Donnerstag, 16. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 38
Waib – Wels
Waib – Wels
ziegen, 09:28h
Die schwäbische Schriftstellerin Emma Waiblinger (1897–1923), heute so gut wie vergessen, erschießt sich mit 26 in der elterlichen Wohnung in Esslingen aus Gründen, die sich leider auch mit Hilfe zweier immerhin vorhandener Porträts aus der Feder von Kolleginnen*/** nur wenig erhellen lassen. Sie war Tochter eines zur Schwermut neigenden Buchhändlers. Sie selber hatte zunächst, wahrscheinlich verordnet, Kindergärtnerin und Hebamme gelernt. Aus ihrem 1920 in Heilbronn erschienenen Roman Die Ströme des Namenlos läßt sich mit Vorbehalt schließen, sie hätte gern Medizin studiert. Der aufmüpfige Geist dieses Erst- und Letztlings soll ihr einerseits Mißbilligung, andererseits Begeisterung »vieler Leserinnen« eingetragen haben. Tatsächlich aber arbeitet sie nach der Veröffentlichung doch wieder als Kinder-mädchen, diesmal beim Schriftsteller und Arzt Ludwig Finckh am Bodensee.*** Eine »heftige Darmerkrankung« zwingt sie zu einem Sanatoriumsaufenthalt. Im Herbst 1923 aus der Schweiz in die Heimatstadt zurückgekehrt, spricht sie von Auswanderungsplänen (Amerika), lernt Englisch, ersteht eine Schiffskarte und packt bereits die Koffer – um sich Ende November das Leben zu nehmen.
~~~ Bei ihrem sozialen und geschlechtlichen Hintergrund fragt man sich eigentlich schon ganz pragmatisch, ob Emma überhaupt schießen konnte und woher sie die Pistole hatte. Und muß nicht nach der Tat auch Polizei im Haus gewesen sein? Die Kolleginnen verraten es nicht. Ihre Familie habe keine Erklärung für diesen Selbstmord gefunden, schreibt Tietz. Nach einem Bericht von Waiblingers Schwester Elisabeth hinterließ sie auch keine Abschiedszeilen. Dafür habe sich im Ofen die Asche ihres zweiten Buchmanuskriptes gefunden, das dieses Mal einen männlichen Helden haben sollte. Tietz hält es nicht für unwahrscheinlich, Waiblinger sei just in eine solche »Schreibkrise« geraten, wie sie bereits in ihrem ersten Roman geschildert wird. Neben Elisabeth hatte Waiblinger zwei Brüder, wobei der ältere Bruder, Erwin, im Ersten Weltkrieg »fiel«; der jüngere bleibt namenlos. Von einem Porträtfoto blickt uns Emma aus hübschem, leise lächelndem, durch die Wangenknochen etwas slawisch wirkendem Gesicht zum Verlieben an – freilich weiß man als Außenstehender ja nicht, ob sie zum Beispiel nicht hinkte, wenn auch vielleicht »nur« im Gemüt. Über ihr Wesen erfährt man also ebenfalls sehr wenig. Als Hebammenschülerin (in der Tübinger Frauenklinik) soll sie »beliebt« gewesen sein. Ihre Romanheldin, Agnes Flaig – übrigens braunhaarig, von »geradem«, ansprechendem Wuchs und in vorteilhaftem »Kleidlein« sicherlich »hübsch« anzusehen (S. 238) – hatte mit »heftigen Gefühlen« zu kämpfen. Aber Flaig hat sich nicht erschossen, vielmehr zuletzt an die normale Welt angepaßt.
~~~ Waiblingers Roman, übrigens »Ludwig und Dorle Finckh gewidmet« und 1921, dnb zufolge, immerhin in zweiter Auflage »4. bis 5. Tsd.« erschienen, ist in der wenig distanzierenden Ich-Form erzählt. Das würde zum Versuch einer jungen Autorin passen, sich über ihren eigenen Werdegang Rechenschaft abzulegen – und ihn dabei selbstverständlich mit einer gesellschaftsfähigen Lösung zu krönen, die ihr selber, außerhalb des Romans, vermutlich oder sogar offensichtlich verwehrt war. Ihre Agnes »kommt an«, wenn ich ein Modewort meiner Zeit benutzen darf. Sie kommt im schwäbischen Mittelstand und im schwäbischen Mittelmaß an. Das auf Ordnung, Sauberkeit, Fleiß und Tugend pochende Hausmütterchen in der jungen Frau siegt über die mal rebellisch, mal schwermütig gestimmte, jedenfalls stets leidenschaftlich glühende Dichterin in der jungen Frau. Als solche hätte sie gern die ganze Welt umspannt. Mit einer dicken Buche am Waldrand war ihr dies einmal als Schulmädchen unter gewaltigem Knacken der Handgelenke gelungen, doch was die Welt betrifft, erwies sich diese dann doch als gar zu übermächtig. So kriecht Agnes zu Kreuze und geht die Ehe mit dem dicken Buchhändler Adolf ein.
~~~ Ich wäre nicht verblüfft, wenn die junge Frau Waiblinger die Wonnen sexueller Ekstase nie erfuhr, bevor ihre Pistole krachte und sie, statt nach Amerika, ins Jenseits beförderte. Das Liebesverlangen von Agnes ist riesig, bleibt jedoch an schwärmerischen Beziehungen zu verschiedenen verehrten Mädchen, Frauen, Herren und zum Gymnasiasten Gottfried stehen, der wohl noch rechtzeitig, ehe etwas hätte »passieren« können, durch eine tödliche Krankheit aus dem Verkehr gezogen wird. Daß sie jene Wonnen dann wenigstens noch mit ihrem Gatten erfahren wird, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Das Los von vielen Millionen unterdrückter Frauen allein in Mitteleuropa muß vor dem Anbruch der angeblichen Goldenen Zwanziger Jahre furchtbar gewesen sein.
~~~ Als Autorin sucht Waiblinger in einer schlichten, etwas unbeholfenen und entsprechend wortarmen Sprache Verständnis, die zumindest über weite Strecken durchaus anrührt. Waiblinger ist auch selten geschwätzig; sie muß sich zur Mitteilung überwinden. Mit ihrer auffallenden, möglicherweise urschwäbischen Verniedlichungssucht (sie freut sich ausschließlich über »Kleidlein« oder aus der Küche aufsteigende »Gerüchlein«) versöhnt eine sanfte Ironie, die sich selbst bei jener Schreibhemmung der designierten Romanschreiberin Agnes bewährt, die diese dann in Adolfs von einem Schlag Kinder durchtobten »verkommenen« Haushalt führen wird. Der zu Herzen gehende Tonfall der gebeutelten Himmelsstürmerin hat mich wiederholt an Meta →Scheele erinnert. Mit dieser teilt Waiblinger auch den unpolitischen Zug. Von sozialem Aufrührertum kann nicht die Rede sein. Es ist schon viel, wenn sich das Schulmädchen Agnes mit ihren Freundinnen für die vagabundisch angehauchten biedermeierlichen Werke des badischen Schriftstellers Victor von Scheffel erwärmt, gestorben 1886. Buchen und Kuchen ja, aber Fabriken und Kanonen kennt sie nicht.
~~~ Tietz streicht allerdings Waiblingers ungewöhnliches Pochen auf Frauenbildung heraus, die Chance auf eine literarische Laufbahn eingeschlossen. Dieses Feld war ja damals in der Tat fast allen niederen wie höheren Töchtern noch nahezu verschlossen. Sie hatten Dienstmädchen oder Hausfrau und Mutter zu werden. Das schmeckte Waiblinger gar nicht; wohl deshalb gab sie etlichen Heiratskandidaten, die sich Tietz zufolge um sie bemühten, Körbe. Tietz weist auch darauf hin, daß Alter ego Agnes ihren Schreibgelüsten keineswegs als »Jugendtorheit« abgeschworen hat; sie verspüre sie am Ende des Romans nach wie vor, habe sie lediglich tief in ihr Innerstes versenkt. Hier liegen »Triebverzicht« und »Verdrängung« auf der Hand, um mit dem damals aufsteigenden Sigmund Freud zu sprechen. Dennoch kommt es mir ähnlich ablenkend, jedenfalls zu kurz gegriffen vor, den tragenden, vermutlich krank oder selbstmordreif machenden Konflikt, wie Tietz, mit dem Widerstreit zwischen »traditioneller Frauenrolle« und »schriftstellerischer Existenz« zu benennen. Wahrscheinlich hätte sich eine Unterstützung genießende und erfolgreiche Schriftstellerin Waiblinger nur etwas später umgebracht, mit 35 oder so. Trifft dieser Verdacht zu, saß der Wurm in ihrem grundsätzlich zerrissenen, für Befriedung ungeeigneten Gemüt.
~~~ Ihr schönstes dramaturgisches Glanzlichtlein setzt Autorin Waiblinger leider ausgerechnet bei der Herbeiführung des Happy Ends. Adolf war ursprünglich mit Margret verheiratet, einer älteren Schwester von Agnes, der Agnes nun im »chaotischen« Haushalt zu helfen versucht. Auf Margret wälzt Waiblinger die »schlampige« Hälfte ihres Wesens ab – prompt muß die liebe Schwester dann auch, wie Gottfried, durch Krankheit vorzeitig in den Sarg wandern. Kaum ist Margrets Leiche erkaltet, erlaubt sich Adolf harmlose Anzüglichkeiten und bringt sogar einen Heiratsantrag vor. Agnes ist empört, schmeißt ihre Sachen in den Koffer und verläßt das Haus. Da pfeift es in ihrem Rücken durch die Luft: Der stets zum Scherzen aufgelegte Adolf, der oben im erleuchteten Fenster grinst, hat ihr – »die hast du vergessen« – ihre eigenen Pantoffeln nachgeschmissen! Sie klatschen aufs Pflaster, und Agnes zeigt ihnen selbstverständlich die kalte Schulter. Doch ein paar Monate später reist sie reumütig wieder an. Nachdem sie die Treppen bewältigt hat und klopfenden Herzens ins Canossa der buchhändlerischen Wohnung eingetreten ist, streckt ihr Adolf, der übermütige beleibte Spitzbube, ihre Pantoffeln entgegen: »Ich habe sie damals wieder von der Straße herauf geholt und sie dir aufgehoben; ich wußte ja, daß du wieder kommen würdest.« Da wurde Agnes rot und sah zu Boden. (257)
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Rosemarie Tietz: Anne Schieber, Emma Waiblinger, Isolde Kurz. Drei Schriftstellerinnen in Esslingen am Neckar, Esslingen 1987, S. 23–42
** Irene Ferchel über Waiblinger in: Literarische Spuren in Esslingen, 2003, S. 133–35
*** Bei Tietz bleibt Finckh unerwähnt. Den Nachschlagewerken zufolge ist der Mann erst im hohen Alter gestorben, 1964, wenn auch leider als Nazi, wie zu fürchten ist. Da er fleißiger Briefeschreiber war, bat ich das Reutlinger Stadtarchiv um Auskunft und erhielt den Bescheid, in Finckhs Korrespondenz fänden sich keine nennenswerten Erwähnungen der Emma Waiblinger.
