere betreut, ist erst 25. Wie man Stallmeister werde? Da rutsche man so rein. Schon mit 16 entflammte ihn der Zirkus. Zwei Jahre lang sammelte er als Tierpfleger in einem Zoo Erfahrung. Auch Prehn preist das vergleichsweise ungebundene Zirkusleben, stets an der frischen Luft, Miete bleibt ihm und seiner Frau erspart. Für die Kätzchen seiner ebenfalls jungen Kollegin Carmen Zander ist er übrigens nicht verantwortlich. Die Berliner Tierlehrerin führt sie im eigenen Käfigwagen mit sich. Es handelt sich um fünf bengalische Tiger, die mit ihren sieben Monaten noch als Kinder gelten, obwohl sie schon länger sind als der gefällte Rudi Senior, falls er mal stolpern sollte. Um ihre Katzen zu nähren, muß Zander Tag für Tag 100 Kilogramm Fleisch bereit halten. Aus der Not eine Tugend machend, führt die Dompteuse mit Hilfe der Erläuterungen des Zirkusdirektors im Manegenkäfig vor, wie sich Raubkatzen geduldig erforschen und schließlich abrichten lassen. Dabei sei es unerläßlich, ihre jeweiligen Vorlieben, Begabungen, Charaktere zu berücksichtigen. Mit den Artisten scheint es sich ähnlich zu verhalten, wie Klaus Bachmann im Gespräch andeutet. Engagiere er, habe er mit viel Fingerspitzengefühl darauf zu achten, ob die Künstler(gruppen) auch zusammenpaßten. Ein Querulant könne das ganze Betriebsklima vergiften. Außerdem verlangt er selbstverständlich Professionalität. BewerberInnen müssen ihm Videos unterbreiten. In jedem Frühjahr bleiben nur wenige Tage am Ort des ersten Gastspiels, um die verschiedenen Nummern aufeinander abzustimmen. Dann steht die Show.
~~~ Keinen geringen Anteil an dieser hat das Trio Breslau, was ihm außerhalb des Zeltes kaum anzusehen ist. Die drei polnischen Musiker, nicht mehr blutjung, wirken eher wie Pantoffelhelden. Thronen sie aber an Schlagzeug, Keyboard und Saxophon/Posaune einen knappen Meter über der Manege, beeindrucken sie mit ihrem perfekten Schmiß. Mit jeweils rund 800 Euro netto pro Monat fühlen sie sich offenbar auch gut bezahlt. Die Eintrittspreise liegen zwischen 7 und 14 Euro, also im Schnitt vielleicht bei 10. Bachmann sagt, um auf seine Kosten zu kommen, benötige er einen Zuschauerschnitt von 200, den er eigentlich immer überbiete. In der Saison 2005 zog Circus Herkules rund 40.000 Leute an. Bachmann betont, im Gegensatz zu Opernhäusern oder Theatertruppen bekämen deutsche Zirkusse keinerlei Subventionen.
~~~ Nach Schmalhans riecht auch die Pause. Ich wähne den beleibten Schnauzbart vom Schlagzeug zunächst bei illegalem Futterhandel zu ertappen, doch er verkauft die Tütchen für die Tierschau offiziell. Die zwei Euro Eintritt zu den Gehegen kassiert der Chef wieder eigenhändig. Am Vormittag brütet der Schlagzeuger mit entblößtem Oberkörper in seinem winzigen Campingwagen vorm Fernsehgerät neue Trommelwirbel oder alte Tanzpalastpläne aus, während Rudi Junior die Keulen fliegen läßt. Dessen Vater, der schon seit über 30 Jahren mit stets ähnlichen Kraftakten imponiert, behauptet, durch diese Berufswahl sei ihm die Fabrik erspart worden. Bei der rasanten Rationalisierung dürfte sich das Problem für seinen Sohn, den »Tempo-Jongleur«, erübrigt haben. So hält sich der Junior an seinen Keulen fest.
~~~ Dagegen tritt Clown Darek neuerdings mit einem tropfenden Köfferchen auf. Er kräht, er müsse verreisen. Der Zirkusdirektor staunt. Während er seinem Clown das Reiseziel zu entlocken sucht, schnüffelt er neugierig, hält ein Gläschen unter die Tropfen, nimmt den ersten Schluck und schwärmt, es sei prima Wodka. Der Clown beteuert allerdings, es handle sich um reinrassigen Whisky. Schließlich springt das Köfferchen auf – und heraus hüpft eines der erwähnten Hündchen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024
Siehe auch → Angst, Veteranyi → In Konkurrenz zum Trio Breslau bringt Pianist Christian Nagel den letzten Titel der Platte Leon zu Gehör: abgang 2 (mp3, 2,490 KB)
Zwergrepubliken
Der nächste Porträtierte brachte es sogar zum Staatspräsidenten. Allerdings nur für 10 Tage. Wahrscheinlich hat Brockhaus ihn deshalb übergangen. Erst 25 Jahre alt, war der bulgarische Handwerker, Lehrer und Partisan Nikola Karev (1877–1905) im Jahr 1903 zum Präsidenten der Republik Kruševo ernannt worden. Ein Bildnis zeigt das Profil eines vollbärtigen Adlers, um das ihn sogar Größen wie Lenin oder Trotzki beneidet hätten. Genauer erblickte Karevs Republik am 2. August 1903 das Licht der Welt, nachdem 750 KämpferInnen im Rahmen des damaligen anti-osmanischen Aufstandes Kruševo, eine Kleinstadt im Südosten Mazedoniens, »befreit« hatten. Am 13. August kehrten die Truppen des Sultans zurück, um der Posse ein Ende zu bereiten – vermutlich ein blutiges.