Waltershausen
Vermutlich war Sigmar Löffler (1896–1977) nicht aufgrund seines brennenden Wunsches zu Welt gekommen, Stadtchronist von Waltershausen zu werden. Er stammte aus Herbsleben an der Unstrut, wo seine Eltern eine kleine Landwirtschaft betrieben. Im nahen Gotha besuchte er das Lehrerseminar. Als Teilnehmer am Ersten Weltkrieg war er verwundet worden, zum Zweiten brauchte er dann nicht mehr anzutreten, selbst vom »Volkssturm« blieb er verschont. Soweit ich weiß, war er bereits in den 20er Jahren Lehrer an der Waltershäuser Grundschule, später Realschule geworden. Dort blieb er, bis zu seiner Pensionierung um 1960, sowohl im »Dritten Reich« wie in der SBZ/DDR, nur hieß die Einrichtung zuletzt Polytechnische Oberschule. Zeitweilig war er sogar Schulleiter. Er unterrichtete u.a. Deutsch und Erdkunde. Den Faschismus scheint der treue SPD-Wähler wie so viele Intelektuelle überstanden zu haben, indem er sich bedeckt hielt. Übrigens hatten die sogenannten Sozialdemokraten ihren Gründungsparteitag in Eisenach (1869), ihren ersten Vereinigungsparteitag in Gotha (1875) abgehalten, gleichsam links und rechts von Waltershausen, falls man von Süden blickt. Vor 1933 war Waltershausen, das vor allem Gummiindustrie aufwies (Conti), nacheinander Hochburg der SPD, der USPD und der KPD gewesen. Damit war das hiesige Proletariat gleich dreimal auf die Schnauze gefallen.
~~~ Möglicherweise trat Löffler nach Kriegsende in die SED ein, doch ein strammer Funktionär war er so wenig wie ein überzeugter Kommunist. Im Gegenteil verweigerte er sogar die Erlaubnis, das Manuskript für den geplanten Band II seiner Stadtgeschichte (Arbeiterbewegung!) im Sinne der geforderten Parteitreue umzuschreiben, womit es ungedruckt in seiner Schublade verblieb. Wahrscheinlich war das sein einziger Fall von offener Auflehnung. Auch eine Bemerkung seines Sohnes Lorenz G. Löffler (in Band I/2 S. 414) unterstreicht die Vermutung, Löffler senior habe sich beiden Regimen, Faschismus und Kommunismus, grundsätzlich anzuschmiegen gewußt, also Konfrontation vermieden. Lorenz G. Löffler gab nach 2000 das Gesamtwerk seines Vaters heraus, wobei er noch viel ergänzte und verbesserte. Dieses einzige Kind, geboren 1930, war Ethnologe und hatte zuletzt einen Lehrstuhl in Zürich inne. Anschließend lebte Löffler mit seiner gleichfalls aus Waltershausen stammenden Frau Brigitte am Bodensee. Es heißt, er saß die letzten Jahre im Rollstuhl, rauchte aber nach wie vor Kette. Er starb 2013. Aus einigen Anmerkungen im väterlichen Werk geht hervor, daß er auch nach der Einkassierung der DDR und der gesamtdeutschen Phase Rotgrün (um 2000) entschiedener Gegner des Kapitalismus geblieben war.
~~~ Während Lorenz ein umgänglicher Mensch gewesen sein soll, wird sein Vater zumeist als »sehr streng«, mitunter sogar hochmütig geschildert. Dessen Mund habe meist ein zynisches Lächeln umspielt, erzählt mir ein ehemaliger Schüler. Das würde sich mit dem Foto in Band II decken. Löffler soll ungewöhnlich gebildet und vielseitig begabt gewesen sein, er zeichnete und malte gern und übersetzte französische Gedichte (von Baudelaire, Rimbaud und Verlaine), die sogar im Inselverlag der DDR erscheinen durften, da sie Devisen brachten. Wahrscheinlich fühlte er sich im Provinznest Waltershausen, wo man zu allem Unglück ein furchtbares Deutsch sprach, im Grunde fehl am Platze oder herabgesetzt, jedenfalls zu wenig gefordert und gewürdigt, was jenen hochmütigen Zug erklären könnte. Seine Frau, die wohl vor ihm unter die Erde kam, ist offenbar nicht weiter hervorgetreten. Die Familie wohnte in einem Mehrfamilienhaus, das inzwischen abgerissen worden ist, oberhalb des Waldplatzes zur Miete. Auf Reichtum war Löffler nie aus gewesen. Als er 1977 starb, hatte er gerade die 80 überschritten.
~~~ Es wäre allerdings nicht so falsch, seine umfangreiche Stadtgeschichte als Schatz aufzufassen. Der Heimatforscher Löffler muß im Erjagen und Eintragen nützlicher Beute bienenfleißig und geradezu besessen gewesen sein. Wie Kenner zuweilen scherzen, hätte nicht viel gefehlt, und er hätte in den Archiven (vor allem von Gotha und Weimar) sein Feldbett aufgeschlagen. In meinen eigenen Betrachtungen greife ich seit Jahren auf sprechende Details zurück, die ich Löfflers Schatztruhe verdanke. Im ganzen liegen heute fünf heimatkundliche Bücher von Löffler vor, von denen sich allein drei mit Waltershausen befassen. Dabei sind seine Details stets in zeitgeschichtliche und überregionale Zusammenhänge eingebettet. Löffler war keine Stadtmaus, die nur bestimmte Kornspeicher und Speisekammern kennt. Genauso wenig ließ er sich oder fragwürdigen Quellen Spekulationen durchgehen. Dürfte es schon schwierig sein, von anderen, vergleichbaren Städtchen um 10.000 Einwohnern überhaupt so etwas wie eine »richtige«, gedruckte Stadtgeschichte aufzutreiben, dann sehr wahrscheinlich nicht eine, die es in der Materialfülle und der Sorgfalt mit Löfflers Arbeit aufnehmen könnte. Zu allem Überfluß ist sie auch noch gut lesbar geraten, wobei vermutlich Löffler junior durch seine nachträgliche Bearbeitung zur Hilfe kam.
~~~ Erfreulicherweise wäre es gelogen, Löffler auch noch Unparteilichkeit zu bescheinigen. Sein Geist ist kritisch und skeptisch genug, um offiziellen Verlautbarungen zu mißtrauen und sich im Zweifelsfall auf die Seite der Kleinen Leute zu schlagen. Wolfgang Medding, Autor einer lediglich einbändigen Stadtgeschichte der »großen Kreisstadt« Korbach, in der ich einige Jahre lebte, hielt es genau anders herum. Dieser gelehrte Fürsten- und Bürgermeisterknecht hätte in Löfflers mittelalterlichem Waltershausen vielleicht den Posten eines »Bierrufers« bekommen. Zum Torwächter hätte er keinesfalls getaugt. Löffler meint, mit einiger Sicherheit sei Waltershausen bereits um 1200 Stadt gewesen. Das bedeutet, der Ort durfte Markt abhalten, Bier brauen und andere Handwerke ausüben, sich bewaffnen und befestigen, in leichteren Fällen Recht sprechen und sich über dies alles eine Ratsverfassung geben. Am Ausgang des Mittelalters, um 1500, zählte der Waltershäuser Stadtrat 12 Köpfe, die meistens betrunken waren. Das Objekt ihrer Tafel- und Schwafeleien war noch immer winzig. Innerhalb des Mauerrings lebten um 1500 lediglich rund 140 »Männer«. Alle übrigen zweibeinigen BinnenbewohnerInnen hinzugenommen, darf man wohl von bestenfalls 500 Städtern und Städterinnen ausgehen. Die Kindersterblichkeit war ja hoch.
~~~ Trotz seiner Enge wies der Mauerring sieben Türme auf, wozu noch der alles überragende mächtige Stadtkirchturm und der etwas außerhalb gelegene Töpfersturm kamen, den ich bereits früher gewürdigt habe. Die wichtigsten Türme, mindestens drei, wurden von angestellten Torwächtern bewacht. Die Wächter wohnten unmittelbar über oder neben dem Tor. Oft dienten solche Stadttürme auch als Gefängnisse. Wie von Löffler nicht erwähnt wird, freilich auf der Hand liegt, forschten die Torwächter auch aus. Torwächterinnen gab es vermutlich nie. Sie spähten also eifrig, fragten den Leuten Löcher in den Bauch und ließen sie ein und aus – sofern man nicht »nach Toresschluß« kam. Zumindest in Krisenzeiten dürfte es Paßwörter und Fallgitter gegeben haben. Auswärtige oder BürgerInnen mit Sonderwünschen hatten Torgeld zu entrichten, also einen Zoll. Schlauköpfe und Pfeffersäcke fanden selbstverständlich stets ein Hintertürchen, etwa im Kloster. Die Nachtwächter, die innerhalb des Mauerrings als eine Art Polizisten Streife gingen, wurden kurzerhand bestochen. Wenn es hoch kam, liefen oder ritten die Torwächter, als »Flurschütz«, die Stadtmauer zuweilen von außen ab. Sie waren in der Regel absonderlich und entsprechend auffällig gekleidet, womit sie sich sowohl von Soldaten wie von Handwerkern und Kaufleuten unterschieden. Vielleicht standen sie den Spaßmachern nahe, den späteren Clowns.
~~~ Türmer waren, wie mich andere Quellen belehren, meist zugleich Musiker, Stadtpfeifer. Statt Handy hatten sie Horn und Tüte (Sprachrohr), um die Bürgerschaft ins Bild setzen zu können. So mancher auswärtige, anderswo verstoßene oder geflohene Missetäter wurde als Türmer einer Stadt wieder heimisch. Grundsätzlich zählten die Türmer ohnehin zu den »unehrlichen« Leuten, was bedeutet, ihr Gewerbe war nicht ehrbar, nicht angesehen, wie wir es auch vom Scharfrichter und vom Abdecker wissen. Man fragt sich allerdings, wie sich die Unehrbarkeit eines Türmers mit seiner Verantwortung, seinem Einfluß verträgt. Immerhin konnte er die Stadt dem Feind oder dem Feuer überantworten, wenn er dazu Lust hatte. Der Waltershäuser Türmer (oder »Hausmann«) bewohnte ein abschließendes Fachwerkgeschoß, das der hiesige steinerne Stadtkirchturm einst unterhalb seines (damals noch spitzen) Daches aufwies, den Gaden. Seit ungefähr 1480 soll der Turm zudem, vermutlich just am Gaden, mit einem »Seyger« versehen gewesen sein, für dessen Bedienung sich die Stadt womöglich eigens einen »Seygersteller« leistete. Löffler spart hier jede Erläuterung ein. Ich nehme an, der Zeigersteller betreute eine einfache, nur unter Mucken »gehende« mechanische Turmuhr, wie sie bereits im Jahrhundert vorher aufgekommen war. Sie zeigte lediglich die Stunden an. Damit hätte man keinen 100-Meter-Lauf (zum Fabriktor und der Stechuhr) stoppen können.
~~~ Vielleicht ähnelte der durchschnittliche thüringische Stadttürmer einem Kloß, weil er verständlicherweise sein Weib oder seine Gören die 300 Sandsteinstufen hinabscheuchte, wenn der Bierrufer mitgeteilt hatte, wo der Stoff heute zu haben sei, oder wenn das Brot ausgegangen oder im Rathaus der nächste Lohn fällig war. Die schlankeren Büttel waren wahrscheinlich Tag- oder Kirchenwächter, wie sie auch genannt wurden. Ihre Aufgabe bestand zum einen darin, während der Zeit des sonntäglichen Gottesdienstes in den verwaisten Gassen Feuerwache zu schieben und nach Dieben auszuspähen. Zum anderen hatten sie jedoch dafür zu sorgen, daß auch ein jeder Christenmensch zur Kirche ging. Sie selber und vermutlich die Türmer ausgenommen, wie sich versteht – sicherlich ein begehrter Posten. Vom Kirchgang befreit waren lediglich Mütter von Kleinkindern, Kranke und Gebrechliche, lese ich in einer anderen Quelle. SchwänzerInnen wurden gemeldet und bestraft. Unter der Woche waren die Kirchenwächter vielleicht an den Stadttoren, als Bierrufer oder mit dem Aufschichten der nächsten Holzstöße für KetzerInnen beschäftigt. Grundsätzlich kann Löffler, ganz im Gegensatz zu dem erwähnten Medding, nicht die Bohne vorgeworfen werden, er gebe das frühe Stadtleben als Schäfer- oder Biedermeierszene. Allein was Verdächtigungen angeht, hagelte es Tag für Tag. Auch der Betrug war allgegenwärtig. Im Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg versichert Löffler, als Historiker habe man hier durch einen »üblen moralischen Sumpf« zu staken – ein Sumpf aus »Aberglauben, Dummheit, Mißgunst, Gewinnsucht und Bosheit, wie man es in einer so schrecklichen Zeit, inmitten von Zerstörung, Verwahrlosung, Erpressung, Quälerei und Mord auch kaum anders erwarten konnte.«
~~~ Für mich streckt sich die »schreckliche Zeit« unaufhörlich, denn 2014 erwarte ich auch nichts anderes. Oder sollten die gezielten und gebündelten Verleum-dungen aufmüpfiger Geister durch die zeitgenössischen Massenmedien höflich sein? Die heimtückische Kriegsführung mit Bombern, Killerdrohnen oder wahlweise sogenannten »Sanktionen« netter als das Berennen oder Aushungern eines mittelalterlichen Städtchens? Übrigens zähle ich zu den Schrecken auch den Lärm. Auch er hat tiefe Wurzeln. Löffler sagt es zwar nie, aber weder in den Turmstuben noch in der Stadt überhaupt kann es um 1500 oder 1800 idyllisch ruhig gewesen sein. Man denke nur an die Türmer selbst, diese Ohrenbläser, außerdem an das rasselnde Pflaster, die klappernden oder hechelnden Mühlen, die hämmernden Schmieden, das Vieh, die Gören, die keifenden Mütter, die brüllenden Väter, die Bierrufer und Marktschreier – und dies alles bei dieser Enge! Am engsten war es im Pranger, der – im Falle des gemeinten Modells – auch noch Trillerhäuschen hieß. Es handelte sich um einen röhrenförmigen Käfig, der sich dank einer Art Töpferscheibe in Rotation bringen ließ, bis einem der Mageninhalt des eingesperrten Rauf- oder Trunkenboldes ins Gesicht flog. Dann durfte man ihn vermutlich durch die Gitterstäbe mit der Forke perforieren. Jedenfalls wette ich darauf, selbst innerhalb des gesamten Mauerrings dürfte es damals so gut wie kein Plätzchen gegeben haben, wo einer ungestört an seine neue Flamme oder an die ihm verhießene Laufbahn als Mediziner denken konnte.
~~~ Damit spiele ich auf Antonius an, den Sprößling des Waltershäuser Bürgermeisters Stephan Juncker. Er brachte es bis zum Leibarzt des Weimarer Herzogs Johann Wilhelm I., starb allerdings schon 1572 mit ungefähr 33 Jahren. Warum, weiß kein Mensch. Offensichtlich war selbst der Leibarzt eines Herzogs damals nicht bedeutend genug, um in der Überlieferung über ein paar Sätze, die Löffler von seiner in unserer Stadtkirche aufgestellten Grabplatte abgelesen hat, hinauszukommen. Hinsichtlich der Waltershäuser Handwerker, Bauern, Türmer, Bierausrufer und Huren ist die Quellenlage freilich noch betrüblicher. So gut wie niemand zeichnete etwas aus deren Lebenswandel auf, weil sich so gut wie niemand vorstellen konnte, es könne später einmal jemanden interessieren.
~~~ Die große Ausnahme stellen in unserem Fall die Waltershäuser Ratsherren und Bürgermeister dar. Allerdings fällt es schwer, sie nach der Lektüre von Löfflers Stadtgeschichte noch zu den »kleinen Leuten« zu zählen. Sie hatten ihr Pfründe ähnlich fest in der Hand wie der Klerus die seinen. Generation um Generation prahlten, zechten und schlemmten sie auf Kosten der Stadtkasse und wirtschafteten bei ihren weisen Entscheidungen über diverse Vergaben in die eigene Tasche, das es eine Lust war – für sie selber. Genauso viele Generationen lang hegten die BürgerInnen Groll gegen ihre Stadtoberen. Was Wunder, sie hatten sie noch nicht einmal wählen dürfen; in diesem Fall hätten sie auf sich selber wütend sein müssen. Wie der Rat dereinst zustande gekommen sei, weiß selbst Löffler nicht. Einmal in der Welt, habe er sich emsig durch Zuwahl selbst ergänzt oder verändert. Seine sämtlichen Sitzungen waren nicht öffentlich. Seine jeweiligen Rats- oder Bürgermeister mußten vom Landesherren bestätigt werden. Somit stellte der sogenannte Stadtrat nichts anderes als einen der vielen Arme dar, mit denen nun die Fürsten wiederum ihren »freien« Städten in die Taschen griffen. Dabei noch aufs eigene Wohl bedacht zu sein, war für die 12 Herren Stadträte (die sich stets mit dem vornehmen Er anreden ließen) sicherlich anstrengend genug, da konnten sie sich nicht auch noch um die Interessen des Volkes kümmern. Und so einen hatte nun der arme Antonius als Vater gehabt …
~~~ Vielleicht war Antonius Juncker sogar noch zu Nachwuchs und dadurch zu Urenkeln gekommen. In diesem Fall hätten sie wahrscheinlich von der oft gerühmten Bildungspolitik ihres Landesvaters Ernst I., genannt »der Fromme«, gezehrt. Der Gothaer Herzog starb 1675 mit 73 Jahren. Leider wird er selbst vom kritischen Löffler als Betreiber des »Fortschritts« überschätzt. Verständlicherweise hebt Löffler, als Lehrer, vor allem jene Bildungspolitik Ernsts hervor, voran die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die sich bis heute quer durch die Systeme als wahre Höllenstrafe auf Erden bewährt. Immerhin verschweigt er aber weder Ernsts Leidenschaft für polizeiliche Verordnungen noch seine besonders fromme Duldung der Hexenverfolgung. Zum Ausgleich für die »Dutzenden« von Todesopfern dieses Wahnsinns, darunter ein lebendig verbranntes neunjähriges Mädchen aus Schwarzhausen, machte der aufgeklärte Herrscher seiner Alten, ehedem Elisabeth Sophia von Sachsen-Altenburg, sage und schreibe 18 Kinder, an denen sie erstaunlicherweise nicht frühzeitig verendete. Elisabeth wurde 61.
~~~ Seit 1904 steht eine gewaltige Bronze vor dem häßlichen Gothaer Schloß zum Gedenken an ihren Gatten, den Herzog. Wie Löffler erwähnt, wurde es auch zu DDR-Zeiten nicht angetastet. »Einen besseren Herrscher«, so hatte Löffler schließlich zum Auftakt seines Kapitels verkündet, »hätte in jener fürchterlichen Zeit [30jähriger Krieg] das Land nicht haben können.« Da kommen doch wieder Zweifel an der Klugheit unseres Schulleiters und Heimatforschers auf. Ich möchte fast wetten, sein Sohn hatte sich an dieser Stelle stark zu bezähmen, um nicht die Anmerkung einzuschmuggeln: Der bekannte Geist des Kleineren Übels. Herrschaft selber wird nie in Frage gestellt.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Bei den Bocks im Brockhaus fehlt er. Was den Mediziner Hans Erhard Bock (1903–2004) jedoch bemerkenswert macht, ist nicht nur die Gegend seiner Jugend, nämlich Waltershausen nebst Gotha, wo er Abitur am Ernestinum machte, und überdies das stolze Lebensalter, das er erreichte – genau 100 Jahre. Sondern er hing auch dem Faschismus an, wie ich von Ernst Klee erfahre. 1937 der Partei beigetreten, wurde Bock kurz darauf Lehrbeauftragter Luftfahrtmedizin und Oberarzt, 1942 auch Professor der Tübinger Uniklinik. Nebenbei fungierte er als beratender Internist im Rang eines Stabsarztes (!) der Luftwaffe. Als die Luftwaffe besiegt war, wurde Bock (1949) auf einen Lehrstuhl in Marburg, 1962 erneut in Tübingen gehievt. Bundesverdienstkreuz 1973. Nett auch die Lobeshymne einer Verehrerin namens Ursula Gräfen aus dem Todesjahr: »Groß als Arzt, als Forscher, als Lehrer und Mensch«, Ärzte Zeitung 19. Juli 2004.* Danach war Bock die Krankenfürsorge, die Tröstung und die Schulmedizin in Person, vor allem bei der Luftwaffe. Nur Nazi war er nie. Ich werde unserem 25köpfigen Stadtrat vorschlagen, den hiesigen Denkmalplatz am Altstadtring in Bock-als-Gärtner-Platz umzubenennen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 5, Januar 2024
* https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Gross-als-Arzt-als-Forscher-als-Lehrer-und-als-Mensch-323845.html
Am 5. Juni 1932 brachte es ein wenig bekanntes thürin-gisches Städtchen auf die Titelseite des vielgelesenen, in Berlin herausgegebenen Wochenblatts A-I-Z (Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, Nr. 23). Auf einem Foto sind ein rücklings am Straßenrand liegender Mann mit verklebtem Kopfhaar und zwei andere Männer zu sehen, die erschüttert neben dem Opfer hocken. Der Begleittext lautet: »Mit Karabiner und Gummiknüppel ging die Polizei in Waltershausen gegen die Erwerbslosen vor, die gegen die Kürzung der Wohlfahrtsunterstützung demonstrierten. Der 30jährige parteilose Arbeiter Oskar Kaufmann wurde von der Polizei erschossen.«
~~~ Das Alter stimmt nicht ganz, aber ansonsten ist an dem Vorfall nicht zu rütteln. Wie sich versteht, ging dieser Oskar Kaufmann nicht in den Brockhaus ein. Sein buchstäblicher Fall dürfte freilich nicht nur Waltershäuser-Innen wie mich berühren. Herausgeber der A-I-Z war übrigens Willi Münzenberg, Kommunist. Er stammte selber, wie das Mordopfer, aus dem Landkreis Gotha. Die damalige Auflage betrug um 500.000. Sie wurde hauptsächlich von mehreren Tausend Erwerbslosen vertrieben. Der deutsche Arbeiter-Samariter-Bund war um 1900 auf Anregung von Sozialdemokraten entstanden. Es ging um Selbsthilfe bei Unglücksfällen und die entsprechende Ausbildung proletarischer Sanitäter.