~~~ Als Kader der bulgarischen Sozialdemokratie hatte Karev ein sozialistisches und internationalistisches Programm verfochten, das sich dann auch im Manifest von Kruševo niederschlug. Im Rat der Republik saßen je 20 VertreterInnen der Bulgaren, Griechen und Rumänen. Wie sich versteht, hatte die Republik sofort gewichtige Ämter vergeben – Hristo Kjurchiev etwa wurde für die 10 Tage Außenminister. Präsident Karev konnte nach der Zertrümmerung der Republik Richtung Bulgarien entkommen. Wieder Partisanenführer, wurde er zwei Jahre darauf, inzwischen 27, unweit der mazedonischen Kleinstadt Rajčani im Gefecht von einer osmanischen Kugel tödlich getroffen. Zur Strafe für die Kurzlebigkeit der von ihm geführten Republik setzte man ihm in Kočani ein weißes, klotziges Denkmal, das wahrscheinlich schon zahlreiche Angriffe von sowjetischen Panzern überlebt hat.*
~~~ Gewiß wimmelt die Weltgeschichte von mehr oder weniger kurzlebigen Republiken oder Kommunen, sodaß sich Mazedonien nicht zu schämen braucht. Während die in Süddeutschland angestrebte Badische Republik im Sommer 1848 nie so recht auf die Beine kam, bestand die Pariser Kommune von 1871 für immerhin neun Wochen. Die Ungarische Räterepublik von 1919 hielt sogar gut vier Monate durch. Die verwandte Münchener Räterepublik brachte es dagegen, im selben Jahr, lediglich auf vier Wochen. Was Kruševo betrifft, wurde es im Herbst 1944 von der pimontischen Kleinstadt Alba (Norditalien) überflügelt, die für 23 Tage eine Republik sah. Dann kehrten die von den Deutschen unterstützten »Schwarzhemden« Mussolinis wieder.
~~~ Diese Posse wird kongenial von einem der damals beteiligten Partisanen, Beppe Finoglio, in seiner Erzählung Die dreiundzwanzig Tage von Alba geschildert. Einmarsch der Partisanen der Langhe: »Da hängte sich jemand ans Seil der Großen Glocke der Kathedrale, andere an die Seile der Glocken der anderen acht Kirchen von Alba, und es war, als würden Bronzesplitter über die Stadt herabregnen. Die Leute, unbeweglich oder im Gehen, zogen den Kopf zwischen die Schultern und wirkten wie Betrunkene oder wie jemand, der Angst hat, gekitzelt zu werden.« Der italienische Schriftsteller wurde trotz Demobilisierung nicht viel älter als Karev; er starb 1963 mit knapp 41 an Lungenkrebs.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 20, Mai 2024
* https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nikola_karev_kocani.JPG
Zwiespalt, Unruhe
Den Selbstmord des schwedischen Schriftstellers Stig Dagerman (1923–54) läßt Brockhaus, wie meist, im Dunkeln. Der junge Mann galt fast als Wunderkind. Lobt Brockhaus seinen Sammelband mit Reportagen Deutscher Herbst, erschienen 1947 aufgrund einer für Expressen unternommenen Reise durch das Nachkriegsdeutschland, als »originell« und »eindringlich«, kann ich kaum widersprechen, obwohl mir Dagermans Tonfall hin und wieder etwas zu naseweis vorkommt. Bekundet der Schwede Sympathie mit gewissen verbitterten deutschen Kommunisten, die der verpaßten Chance eines gewaltsamen, gesamtdeutschen Umsturzes gleich nach dem Krieg nachtrauern, bin ich sogar angenehm überrascht. Die westlichen, kapitalistischen Siegermächte hätten es wohlweislich unterlassen, einen »schützenden Kanonenring« um Deutschland zu legen, damit die Deutschen mit den verhaßten Braunen »selbst hätten abrechnen« können. Lieber isolierten sie die revolutionären Gruppen, die es überall gegeben habe, lese ich auf Seite 96.* »Die revolutionären Massen in den Konzentrationslagern wurden nicht auf einmal nach Hause entlassen, sondern in kleinen, ungefährlichen Gruppen, die Soldaten wurden in sehr kleinen Kontingenten freigelassen, und die Widerstandsgruppen in den Städten, die bereits vor Kriegsende mit einer oft strengen Entnazifizierung begonnen hatten, wurden von den Alliierten entwaffnet und durch die Spruchkammern ersetzt, die zulassen, daß sich Nazi-Staatsanwälte Bauernhöfe kaufen und daß antifaschistische Arbeiter verhungern.«