~~~ Den »Arbeitersamariter« Kaufmann hatte es am 20. Mai unweit des Waltershäuser Marktplatzes erwischt. Außerdem habe es an jenem Freitagabend 19 Verletzte gegeben, darunter die beiden neunjährigen Kinder Heinz Massi und Kurt Anschütz, entnehme ich einem gut 10 Jahre alten Gedenkartikeln in Klarsicht, einem Monatsblatt der Gothaer Linkspartei.* Einige Demonstranten seien in Gotha im Schnellverfahren wegen Aufruhrs zu niedrigen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Von einer Untersuchung der Erschießung ist nirgends die Rede, auch nicht bei Löffler.** Nach Klarsicht-Beiträger Karl Leining, Waltershausen, hatte sich die Waltershäuser Zeitung am 23. Mai, dem Tag der Beerdigung Kaufmanns, gegen die Entstellungen und Greuelmärchen überregionaler Blätter verwahrt. Sie stellte klar, die Wohlfahrtsbewegung umfaßte alle Parteien, von der KPD bis zu den Nazis, und hatte keinerlei politische Losungen. Die Gewalt sei allein von der Landespolizei ausgegangen. Laut Wikipedia hatten wir damals (in Weimar) eine »rechtsbürgerliche Minderheitsregierung« unter Erwin Baum. Kreisdirektor beziehungsweise Landrat in Gotha war Louis Leutheusser von der Deutschnationalen Volkspartei. Ob eine »linke« Regierung ebenfalls Polizei nach Waltershausen geschickt hätte, kann ich nicht beurteilen. Auch Kaufmanns Beerdigung wurde dann noch belästigt. Jahrzehnte später, nach der sogenannten »Wende«, sei man unverzüglich auch einer Gedenktafel und der Waltershäuser Oskar-Kaufmann-Straße zu Leibe gerückt, so Leining weiter. Die Tafel hatte sich am Haus Badegasse 9, Ecke Mühlgasse, befunden – dort, wo Oskar Kaufmann 1932 von der todbringenden Kugel getroffen worden war.
~~~ Nun heißt die störende Straße bereits seit gut 30 Jahren Heinrich-Schwerdt-Straße. Sie führt vom Rand der Altstadt Richtung Multicar. Der neue Name stellt in mehrfacher Hinsicht Provokation und Geschmacklosigkeit dar. Die Thüringer Allgemeine nennt Heinrich Schwerdt (1810–88) am 10. März 2023 bereits in der Überschrift eines Gedenkartikels (Bezahlschranke!) einen »überragenden Kirchenmann«. Er war (ab 1872) »Superintendent und Oberpfarrer« in Waltershausen gewesen. Das Internet gibt ihn auch als Pädagogen, Politiker und Schriftsteller aus. 1883 erhob ihn der Gothaer Herzog Ernst II. zum sogenannten Kirchenrath. Wikipedia beschließt seinen Eintrag mit dem Hinweis, 1991 sei in Waltershausen »zu seinen Ehren eine Straße« nach ihm benannt worden. Die Schande für Kaufmann bleibt unerwähnt.
~~~ Auch Klarsicht benutzt die Formel, Kaufmann sei »parteiloser Arbeitersamariter« gewesen. Sein Freund und Arbeitskollege in der Thüringer Schlauchweberei Werner Habicht läßt in seinem Gedenkartikel allerdings keinen Zweifel daran: Kaufmann sympathisierte mit Kommunismus und Sowjetunion. Er war außerdem Wander- und Heimatfreund, frönte dem Schachspiel und begeisterte sich sogar für Esperanto. Mit seiner Frau Erna Kornhaß hatte er zwei Kinder. Altersangaben fehlen. Habicht erwähnt aber Kaufmanns Grab mit Findling und Inschriftplatte.
~~~ Laut Sigmar Löffler war es wie folgt zu dem Mord gekommen. Die auf dem Markt (nämlich vor dem Rathaus) gegen die Kürzungen und Verzögerungen bei der Wohlfahrtsunterstützung protestierenden Massen wurden von der Landespolizei in die anliegenden Gassen abgedrängt, darunter die ansteigende Badegasse. Diese »stand bald leer, nur von oben schallten noch wütende Schimpfworte, und auch Steine kamen herab, so dass die Polizisten sich nicht über die [quer zum Hang verlaufende] Louisenstraße hinweg wagten und aus der sicheren Deckung der Haustüren nach den [Ein-]Mündungen der Nebengassen schossen. Dabei wurde der Arbeitersamariter Oskar Kaufmann, der vorsichtig um die Ecke spähte, um zu sehen, ob er die Badegasse überqueren könne, durch einen Kopfschuss tödlich verwundet. Sobald er gefallen war, hörte hier das Schießen auf …«
~~~ Immerhin ist auf dem Waltershäuser Friedhof noch der hellgraue, leicht gekörnte Gedenkstein für Kaufmann zu finden. Danach war er bei seinem Tod erst 26 (geboren 18. Februar 1906). Der junge Arbeiter stammte aus dem nahen Thüringer-Wald-Dorf Brotterode. Zum Gedenkstein berichtet sein Arbeitskollege Werner Habicht: »Ich suchte einen Findling beim Gerberstein am Rennsteig. Der als Langholzfahrer tätige Bruder meines Vaters brachte den Stein nach Waltershausen. Das Grabdenkmal stammt also vom Höhenweg zwischen Oskar Kaufmanns Geburts- und Sterbeort.« Leider gibt die Inschrift keine Hinweis auf die Klassenherkunft und schon gar keinen auf die Todesumstände Kaufmanns. Es sei denn, man sieht einen Hinweis in dem mächtigen, alten Baum verkörpert, der den Gedenkstein beschattet. Es ist eine Blutbuche.
~~~ Der Waltershäuser Karl Leining schreibt 2012: »Das Abnehmen der Gedenktafel [in der Badegasse] wäre vielleicht noch erklärlich gewesen, denn der zweite Teil der Inschrift entsprach nicht den Ereignissen von 1932. Allerdings hätte mit etwas gutem Willen dieser Teil der Tafel auch entfernt werden können. Dass allerdings die Oskar-Kaufmann-Straße trotz zahlreicher Proteste umbenannt wurde, ist nicht zu akzeptieren.«
~~~ Wie mir einheimische Gewährsleute berichten, ist die Umbenennung von einer »Großen Koalition« aus Christ- und Sozialdemokraten betrieben worden. Motiv sei weniger gewesen, Schwerdt zu ehren, als vielmehr Kaufmann aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. In der DDR habe man den Gummiarbeiter ungerechtfertigt »heroisiert«, argumentierte die Koalition. Warum gab dann aber Michael Brychcy von der CDU, seit November 1989 (!) bis zur Stunde Waltershäuser Bürgermeister, seinen Segen zur Neuherausgabe von Löfflers Stadtgeschichte, die Kaufmann eindeutig als Polizeiopfer darstellt? Vermutlich ging es wirklich vordringlich ums Stadtbild. Die Bücher von Löffler lesen ja sowieso nur ein paar GeistesarbeiterInnen und Heimatfreunde. Kaufmanns Fürsprecher erlauben sich auch den Hinweis, niemand habe bislang verlangt, die Ernst-Thälmann-Straße aus dem Stadtbild zu tilgen. Das war eben ein ferner Kommunistenführer, den Waltershausen nie zu Gesicht bekam. Kaufmann dagegen sei einheimisches, womöglich vorbildliches Gewächs gewesen. Bei den Unruhen am Marktplatz ging er seiner Verpflichtung als Sanitäter nach. Die AnwohnerInnen der Oskar-Kaufmann-Straße wurden nie um ihre Meinung befragt. Sie seien mehrheitlich gegen eine Umbenennung gewesen. Damals gab es etliche unpersonell benannte Straßen in Neubaugebieten, die man dem Kirchenrath hätte verehren können. Man wünschte jedoch den Dorn am Rand der Altstadt zu brechen, der nur den Namen eines einfachen Arbeiters trug. Jetzt thront der Kirchenrath dort. Wer vom Bahnhof aus auf Waltershausens berühmte barocke Stadtkirche zuhält, kann ihn kaum übersehen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 20, Mai 2024
* http://www.die-linke-gotha.de/fileadmin/KV-GTH/klarsicht/2012/Einlageblatt Mai_2012.pdf, Beilage der Nr. 62, Mai 2012
** Sigmar Löffler, Stadtgeschichte Band II, S. 181 + Anhang Dokument 51 + 52
Siehe auch → Kirche, Dinant (Unfall) → Tod, Töpfersturm
Warten
Wenn Sie sich fragen, was so unterschiedliche ZweibeinerInnen wie Handwerker, Geliebte oder Freunde, Vorgesetzte aller Art, Schalterbeamte, VerlegerInnen, Ärzte, Rockstars, ja selbst gewissse schlecht erzogene VierbeinerInnen, nämlich Hunde, durchweg besonders glücklich macht, stoßen Sie auf die Vorliebe, auf sich warten zu lassen. Das zeigt den Umworbenen, man ist auf sie angewiesen. Das erhebt sie nicht selten zu beträchtlichem Machtgefühl. Manchen ist es geradezu eine Lust, andere auf die Folter zu spannen oder bis zur Weißglut zu reizen, indem sie sie in der berühmten Warteschleife hängen lassen, bis sie sich womöglich erdrosselt haben. Ein klarer Fall von Selbstmord. Das Opfer ist selber schuld. Es konnte nicht genügend Geduld aufbringen. Es hätte mich deshalb nicht verblüfft, wenn der ukrainische Snookerspieler Iulian Boiko bei einem Ende Mai ausgetragenen Qualifikationsmatch den Schiedsrichter um eine Prise Zyankali für sein unverzichtbares Mineralwasser gebeten hätte. Boikos Gegner war der Brite Oliver Sykes. Dieser junge, sogar schlanke Mann ist, wie Boiko, noch keine 18 Jahre alt, doch er wandelt oder schleicht wie ein Greis um den Snookertisch, verzieht nie eine Miene und läßt sich nach gelegentlichen Fehlstößen in Zeitlupe auf seinem Wartestuhl nieder. Ich sah ein Video der Begegnung. Sykes Schlafwandlertum wirkt ungemein aufreizend – und ich nehme stark an, genau das ist der Zweck der Übung. Der Gegner kocht, wird immer nervöser und macht prompt die Fehler, die sich Boiko auch leistete. An seiner Stelle hätte ich Sykes irgendwann meinen Billardstock um die Ohren gehauen. Allerdings sind die Queues der SpitzenspielerInnen sündhaft teuer. Bei der letzten, nicht so leichten Schwarzen, die das Match entschied, blieb Boiko immerhin kaltblütig: er versenkte sie.
~~~ Dummerweise ertappe ich mich bei dem genannten Unvermögen, mehr Geduld aufzubringen, auch in vergleichsweise unwichtigen Angelegenheiten. Online-Antiquariat Bücherfraß läßt mich Tag für Tag schmoren. Das Feuer im Ofen prasselt nach 10 Minuten immer noch nicht, weil die Sonne auf den Kamin drückt. Also fluche ich wie ein Dachdecker. Der Baumarkt-Mitarbeiter, den ich nach Spannschlössern fragte, scheint hinter der nächsten Regalecke auf ein Schaumstofflager gesunken zu sein, um ein Mittagsschläfchen zu halten. Dabei kann ich mich selber, als Rentner, eigentlich nicht mehr über Zeitmangel oder Arbeitshetze beklagen. Allerdings kam ich 1950 nicht gleich als Rentner auf die Welt. Es hieß zunächst einmal, die Kindheit zu durchlaufen, oder besser gesagt: durchzusitzen. Ein Kind kann alles – bildet es sich jedenfalls ein – nur warten kann es nicht. Es ist das ungeduldigste und selbstsüchtigste Wesen auf dem ganzen Planeten. Alles soll sofort geschehen, und zwar nach seinem Willen.
~~~ Merkwürdigerweise gestaltet sich mein eigenes Warten, im ganzen genommen, durchaus widersprüchlich, obwohl ich meist als Schwarzseher verunglimpft werde. Statt übler Befürchtungen kann mir das Warten genauso köstliche Blütenträume bereiten. Oft im selben Fall sogar im Wechselbad! Wird sich die Lektorin durch meinen Eindruck, sie reihe sich etwas leichtfertig in die weltumspannende Anti-Kohlenstoff-Querfront ein, beleidigt fühlen, oder wird sie sich ohne Zögern auf mein Blog-Register stürzen, Stichwort »Klima«, und mir später in aller Form für die Stillung ihrer Wißbegierde danken? Man kann es nicht wissen. Aber warten muß man. So schlurft oder schwebt der Mensch sein Leben lang zwischen Hoffen und Bangen dahin. Allerdings lebt er vielleicht gar nicht so lang. Jedenfalls findet der Aufruf zu mehr Geduld und Nachsicht im Falle der schon gestreiften RentnerInnen mit jedem Monat engere Grenzen. Dank Corona oder Straßenverkehr, womöglich auch nur bohrendem Klassenhaß zu Asche oder Erde geworden, nutzen ihnen gnädige Erhörungen, die »ewig« unterwegs gewesen sind, kein Komma mehr.
~~~ Vor rund 300 Jahren war der preußische Gelehrte Christian Wolff zumindest zeitweise durchaus populär. Laut Egon Friedell* wußte der Mann sogar, von welcher Hauptabsicht Gott dereinst zur Erschaffung der Welt bewogen worden war. Und zwar wünschte Gott, endlich erkannt und verehrt zu werden, und dazu benötigte er eben Giraffen, Affen und vor allem uns Menschen. Natürlich fanden sich später Psychologen, die Wolff & Konsorten eine astreine »Projektion« unterstellten. Aber ich selber weiß es jetzt besser. Gott muß damals, bevor es uns gab, entsetzlich unter Langweile gelitten haben. Schließlich hielt er das Warten auf irgendetwas Sinnreiches oder wenigstens Kurzweiliges nicht mehr aus, krempelte seine Ärmel auf und legte mit dem los, was wir lange Zeit Schöpfung nannten. Dann kamen Einstein & Konsorten und nannten es Urknall. So oder so, die Sache dauert bis heute an, und Gott der Allmächtige hat seine helle Freude an unserem Treiben, vor allem an dem von Annalena Baerbock.
~~~ Ich habe wiederholt die Geduld erwähnt, dabei schon ihre Zweischneidigkeit angedeutet. Bei Geduld denkt man fast unweigerlich auch an Duldsamkeit. In Mecklenburg kannte ich einmal eine Freakfrau, die einer »spirituell« gestimmten Trommelgruppe angehörte. Sie trommelte für ihr Leben gern, und an bestimmten Festtagen selbstverständlich mit dem ganzen Verein. Ansonsten trainierte sie viel, für die Festtage. Zwar hämmerte ich mir ein, jeder müsse nach seiner Fasson selig werden dürfen, doch die Bedingungen für meine Schulung in Toleranz waren in diesem Fall recht hart, weil die Frau einen Bauwagen bewohnte, der zu der Landkommune gehörte, in der auch ich zu jener Zeit lebte. So mauserten sich jene Festtage für mich zu Foltertagen. Ich versuchte mich damals schon nebenbei als Schriftsteller – und nun verfassen Sie einmal ein Feuilleton über die zart von den Buchen tropfenden Dühs des Waldlaubsängers, wenn es 70 Meter weiter unablässig wumm-wumm macht.
~~~ Wer sich wirklich konsequent auf die Bodenlosigkeit der Tugendlehre einlassen wollte, wäre rasch so verrückt wie manche Leute, die Tag und Nacht trommeln. Zum Beispiel verdammt Reformist X. Leute, die ihr Vergnügen darin finden, schlafende Stadt- oder LandstreicherInnen anzuzünden. Gängelt und erniedrigt aber ein biederer Vater seine Tochter durch Jahre hinweg, bis sie, vielleicht mit 28, an Krebs gestorben oder in den Fluß gegangen ist, findet X. nichts dabei. Genauer gesagt, es fällt ihm gar nicht auf, weil für ihn nur die »rohe« Gewalt zählt. Sogenannte Sanktionen übergeht er. Für Ketten von Nadelstichen hat er keine Augen.
~~~ In vielen Kommunen wurde damals die sogenannte Gewaltfreie Kommunikation (GfK) nach Marshall Rosenberg hochgehalten. Sie beinhaltet unter anderem, bei Gesprächen über »Störungen« dürfen keine Vorwürfe ausgeteilt werden. Man soll lediglich von sich selber sprechen, nämlich davon, wie man unter einem Verhalten (oder einer Unterlassung) leidet. Auf diese Art werde man Verständnis und vielleicht Rücksicht finden. Vielleicht! Denn die Frage, warum die Freakfrau wie eine Besessene trommeln muß, darf ja nicht erörtert werden. Hat sie also keine Lust, die Trommel an den Nagel zu hängen, trommelt sie noch im Sarg. Keiner darf von ihr verlangen sich zu ändern. Ihr Wille ist ihr Himmelreich. Bringen Sie aber um Gottes Willen nicht ihre Kindheit ins Spiel.
~~~ Die widerrechtliche Erkundigung eines anderen Kommunarden, warum ich eigentlich immer wie ein Besessener in die Schreibmaschine hackte, konnte natürlich nicht ausbleiben. Er stieß sich keineswegs an dem Lärm. Vielmehr sei es doch vielleicht fürs Gemeinwohl nützlicher, überschüssige Energie in den Küchendienst oder in den Heizkeller zu stecken, meinte er bissig. Ich polterte zurück, das Gemeinwohl wolle ich gar nicht bemühen; ich schriebe hauptsächlich um der eigenen Klärung willen. Aber wenn schon, möge er mir einmal verraten, wo geschrieben stünde, Küchenherde und Heizbrenner seien für die Glückseligkeit der Menschheit unabdingbarer als Schreibmaschinen. Marlen Haushofer, eine Försterstochter, habe sich bereits als kleines Mädchen gewundert, daß die Gedankenwelt ihrer Mama fast ausschließlich ums Kochen und die Verschönerung des Heimes kreiste. Sie selber empfand Essen als langweilig und zeitraubend. Sie verschlang lieber Bücher, zauberte interessante Leute herbei oder verzauberte die sie umgebenden Nervensägen und führte mit Stöcken heldenhafte Kämpfe gegen Brennesselhaine. In der Tat kenne ja keiner die angebliche Bestimmung des Menschen, verkündete ich dem Kommunarden. Jawohl, das sei mein Ernst. Für mich sei eben das Schreiben besonders wichtig.
~~~ Zum Glück hörte uns die Trommlerin nicht zu.
∞ Verfaßt 2023
* Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, um 1930, hier einbändige Sonderausgabe München 1974, S. 596
Das österreichische Städtchen Mittersill, 800 Meter hoch über dem Salzachtal gelegen, kam 1945 zu seiner Bedeutung, als in ihm ein prominenter Komponist erschossen wurde. Davon hat Brockhaus natürlich keinen Schimmer. Auch in Band 23 wird das dramatische Ende des Wiener Schönberg-Schülers Anton Webern (1883–1945) übergangen. Allerdings war der Mann schon 61. Und wie so oft, ranken sich die Legenden in allerlei Varianten um seinen Tod, für jeden Geschmack etwas, sogar für unbelehrbare RaucherInnen.
~~~ Webern hatte mit seiner Gattin Minna im März 1945 in Mittersill »vor den Sowjets« Zuflucht gesucht, die ihm kurz zuvor, in Rußland, den dort als Hitlersoldat dienenden Sohn ermordet und inzwischen Wien aufs Korn genommen hatten. Am Abend des 15. September 1945 hielt er sich in der Wohnung seiner Tochter Christine auf, die mit Mann und Kindern eine Bleibe im Hause der Familie Fritzenwanger gefunden hatte. Die offizielle Webseite Mittersills* bevorzugt die Variante mit der Zigarre, weil sie recht zu Herzen geht. Wahrscheinlich fußt sie hauptsächlich auf Minna Weberns Erzählung. Danach war ihr Gatte gegen 22 Uhr rücksichtsvollerweise vor die Tür getreten, ehe er sich eine Zigarre ansteckte, die ihm übrigens just Benno Mattel, der Schwiegersohn, geschenkt haben soll. Im Haus schliefen in einem Zimmer die Enkel, deren Träume der Komponist nicht verräuchern wollte, während im anderen Zimmer Verhandlungen über etwas anrüchige »Geschäfte« zwischen Mattel und zwei Yankees stattfanden, bei denen Webern ebenfalls nur gestört hätte. Also trat er vors Haus. Dieses war aber offenbar bereits von Soldaten der neulich eingerückten U. S. Army umstellt. Und als Webern, ob ahnungslos oder tollkühn, die Zigarre entzündete – da fielen in der Dunkelheit drei Schüsse, und Webern war tot.