~~~ Dagerman war kein Gelehrter; er kam von unten. Seine Mutter, eine Telefonistin, verläßt ihn gleich nach der Geburt. Der Vater, ein Sprengmeister, gibt ihn zu den Großeltern, die einen ärmlichen Bauernhof betreiben. Mit 16 verliert Stig auch seinen Großvater, weil dieser von einem Geistesgestörten, wie es heißt, erstochen wird. Bald darauf erleidet seine Großmutter einen Schlaganfall. Mit 17 unternimmt Dagerman seinen ersten Selbstmordversuch, oder täuscht ihn jedenfalls vor. Auf dem Stockholmer Gymnasium gilt er als Tölpel vom Dorf. An den Wochenenden trägt er Zeitungen aus. Zwar gewinnt er in einem literarischen Schulwettbewerb eine Fahrt in die Berge, aber dort wird ein Freund und Zimmergenosse unter einer Lawine begraben. Nach der Schulzeit schlägt Dagerman die Laufbahn eines Journalisten und Erzählers ein. Er wird Gewerkschafter und regelmäßiger Mitarbeiter der anarchosyndikalistischen Tageszeitung Arbetaren. Hier begegnet er seiner ersten Ehefrau Annemarie Götze, die sich anscheinend im umgekehrten Verhältnis zum Anschwellen seines Ruhmes wieder von ihm absetzt. Mit 22 debütiert Dagerman (1945) mit seinem Roman Die Schlange, der die niederschmetternden Erfahrungen seines Militärdienstes verarbeitet. Dann nutzt er die Chance mit den erwähnten Reportagen. Vom ermutigenden Echo getragen, folgen rasch mehrere Erzählwerke, gipfelnd in den Romanen Gebranntes Kind (1948) und Schwedische Hochzeitsnacht (1949).
~~~ Doch dann häufen sich die Schwierigkeiten. Dagerman kann nicht mit Geld umgehen; Schuldgefühle, Ängste und Zweifel, auch an sich selber, plagen ihn; seine Texte mißlingen; das unter Erfolgsdruck gesetzte »Wunderkind der schwedischen Nachkriegsliteratur« wird dick; auch Dagermans zweite Ehe mit der prominenten Theater- und Filmschauspielerin Anita Björk scheitert. Eine Zeitlang sucht er sich mit Kino, Pokerspiel, Autofahren zu betäuben. Da liegt ein Unfall sozusagen in der Luft. An einem Novembertag 1954 begnügt sich der 31jährige mit der Garage seiner Villa im Stockholmer Vorort Enebyberg: er erstickt sich mit Autoabgasen. Einige Quellen schließen aus der Tatortbeschreibung, Dagerman sei, wie schon bei etlichen früheren Anläufen zum Selbstmord, in letzter Sekunde zurückgeschreckt (»Fuß vom Gaspedal genommen«), nur diesmal vergeblich. Trifft das zu, wäre er wenigstens seiner Unschlüssigkeit treu geblieben. Eine Stiftung verleiht seit 1996 einen Literaturpreis, der Stig Dagermans Namen trägt. 2012 stirbt auch Björk – knapp 90 Jahre alt.
~~~ Andernorts führte ich schon einmal eine Bemerkung Dagermans über den Zweikampf an. Offenbar war ihm Alains Einsicht nicht fremd, der größte Feind eines Menschen sei dieser selber. »Ich habe keine Philosophie, in welcher ich mich bewegen könnte wie der Vogel in den Lüften und der Fisch im Wasser. Alles was ich besitze ist ein Zweikampf, und in jedem Augenblick meines Lebens tobt dieser Zweikampf zwischen den falschen Tröstungen, die bloß die Ohnmacht steigern und meine Verzweiflung vertiefen, und diesen echten Tröstungen, die mich hinführen zu einer flüchtigen Befreiung«, womit er wahrscheinlich Liebes- oder Schreibwonnen im Auge hatte.** Das Trügerische an diesen Echtheiten führte ihn mit 31 in die Garage, wie wir gesehen haben. Ilja Ehrenburg hätte Dagermans Leiden am »Zweikampf« vermutlich verstanden. »Ohne überscharfe Sensibilität«, schreibt der Sowjetrusse in seinen Memoiren, »gibt es keinen Künstler – er mag Mitglied von zehn Verbänden sein. Damit gewöhnliche Worte erregen, damit die Leinwand oder der Stein lebendig wird, muß Leidenschaft am Werk sein. Der Künstler verbrennt schneller: Er lebt für zwei. Denn außer seinem Schöpfertum hat er ja noch sein verworrenes Leben – bestimmt nicht weniger als andere Menschen.« Der echte Künstler ist der vom Scheitel bis zur Fußsohle gespaltene Mensch. Er ist die unmögliche Verkörperung der Unruhe.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 8, Februar 2024
* Suhrkamp-Ausgabe Ffm 1987
** Zitiert nach Webseite Beat Mazenauer, »Der untröstliche Glückssucher«, o. J., jetzt auf https://archive.ph/1gXn
Siehe auch → Sprache, Delijannis (daß)
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