~~~ Nach anderen Darstellungen, die sich vor allem den Forschungen Hans Moldenhauers verdanken dürften**, war die liebe Christine mit einem gestandenen Nazi verheiratet, der sich am besagten Abend, die Zeichen der Zeit erkennend, mit eingefallenen Yankees über Schwarzmarktgeschäfte zu verständigen suchte. Er hatte sich freilich zwei Lockspitzel ins Haus geholt. Diese waren bewaffnet, nahmen Mattel fest – und im Zuge dieser Verhaftung gab der eine Lockspitzel jene drei Schüsse ab, weil er sich, in der Dunkelheit, von Mattels Schwiegervater bedroht oder gar angegriffen fühlte. Dieser Mann hieß Raymond Norwood Bell, wie auch ein Zeit-Autor bestätigt.*** Lockspitzel Bell, aus North Carolina stammend, war im »Hauptberuf« Koch der Stabskompanie des 242. Infanterieregiments der 42. Division (der berühmten »Rainbow-Division«) der US-Armee. Angeblich erhielt er als Strafe für sein nervöses, übereiltes Handeln vor dem Haus der Fritzenwangers drei Tage Stubenarrest. Er soll später nachhaltig unter Gewissensbissen gelitten und sich bereits mit 41 Jahren (1955) im Alkohol ersäuft haben.
~~~ Was aus dem umtriebigen Benno Mattel wurde, scheint noch ziemlich im Dunkeln zu liegen. Metzger erwähnt, der braune Schwarzhändler habe später, wie so viele, eine neue Wirkungsstätte in Argentinien gefunden. Dem Fragesteller »Monteavaro« aus dem Axis History Forum zufolge**** hatte Mattel vorher, wie auch seine Gattin Christine, ein Jahr im Gefängnis gesessen. Dieser anscheinend recht beschlagene Diskutant behauptet weiter, der 1917 geborene Mattel sei bereits mit 14 Jahren Mitglied der NSDAP geworden. 1938 soll er sich zum Kreisleiter der SS (wohl eine Verwechslung M.s mit der Partei) in der Stadt Perchtoldsdorf, vielleicht auch Mödling (beide bei Wien) aufgeschwungen haben. Im selben Jahr habe er sich mit der jüngsten, 1919 geborenen Tochter des Komponisten Webern verheiratet. Man darf wohl annehmen, daß die politische Rolle Mattels sowohl der Tochter wie dem Schwiegervater im Kern bekannt war. Mehr noch, hatte Webern, trotz der Attacken gegen seine »entarteten« Werke, wiederholt seine Sympathien für die auf Österreich übergegriffenen Bestrebungen des »Dritten Reiches« bekundet. Andererseits war er mit vielen Juden befreundet. Möglicherweise wußte er mit dem Zusammenbruch dieses Reiches nicht mehr ein noch aus. Der kosmopolitische Autor Michael Stein***** hält es deshalb für keineswegs abwegig zu vermuten, an jenem verhängnisvollen Abend in Mittersill habe Webern Bell, wenn auch vielleicht nur »instinktiv«, in der Tat angegriffen – nämlich von dem Wunsch geleitet, sich ein für allemal seiner heillos verhedderten Lage zu entledigen: indem er sich töten ließ.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 26, Juli 2024
* »Anton Webern«, https://www.mittersill.at/system/web/sonderseite.aspx?menuonr=221053096&detailonr=221053096", o.J., laut unterem Band leicht bewölkt, Tagestemperatur um 18° (und das im Juli!)
** Hans Moldenhauer: The Death of Anton Webern: A Drama in Documents, New York 1961
*** Heinz-Klaus Metzger, https://www.zeit.de/1995/38/Ich_will_keine_Symbole_Ich_moechte_die_Dinge, 15. September 1995
**** Monteavaro, https://forum.axishistory.com/viewtopic.php?t=117225, 2007. Möglicherweise hat M. unter anderem in den Erinnerungen des 1923 geborenen Schönberg-Enkels Arnold Greissle-Schönberg geblättert, wo sich ähnliche Angaben über Mattel finden: Arnold Schönberg's European Family, Kapitel 4, Abschnitt Bombed Out (im letzten Drittel der Webseite)
***** Michael Stein, https://bodyliterature.com/2013/01/15/deaths-of-the-artists-anton-webern-in-twelve-tones/
Weinheim, Eva (1918–38), kaufmännische Schülerin, Jugendliebe des thüringischen Schriftstellers Hanns Cibulka. Die tschechisch-sudetendeutsche Stadt Jägerndorf hatte zur Zeit dieser Jugendliebe, die Cibulka mit über 70 in einem schmalen Meisterstück* streift, knapp 25.000 EinwohnerInnen. Das waren ganz überwiegend Deutsche – bis zur Vertreibung aus ihrer eigentlich unbedeutenden Stadt. Immerhin, sie hatte einen Hauptbahnhof. Dort trafen sich Johannes und Eva fast jeden Tag, um gemeinsam nach Troppau in die Handelsakademie zu fahren. Eva wohnte unweit von Cibulkas Elternhaus mit ihrer Mutter zusammen, einer geschiedenen Ärztin. Bei Eva kam zum Makel der deutschen Sprache das Judentum hinzu. Von daher war es möglicherweise nicht das Übelste, wenn sie von den wildgewordenen Wassern der Schwarzen Oppa schon mit 19 aus dem Verkehr gezogen wurde. Für Cibulka war es schlicht niederschmetternd.
~~~ Eva – hochgewachsen, wenig weiblich, eher ungesellig – war ein Jahr jünger als Johannes. Sie tanzte gern, küßte gern – das Weitere läßt Cibulka offen. Er rühmt auch ihre Erzählfreude, die viel Phantasie, daneben ihr Judentum verriet. So, wie Cibulka sie hinstellt, war sie zwar immer streng gescheitelt, aber weder verklemmt noch lebens-müde. Sie war sogar geprüfte Rettungsschwimmerin. Warum ging sie aber dann, an einem Junitag nach den schweren Unwettern, zum gewohnten Baden zur Schwarzen Oppa, als diese reißendes Hochwasser führte? Johannes erfuhr es erst Tage später. Er war zu seiner mährischen Großmutter verreist, und Eva hatte die Begleitung ausgeschlagen, weil ihre Mutter von Herzbeschwerden gebeutelt war. Die ganze Stadt sprach von dem rätselhaften Unglück. Wahrscheinlich war Eva von den braunen Fluten über das Wehr gerissen, vielleicht auch von einem wirbelnden Baumstamm getroffen worden. Man suchte zwei Tage lang den Flußgrund und die Ufer ab; man fand noch nicht einmal ihre Badekappe. Sie war und blieb buchstäblich spurlos verschwunden.
~~~ »War es Leichtsinn oder hat sich der Tod ganz plötzlich ihrer erinnert, als er ihr eingab, bei Hochwasser baden zu gehen?« fragt sich Cibulka (S. 99). Andere, durchaus denkbare Fragen stellt er lieber nicht. Vielleicht hatte sie seine Abwesenheit und die Unwetter als Chance erachtet, ihn noch rechtzeitig loszuwerden? Oder war sie vielleicht schwanger von ihm und darüber in großen Nöten? Dergleichen erwägt Cibulka nicht – und wer weiß überhaupt, ob und in welchem Ausmaß er sich an die sogenannten Tatsachen gehalten hat. Zwar hat er seine Reise nach Jägerndorf und in seine Kindheit offensichtlich wenige Jahre nach der berüchtigten »Wende« leibhaftig unternommen, aber er ist als Erzähler gereist, nicht als Gothaer Bibliothekar oder gar Stadtarchivar. Und als Erzähler hat er, soweit ich sehe, sein mit Abstand bestes Buch geschrieben, eindringlich und nüchtern zugleich.
~~~ Gewiß zwitschert seine bekannte spirituelle Meise oder besser Wasseramsel, wie man sagen könnte, auch wiederholt aus diesem Alterswerk. Das kann man ihm aber leicht nachsehen, weil es nie den Hauptfluß der Erzählung (Eva W.) und die Trauer um den verfehlten Weg der Menschheit stört. Einige Kritik an ihm habe ich vor Jahren in meinem Buch Der Fund im Sofa durch den Mund des Snooker spielenden Gothaer Kriminalkommissars Armin Köfel vorgebracht. Spricht Cibulka aber 1994 vom wiedervereinigten Deutschland als einer selbstsüchtigen, korrupten, verlogenen »Mehrparteiendiktatur« (S. 105), muß ich ihm doch vergleichsweise große Hellsicht bescheinigen. Hätte sie bis zum Ausbruch der »Pandemie« 2020 vorgehalten? Alte Kumpels wie Adolf Winkelmann, Filmemacher, oder Vorbilder wie Konstantin Wecker, Liedermacher, sind, wie ich höre, gleich Millionen anderen umgefallen. Wie hätten sich meine Kollegen Hanns Cibulka oder auch Armin Müller »positioniert«, um im beliebten TV-Jargon zu bleiben? Das zu wissen, dafür gäbe ich sogar meine spanische Konzertgitarre her. Ich rühre sie sowieso kaum noch an.
~~~ Erwin Chargaff hätte auf meiner Seite gestanden. Jede Wette.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Hanns Cibulka, Am Brückenwehr, Leipzig 1994
Für ihren Historikerkollegen Audring war Liselotte Welskopf-Henrich (1901–79) »die reichste Frau von Treptow«, was ihr freilich keiner angesehen habe. Fotos zeigen eine bieder gekleidete kleine, rundliche Frau, die in jedem Tante-Erna-Laden hinter den Tresen gepaßt hätte. Eine Gegenüberstellung mit ihren beiden wichtigsten weiblichen Romangestalten, den anmutigen Blumen der Prärie mit Namen Queenie Tashina King und Ite-ska-wih, hätte sogar die Stasi als taktlos empfunden. Selbst mit ihrem indianisch umständlichen Familiennamen fällt die Autorin bedauerlich holprig ab. Liselotte Welskopf-Henrich wirkt, als könne sie kein Wässerchen trüben. Doch ihre professionellen Schilderungen von Schießereien, Rodeos und Verfolgungsjagden zu Pferd und per Auto, ferner von Wirbelstürmen und Feuersbrünsten machen jeden neidisch, der kein erklärter Hasenfuß ist.
~~~ Im ersten Band ihres Hauptwerkes, der zwischen 1966 und 1980 erschienenen Romanpentalogie Das Blut des Adlers, zählen die Schlägereien nach einem Beatkonzert und in der Spelunke Elisha Fields noch vor dem Bronc-sattellos-Durchgang des Rodeos zu den sportlichen Höhepunkten. Queenies Mann Joe King, auch Stein mit Hörnern genannt, trägt meistens zwei Schulterhalfter unter seiner schwarzen Jacke und stets ein Messer im Stiefelschaft. Er war Gangster, bevor er seine Jugendliebe Queenie eroberte und den dornigen Weg zu einem bewunderten Rodeochampion, Büffelzüchter, Familienvater, Stammeshäuptling beschritt. Die Rachsucht der Rassisten, die das Reservat beherrschen, und sein eigenes Mißtrauen beuteln ihn Tag und Nacht. Doch sein Dakotaname verweist auf seine beispiellose Zähigkeit. Seine Schöpferin beschränkte sich auf »Heimatschutz« durch Deutsche Schäferhunde: ihr Haus in Treptow wurde von einem ganzen Rudel bewacht, das selbst von ihren Freunden gefürchtet war. In der Zähigkeit stand sie ihrem Haupthelden King kaum nach. Zwischen 1951 und 1961 hatte sie bereits das umfangreiche, sechsteilige Jugendbuchwerk Die Söhne der großen Bärin geschrieben. All diese Indianerbücher sind genealogisch und thematisch miteinander verknüpft. Die Pentalogie (5 Bände von insgesamt 2.500 Druckseiten) spielt bereits in den zeitgenössischen Reservaten der USA. Den letzten Band vollendete sie vier Wochen vor ihrem Tod. Sie starb 1979 bei einem Aufenthalt in Garmisch-Partenkirchen mit 77. Sie wurde nicht unpassend auf dem Ostberliner Friedhof Adlershof beigesetzt.
~~~ Eine Biografie über die merkwürdige, gleichwohl erfolgreiche DDR-Autorin war überfällig. Der blutjunge Erik Lorenz legte sie 2009 vor. Wie er mitteilt, verkaufte sich allein die deutschsprachige Ausgabe der Söhne bis heute ungefähr 3,5 Millionen mal. Der Stoff wurde auch von der DEFA verfilmt; die Hauptrolle des Harka übernahm Goijko Mitic. Obwohl sie Welskopf-Henrich einigen Verdruß bereitete, wurde diese Verfilmung ein Kassenschlager. Wo blieb das Geld? Was nicht die Hunde oder ihre eigene Taxisucht verschlangen, wanderte vorwiegend in die nordamerikanische Prärie. Nebenbei sind hier alle Beteiligten dem Gott »Automobil« verfallen: die weißen Yankees sowieso – Reservationsarzt Roger Sligh zum Beispiel, die schillerndste Figur aus Adler-Band III, legt die 300 Schritte von seinem Haus bis zur Klinik nie zu Fuß zurück. Auch die Indianer sind in Autos vernarrt, bringen es allerdings selten zu mehr als schrottreifen Schlitten – und schließlich die DDR-Autorin selber, von der Lorenz mitzuteilen vergißt, ob sie vielleicht so viel Taxi fuhr, weil sie keinen Führerschein besaß. Zum Teil überbrachte Welskopf-Henrich ihre Unterstützung für notleidende oder kämpfende IndianerInnen persönlich, denn sie bereiste ihre Romanschauplätze wiederholt. Als mutige Widerstandskämpferin im »Dritten Reich« und anerkannte Althistorikerin, die es bis zu einer Professur an der Ostberliner Humboldt-Universität brachte, erlangte sie die Ausreisegenehmigungen ohne Probleme.
~~~ Hauptschauplatz ihrer Adler-Romane ist die Pine-Ridge-Reservation im Staat South-Dakota. Sie liegt südöstlich der bekannten Black Hills. Bis zur maßgeblichen Gebirgsstadt Rapid City – bei Welskopf-Henrich New City – fahren Joe oder sein Wahlsohn, Rächer und Nachfolger Hanska mit ihrem Jaguar mindestens eine Stunde. Laut Wikipedia zählt dieses 11.000 Quadratkilometer große Reservat der Oglala-Lakota-IndianerInnen noch heute zu den ärmsten Gebieten der USA. Arbeitslosenrate 85 Prozent. Viele Familien weder Strom noch Telefon. Dafür viel Alkoholkonsum. Die Lebenserwartung um 50 gilt als eine der kürzesten aller Gruppen der westlichen Hemisphäre. Herzstück der Reservation ist ein Ort, der doppelt Geschichte schrieb: Wounded Knee. 1890 beging hier die US-Armee ein Massaker an etwa 200 bis 300 Lakota-Indianern; 1973 wurde ein Hügel dieses Prärieortes durch Aktivisten und UnterstützerInnen des American Indian Movement (AIM) besetzt und über Wochen hinweg verteidigt. Diesen Kampf stellt Welskopf-Henrich ausgiebig im letzten Adler-Band nach.
~~~ Wegen der drückenden Entrechtung und Verelendung der dort lebenden IndianerInnen war die Pine-Ridge-Reservation während der ganzen 70er Jahre ein Unruheherd. Diese Bezeichnung schließt auch die Dürren mit ein, von der das ohnehin karge Prärieland immer wieder heimgesucht wird. Das Stöhnen unter der Hitze und der Wassernot zieht sich bei Welskopf-Henrich durch alle fünf Bände. Rancherin, Kunstmalerin und Mutter Queenie verzehrt sich nach einem Wasserhahn, bekommt ihn schließlich auch, doch als ihr Wahlsohn Hanska und Ite-ska-wih die Blockhütte nach dem gewaltsamen Tod des Ehepaars King zurückerobern können, ist der Hahn aufgrund schadhafter Leitungen wieder tot, weshalb es Wasserschleppen heißt »wie in den alten Siedlerzeiten«. Gleichwohl war dieser Landstrich unterhalb der berühmten mondartig verödeten Badlands die geliebte Heimat der Oglala-Lakota-IndianerInnen. Ihr Aufbegehren in den 70er Jahren kostete, je nach Quelle, 60 bis 300 Indianern das Leben, anderen die Freiheit. Lorenz erwähnt die Fälle des bis heute inhaftierten Leonard Peltier und der erschossenen, mit diesem befreundeten AIM-Aktivistin Anna Mae Aquash; allerdings sollte man seine Darstellung mit Vorsicht genießen.*
~~~ Sich als wohlabgesicherte Kommunistin unermüdlich gegen das an den nordamerikanischen Ureinwohnern begangene, zum Himmel schreiende Unrecht gewandt zu haben, dürfte Welskopf-Henrich bereits eine Ausnahmestellung sichern. Ihr Verdienst wird noch gemehrt durch den Umstand, daß sie es als ausgezeichnete Schriftstellerin tat. Sie erzählt stets fesselnd, weil sie die gebotenen dramaturgischen Fäden zu ziehen versteht. Wenn jedoch die drei ersten Bände der Adler-Pentalogie besonders eindringlich geraten sind, verdankt sie es ihrer Sorgfalt und Knappheit im Ausdruck. Diese Bände haben ein Klima der Wahrhaftigkeit und Folgerichtigkeit, dem sich wohl kaum ein Literaturfreund entziehen kann. Selbstverständlich hat das Welskopf-Henrich nicht in ihrem wissenschaftlichen Studium gelernt – da erwartet man eher Gräßliches. Vielleicht färbte ihr Gegenstand auf sie ab, denn der Indianer macht nicht viel Worte. Spricht er aber einmal, hat es sofort Bannkraft.
~~~ Leider fällt Band IV der Pentalogie stark ab. Man hätte es eher vom letzten Band erwartet, konnte ihn doch Welskopf-Henrich nicht mehr überarbeiten, was auch zu spüren ist. Gleichwohl ist Band IV erheblich mangelhafter geraten. In der Komposition unausgewogen, verwaschen – beinahe formlos. Jenes einheitliche, uns einhüllende Klima fehlt. Dafür endlose Dialoge; das Buch ist überfrachtet mit Diskussionen. Rührselige Züge. Überflüssige Brücken, ermüdende Einzelheiten. Modisches Politisieren. Gestelzte Wendungen. Sodann: warum Joe in Mahan verdoppelt werden muß, obwohl er in Wahlsohn Hanska einen würdigen Nachfolger finden wird, bleibt schleierhaft. Dieser Mahan ist eine völlig mißglückte Hauptfigur. Als bloßer Abklatsch von Joe – dem er sogar äußerlich zum Verwechseln ähnlich sieht – gewinnt er nie Charakter. Zum Glück fällt das in Band V nicht so stark auf, weil Joe, in Calgary (Kanada) heimtückisch ermordet, inzwischen durch Hanska ersetzt wird. Zwar zählt Mahan zu den Führern im »Ring« (der Wounded-Knee-BesetzerInnen), doch das Romangeschehen wird von der Unterstützungs-arbeit des jungen Hanska und seiner noch jüngeren Gefährtin Ite-ska-wih geprägt.
~~~ Biograf Lorenz entgehen nicht nur solche literarischen Unausgewogenheiten. Er hat auch ein schwaches Auge für die Frauenfrage. Das dürfte freilich kein Zufall sein – Welskopf-Henrich hat es in ihren Romanen selber. Am Schattendasein der Indianerin und an »Chauvis« wie Joe King rüttelt sie nur mit dem kleinen Finger. Häuptlingssohn Joe darf den Befehlshaber in allen Lebenslagen geben. »Mach etwas zu essen.« Oder: »Tische auf, Queenie.« Cowboy Robert will Vater Halketts Meinung anführen – Joe unterbricht ihn: »Auf dieser Ranch hier gilt allein, was ich sage.« Oder Queenie: »Weißt du, Stonehorn, was du von mir verlangst?« – »Für Geschwätz habe ich keine Zeit.« Beim Zelten geht Joe mit dem Geschirr zum Fluß, um es abzuwaschen. »Das wäre Queenies Arbeit gewesen«, bemerkt die Erzählerin – er tut es nur, um einen Vorwand zum Beobachten zweier Verdächtiger zu haben. Immerhin, in Band III zeigt die Erzählerin Verständnis für eine Sauftour von Henry und Tom, die beide »patriarchalische Väter« haben, »von deren Autorität sie sich bedrückt fühlten«. In einer Selbstschulungsgruppe aus dem ersten Band wird das fragwürdige Wörtchen man erörtert. Joe weist darauf hin, wie sehr durch solche verallgemeinerte Rede persönliche Verantwortung zurückgewiesen wird; der patriarchale Zug der Angelegenheit bleibt ausgespart.
~~~ Für Luise F. Pusch wäre die Pentalogie eine Fundgrube grammatischer Absurditäten gewesen. Internatsschülerin Victoria »wird ein Dichter«; Mary Booth »Ratsmann für Ökonomie«. Miss Green, Mormonin: »Wie oft sind wir vertrieben worden und mußten mit Frauen und Kindern durch das ganze Land wandern …« Um es nicht zu unterschlagen: In Band II räumt Welskopf-Henrich sogar unmißverständlich Joes »Herrschsucht« ein. Sie erwägt: »Vielleicht war er nicht gewohnt, daß Queenie Angst hatte, und Angst war ihm überhaupt widerwärtig wie eine schleimige Schnecke. Joe war ein Stein mit Hörnern …« Ein »weibisches Schmuckstück« wie das Amulettkettchen seines Erzfeindes Jenny würde er niemals anlegen. Der frührere Gangsterkumpane hat langes blondes Haar und wirkt überhaupt weiblich. Er haßt seinen Gangsterboß, »weil Mike ein voller Mann war, und Jenny war das nicht.« Da wissen alle Schwulen Bescheid.
~~~ Joes abschließende Auseinandersetzung mit Engelshaar-Jenny, der ihn nicht aus den Fängen des Verbrechertums lassen möchte, endet mit einer dramatischen Verfolgungsjagd zu Fuß und per Auto. Jennys Auto explodiert dabei. Man muß Welskopf-Henrich allerdings zugute halten, daß sie den hartgesottenen und dunkelhaarigen Ex-Gangster Joe King trotz seiner bevorzugten Kleiderfarbe nicht schwarz malt. Er mag zur Verschlossenheit neigen, ist aber nie hinterhältig. Auch durch seine verständnisvolle Sorge um die Nöte und Sehnsüchte der Kinder und allgemeiner seine uneigennützige Hilfsbereitschaft nimmt er für sich ein. Ähnliches gilt für seine Gefährtin. Ihre Ängstlichkeit ist mit großem Mut gepaart. Die Hand des zudringlichen betrunkenen Nachbarn Harold Booth nagelt Queenie mit einem Küchenmesser an die Hüttenwand. Als er gar versucht sie zu vergewaltigen, erschießt sie ihn. Was sie nie los wird, ist ihre Nachgiebigkeit, wenn nicht gar Unterwürfigkeit gegenüber Joe. Da ist die nächste Generation schon aus anderem Holz geschnitzt: zwischen Hanska und Ite-ska-wih herrscht eine erstaunliche Gleichberechtigung. Insofern ist Welskopf-Henrich mit ihrer letzten tragenden Frauengestalt noch eine Kurskorrektur gelungen.
~~~ Über sie selber in ihrer Eigenschaft als Ehefrau, Mutter (eines Jungen), vielleicht sogar Geliebte oder Ränkeschmiedin erfährt man bei Lorenz wenig. Die Ehe wird als konfliktlos hingestellt. Unter ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern ist sie die unangezweifelte Chefin. Die Frage nach den Geschlechterrollen wird nicht angeschnitten. Platz genug, um diesen Gesichtspunkten nachzugehen, hätte Lorenz gehabt, gibt er doch viel zu ausführliche Referate über den Inhalt und die Quellen von Welskopf-Henrichs Romanen, die die Neugier nach eigener Lektüre bei so mancher Leserin, Männer eingeschlossen, eher abtöten könnten. Immerhin weist er nach der Taxi- auch auf die Titelsucht der kleinen Frau hin. Sie habe stets großen Wert auf die Kenntnisnahme ihrer sämtlichen »Titel, Ämter, Würden und Orden« gelegt. Da wittert man Kinderstubenlücken, die sich für die Angelhaken eines Biografen geradezu anbieten – Lorenz umschifft die Klippe. Die Mutter ist liebevoll. Der Vater, ein Rechtsanwalt, kommt so gut wie nicht vor. Auch in politischer Hinsicht zieht sich Lorenz für mein Empfinden etwas zu galant aus der Affäre. Er stellt die hohe Würdenträgerin als kritische Sozialistin hin, die im Regime oft aneckte. Er führt auch Beispiele an, etwa die Ungarn- und Pragfrage, doch er liefert keine nachprüfbaren Belege für Welskopf-Henrichs angebliches Löcken wider den Stachel. Mein Verdacht (ebenfalls unbelegt): Hier ist der Wunsch der Vater des Lorenz‘schen Befundes. Es könnte freilich auch mit seiner Jugend (23) zusammenhängen, wenn er als Biograf grundsätzlich zu wenig unerschrocken umgräbt, nachbohrt und vielleicht Dinge zutage fördert, die ihn selber verblüfft hätten. Doch was er schreibt, schreibt er gut. Er versteht es Sachverhalte darzulegen.
~~~ Die Unterbelichtung der Frauenfrage hat genauso DDR-Tradition wie die Verherrlichung von Leidensfähigkeit, Wettkampf und Ruhm, die sich sowohl bei den Prärieindianern wie bei ihrer sie verehrenden Chronistin Welskopf-Henrich findet. Verfolgt ein alter Anarchist, wie sich die Burschen in den Söhnen nach Leistung, Ansehen, Auszeichnung verzehren, sträuben sich ihm alle Haare, falls er noch welche hat. Apropos: auf üppige Haartracht legt der Prärieindianer großen Wert. Laut Lorenz wurde das Kopfhaar sogar gerne künstlich verlängert, bei den Krähen-Indianern teils bis zum Boden. Die Neigung zum Skalpieren ist bekannt. Als Joes Wahlsohn Byron Bighorn – aus dessen kindlichem Blickwinkel ist Adler-Band II meisterhaft erzählt – vor Schulantritt zum Friseur muß, kommt es schon Kastration und Folter gleich. Die üppige Haartracht gilt eben als Symbol des Stolzes; sie bringt viel Ehre und Ruhm ein.
~~~ Den Gipfel des Ruhmes stellt in den Söhnen das Opferritual des Sonnentanzes dar, dem sich Donner vom Berge und Stein mit Hörnern alias Harka aus freien Stücken unterziehen. Es ist der brutale Wahnsinn. Den beiden jungen Dakota, die sich bereits vielmals ausgezeichnet haben, wird im Morgengrauen vom Geheimnismann des Zeltdorfes zunächst eine Art Brustlasche verpaßt – durch zwei parallele Schnitte mit dem Messer und anschließendem Durchstich. Durch diese Hautlasche zieht er einen Lederriemen, um ihn dort zu verknoten. Der Riemen ist mehrere Meter lang und am Ende im bemalten Pfahl verankert. An dieser Leine, sie straffend zurückgelehnt, haben die beiden Helden nun für Stunden dem Lauf der Sonne zu folgen. Die Sonne war den Prärieindianern heilig. Deshalb bestand das Tüpfelchen auf der schwarzen Kleidung von Joe und Hanska stets aus einem gelben Halstuch. Schwarz war die Farbe der Menschen im Gegensatz zu anderen Geschöpfen der Natur, wie Welskopf-Henrich im fünften Adler-Band erklärt – somit mehr als nur eine Schmähung gemünzt auf die Weißen. Doch die Sonne verehren, indem man sich von Hitze, Grelle, Hunger, Durst, Erschöpfung quälen läßt? Als Belohnung winken wegweisende sowie das Ansehen und damit den Rang erhöhende »Visionen«. Zum Ende dieses merkwürdigen »Tanzes« heißt es gar, durch Sprünge die Brustlasche aus Haut zu sprengen, um wirklich frei zu sein. Die Blutsbrüder bestehen die Probe. Nach wenigen Tagen sind sie wieder gesund.
~~~ Auch Joe und Wahlsohn Hanska gehen selbstverständlich durch den Sonnentanz. Die Autorin stellt das grausame Ritual auch nie in Frage.** Der ganze befremdliche Ehrenkodex der Prärieindianer scheint »voll auf der Linie« des Adolf-Hennecke-Sozialismus gelegen zu haben. Das Ansehen geht dem Indianer über alles. Schon als Knabe hat er keine Schwächen zu zeigen, etwa Langschläferei. Mädchen werden ja ohnehin nicht als »volle Menschen« betrachtet, wie Welskopf-Henrich in den Söhnen immerhin zur Kenntnis nimmt. Im vierten Adler-Band hängt der Knabe Hanska bei der Heimkehr von kräftezehrendem Auftrag »halb schlafend im Sattel«, doch er reißt sich gewaltsam hoch, »um nicht etwa Spott zu ernten«. Schließlich ist er schon an den Turngeräten in der Schule »immer der Beste gewesen«, wie die Autorin in Band V bemerkt. Ihre Leidenschaft fürs Rodeo, bei dem es oft genug zu Schwerverletzten und Toten kommt, verwundert da nicht mehr. Allerdings tritt ihre Sucht nach erbarmungslosem Sozialistischen Wettbewerb in den Adler-Bänden gedämpfter als in den vorausgegangenen Jugendbüchern auf. Noch milder verfährt Biograf Lorenz mit ihr.
~~~ Trotz dieser Einwände ist Liselotte Welskopf-Henrich für mich in erster Linie nicht Kommunistin, vielmehr Menschenfreundin. Das schließt sogar die Natur ein. Zu den Großtaten ihres Helden Joe King zählt es, die Büffel wieder ins Land zu holen – er besorgt den Grundstock seiner Zucht in Kanada. Als das erste Büffelgrollen über die Kingschen Weiden rollt, kommen Joes 112 Jahre altem Wahlvater John Okute die Tränen. Daß ich das noch erleben darf. Bevor die Weißen mit ihren Schnellfeuergewehren einfielen, tummelten sich 60 Millionen Büffel in der Prärie. Schon im 19. Jahrhundet sind sie nahezu vollständig ausgerottet. Oft bleiben die Kadaver liegen; die Weißen nehmen nur Zungen und Felle mit. Der weiße Farmer und Nachbar Myer senior bringt die verheerende Ehe von Rassismus & Fortschritt und damit die kolonialistische Hybris im letzten Adler-Band auf den Punkt. Hanskas Vorhaltung »Ihr seid später gekommen. Sagte ich schon einmal. 40.000 Jahre später, Großvater« pariert er mit: »Meinethalben 40.000 Jahre später. Aber in 400 Jahren haben wir euch überrundet.« In der Prärie lagen die Trainingsplätze der Yankees für Vietnam, Irak, Afghanistan, Jemen und was noch alles kommen wird.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Lorenz stützt sich auf das wohl erstmals 1994 in deutscher Übersetzung erschienene Buch von Mary Crow Dog und Richard Erdoes Lakota Woman. Crow Dog war eine Freundin von Aquash. Wahrscheinlich ist diese Sicht zumindest einseitig, siehe etwa die Artikel über Aquash in der englischen oder deutschen Wikipedia.
** Der Sonnentanz kam bei sämtlichen Stämmen der Prärie und der Plains vor, jedoch in einigen Varianten. Wahrscheinlich stellt ihn Welskopf-Henrich etwas schief und überspitzt dar. Jedenfalls ging es nicht darum, das Augenlicht aufs Spiel zu setzen, wie sie wiederholt unterstellt. Ich verweise auf zwei jüngere Standardwerke: Wolfgang Lindig / Mark Münzel: Die Indianer Band 1 Nordamerika, 3. Aufl. München 1985, S. 169 und Royal B. Hassrick: The Sioux, hier als Das Buch der Sioux in deutscher Ausgabe, z.B. Augsburg 1992, S. 272–78.
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